Frederic Mistral
Mirèio
Frederic Mistral

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Einleitung

Im Spätsommer des Jahres 1858 reiste der jugendliche Dichter von »Mirèio«, auf Veranlassung seiner in Paris studierenden Schulgenossen Adolf Dumas und Ludovic Legré, aus seinem weltentlegenen provenzalischen Dörfchen zum ersten Male in seinem Leben nach der französischen Hauptstadt. Er hatte den beiden Freunden gelegentlich ihrer Ferienaufenthalte in der Provence einzelne Gesänge seines im Entstehen begriffenen ländlichen Epos vorgelesen und durch Dumas waren Lamartine, der damals noch am französischen Dichterhimmel als Stern erster Größe glänzte, Bruchstücke daraus mitgeteilt worden.

Der siebzigjährige Sänger der »Harmonies« entzückte den jungen Mistral durch die Wärme seiner Teilnahme und Aufmunterung.

Im Februar 1859 erschien »Mirèio« gedruckt und Lamartine war der Empfänger des ersten Exemplars. Er las und las, und sein altes, noch immer junges Poetenherz füllte sich mit Freude und Rührung.

Als Mistral, einige Monate später, zum zweiten Male nach Paris eingeladen, Lamartine wiedersah, schloß dieser den Jüngling in seine Arme und küßte ihn. Dann bereitete er sich die Genugtuung, seinen Schutzbefohlenen bei den damaligen Größen der Pariser schriftstellerischen Welt, Sainte-Beuve, Victor de Laprade, Villemain, Alfred de Vigny, Mignet u. a. einzuführen. Und schnell war in diesem erlesenen Kreise der Ruhm des jungen Dichters als der eines Gottbegnadeten begründet.

In dem von Lamartine in jenen Tagen herausgegebenen, ganz »Mirèio« gewidmeten, 40. Entretien seines »Cours familier de littérature« redete er den Provenzalen wie folgt an:

»Ja, deine epische Dichtung ist ein Meisterwerk; ich will mehr sagen, sie ist nicht aus dem Abendlande, sie ist aus dem Morgenlande; man möchte glauben, ein Eiland des Archipelagos, ein schwimmendes Delos habe von seiner Gruppe hellenischer oder ionischer Inseln nachts sich losgelöst und sei hergeschwommen, um sich sanft an das Festland der balsamischen Provence zu schmiegen, mit sich führend einen jener göttlichen Sänger aus dem Geschlechte der Melesigenen. Sei willkommen bei den Sängern dieses Klimas. Du gehörst einem anderen Himmel und einer anderen Sprache an, aber du hast mit dir gebracht dein Klima, deine Sprache und deinen Himmel! Wir fragen dich nicht woher du kommst, noch wer du bist: Tu Marcellus eris!«

Lamartine verglich dann weiter des jungen Mistral Dichtung mit der plötzlich aufbrechenden Blüte der provenzalischen Aloe und fügte hinzu: »aber deines Werkes Duft wird in tausend Jahren nicht vergehen!«

Seit dieser Prophezeiung ist fast ein halbes Jahrhundert dahingegangen, und in immer hellerem Glanze erstrahlt Mirèio: ein Kleinod der WeltliteraturDie Bibliographie Mistralienne von E. Lefèvre (Marseille 1903) zählt von Mirèio 21 Übersetzungen in 15 Sprachen und Mundarten auf..

Zum Dank für des greisen Dichters väterliche Leitung seiner ersten Schritte auf dem Pfade des Ruhmes hat Mistral den schnell folgenden neuen Auflagen seines Poems die eingangs dieser Übertragung abgedruckte Widmung vorangestellt.

Unter den hervorragenden Schriftstellern, bei denen Lamartine seinen Schützling einführte, war auch der etwas absonderliche Barbey d'Aurévilly.

»Comment!« rief er seinem Besucher entgegen, »vous êtes Mistral, vous?«

»Moi-même.«

»Mais alors, vous n'êtes pas un berger?«

»Hélas! non.«

»Vous avez reçu de l'éducation?«

»Hélas! oui.«

Die Annahme, daß der Bauernsohn Mistral selbst ein Bauer oder Hirte sei, ist, wie ich auf meinen Vortragsreisen mehrfach wahrnehmen mußte, in außerromanistischen Kreisen auch heute noch ziemlich verbreitet und erfreut sich, wie jede verkehrte Meinung, einer großen Zählebigkeit. Vielleicht hat der »païsan« der vorerwähnten Widmung ein Weniges hierzu beigetragen. Wahr ist daran nur, daß der am 8. September 1830 auf dem stattlichen väterlichen Bauerngute, »lou Mas dú Juge« (zu deutsch dem Richterhofe) bei Maiano geborene Frederi mit neun Jahren noch nicht lesen konnte. Dafür aber war er als beständiger Begleiter und Gehilfe von seines Vaters Feldarbeitern und Hirten schon in frühem Kindesalter in allen landwirtschaftlichen Verrichtungen wohl erfahren und nahm in dieser Gesellschaft die Eindrücke in sich auf, denen er später in so kunstvoller und ergreifender Weise dichterische Gestalt verleihen sollte.

Wie von seinem trefflichen Vater die Liebe zur heimischen Sitte und Sprache, so war ihm von seiner schönen und sinnigen Mutter die »Lust am Fabulieren« angeboren und anerzogen worden. Beide hatten früh die außerordentliche Begabung des kraftvoll emporblühenden Knaben erkannt und übergaben ihn nach einigem Vorunterricht zu weiterer Ausbildung der vorzüglich geleiteten Dupuyschen Erziehungsanstalt zu Avignon. Hier fügte es des jungen Mistral glücklicher Stern, daß der nur um wenig ältere, humor- und gemütvolle Roumanille, den man später mit Recht den Vater der provenzalischen Renaissance genannt hat, sein Lehrer und bald sein liebster Freund wurde, und daß er von ihm die erste Anregung zur Pflege der provenzalischen Dichtkunst empfing.

In Mistrals Persönlichkeit und Poesie verschmelzen sich die Elemente gelehrter Bildung und volkstümlicher Ursprünglichkeit zu schönstem Einklange. Ihm vor vielen ist es vergönnt gewesen und geblieben, »mit festen, markigen Knochen zu stehen auf der wohlgegründeten dauernden Erde«, und doch mit dem Scheitel zu ragen in die Sternenhimmel der Wissenschaft und der Dichtkunst. Höchst bezeichnend für diese ihm von einem freundlichen Schicksal gewährte Eigenart der Entwicklung ist, was Mistral selbst in launiger Weise über die sein Abiturientenexamen begleitenden Umstände erzählt.

Er hatte im Frühjahr 1847, noch nicht siebzehnjährig, seine Klassen in Avignon beendigt und war an einem heißen Augusttage zur Ablegung der Baccalaureatsprüfung nach Nîmes gefahren. Gegen Abend angekommen, schlenderte er, sein Bündel in der Hand, durstig durch die glühende Stadt, um eine Nachtherberge zu suchen. Die in den Hauptstraßen gelegenen feinen Gasthöfe mit befrackten Kellnern und betreßten Türstehern kamen ihm nicht geheuer vor. Wie ganz anders mochte es da zugehen, als daheim, wo sich des Vaters zahlreiches Hofgesinde mit zu Tische setzte und jeder seinen Beitrag zur nie versiegenden Unterhaltung über den Feldbau und die Herden lieferte. Nach langem, unentschlossenem Wandern geriet unser Schüler in eine Vorstadt. Da hing an einem bescheidenen Hause ein Schild: »Zum kleinen Sankt Johannes«. Gleich fühlte er sich angeheimelt. War ihm doch Sankt Johannes wie ein lieber Landsmann, er, der ihm von Kind auf vertraute Beschützer der Ernte und Freund der Schnitter!

Er hatte die rechte Einkehr gefunden. Im schattigen Hofe des Wirtshauses standen ländliche Gefährte, zwischen ihnen lustwandelten plaudernde Gruppen junger Mädchen in der kleidsamen arlesischen Tracht und in der großen Gaststube saßen mit ihren Frauen und Töchtern die Gärtner und Gemüsebauer aus den Nachbardörfern von Maiano, die wöchentlich einmal nach Nîmes zum Markte fuhren.

Der junge Mistral setzte sich in eine Ecke, beschäftigte sich angelegentlich mit seinem Abendessen und hörte als Sachkenner den laut geführten landwirtschaftlichen Gesprächen zu.

»Und Ihr, junger Mann,« fragte ihn plötzlich einer der Hauptredner, »ist's erlaubt zu fragen, ob Ihr auch Gärtner seid?«

»Nicht ganz,« antwortete noch ein wenig schüchtern der Musensohn. »Ich bin hier, um Baccalaureus zu werden.«

»Bacca? Bacca? Was für ein Bacca?« Und aller Augen richteten sich auf den jungen Menschen, der im Begriffe stand, etwas jedenfalls sehr Seltsames zu werden. Der aber faßte sich alsbald ein Herz und begann zu erläutern:

»Wenn wir die Schule durchgemacht und dort Französisch, Latein, Griechisch, Geschichte, Rhetorik, Mathematik, Physik, Chemie, Astronomie, Philosophie und noch einiges andere gelernt haben, müssen wir hierher nach Nîmes kommen und uns von den großen Gelehrten prüfen lassen.«

»Ach! ich weiß! wie wir vom Kaplan, wenn er uns bei der Firmelung fragt: Bist du ein Christ?«

»Gerade so. Die großen Gelehrten fragen einen alles, was in den Büchern steht und wer gut antwortet, kann dann Notar, Advokat, Richter, Arzt, ja sogar Unterpräfekt oder was er sonst will, werden. Die schriftliche Prüfung, mit der das Gröbste abgemacht wird, habe ich schon hinter mir, aber morgen sollen wir, meine Kameraden und ich, noch einmal ganz sein durchgesiebt werden.«

»Ich wüßte doch gern,« sagte einer, »was sie euch da wohl alles fragen werden?«

»Je nun, zum Beispiel: Die Jahreszahlen und Tage aller Schlachten, die in der ganzen Welt geschlagen worden sind, seit die Menschen aufeinander loshauen. Die Schlachten der Juden, der Römer, der Sarazenen, der Deutschen, der Spanier, der Franzosen, Engländer, Ungarn, Polacken und aller übrigen. Und nicht nur die Schlachten, sondern auch die Namen der Feldherren, die sie befehligt haben. Die Namen der Könige, der Königinnen, ihrer Kinder und Minister, und ob sie gut oder böse gewesen sind.«

»Potz tausend! Man sollte nicht denken, daß es Leute gibt, die so viel im Kopfe behalten können! Man sieht wohl, daß die nichts zu arbeiten brauchen! Wenn sie, wie wir, jeden Morgen vor drei Uhr aufstehen und graben müßten, würde ihnen das wohl vergehen! Aber weiter.«

Und der angehende Student, der jetzt gut im Zuge war, fuhr fort:

»Und nicht nur die Namen der Könige müssen wir wissen, sondern auch die Namen aller Völker, aller Länder, Flüsse, Berge und überhaupt von allem, was es unter der Sonne gibt. Und bei den Flüssen werden wir überdies gefragt, wo sie entspringen und wo sie ausmünden. Und ferner, wie der Tau entsteht, und der Regen und Hagel und Donner und Blitz, und woher die Winde blasen und welchen Weg sie in der Sekunde, in der Minute, in der Stunde zurücklegen.«

»Wenn eure Gelehrten so viel wissen,« rief ein anderer dazwischen, »sollten sie doch wenigstens auch im stande sein, dem abscheulichen stürmenden Mistral das Handwerk zu legen, der unsere Felder und Gräben austrocknet und unsere Hütten abdeckt!«

»Das will die Regierung nicht,« sagte bedächtig ein alter Gärtner. »Wir würden sonst zu reich und die Pariser wären nicht mehr die ersten.«

»Man fragt uns,« fuhr der Erklärer unbeirrt fort, »nach den Gattungen und Arten der Tiere, der Vögel, der Fische, ja sogar der Schlangen. Dann nach den Namen, der Größe und den Entfernungen der Sterne, und wie weit es zur Sonne, und wie weit es zum Monde ist.«

»Das ist alles müßiges Zeug,« sagte ein sechster, »wer will es denn nachmessen. Ja, wenn sie genau angeben könnten, bei welchem Mond man den Sellerie pflanzen muß, und bei welchem die Bohnen stecken, damit sie am schönsten aufgehen, und bei welchem man am besten etwas gegen die Schweinekrankheit ausrichtet, dann würde ich sagen: Ja, das ist Wissenschaft! aber was uns der junge Mensch da auftischt, das ist ja lauter Larifari!«

»Durchaus nicht!« riefen die anderen. »Denn es muß doch schon einer einen staatsmäßigen Kopf haben, um allein alles das zu behalten, was der uns nur so aufgezählt hat.«

»Ja! armes Bürschchen,« sagten die Frauen, »er sieht aber auch recht bleich aus. Das viele Sitzen taugt nichts! Und was nützt es, so viel zu wissen, wenn die Gesundheit dabei zu Grunde geht?«

»So viel ist gewiß, mich könnte man eher totprügeln, als mir nur den hundertsten Teil von dem einbläuen, was man wissen muß, wenn man so ein Bacca . . . Bacca . . . wie heißt es doch? . . . werden will!«

»Nun hört, ihr guten Leute,« sagte der älteste. »Wißt ihr, was wir tun müssen? Wenn wir wählen gehen, oder wenn es ein Stierrennen gibt oder schöne Wettspiele, kommt es doch öfter vor, daß wir einen Tag länger hier bleiben, um zu wissen, wer den Sieg davongetragen hat. Jetzt sind wir einmal in Nîmes, und hier ist ein Bauernsohn aus Maiano, der morgen Bac–ca–lau–re–us werden will. Anstatt heute Abend heimzufahren, übernachten wir alle in Nîmes, und morgen werden wir wenigstens wissen, ob es unserm Bauernblut geglückt ist.«

»Recht so!« riefen alle. »Jetzt sind wir einmal dabei, jetzt wollen wir auch das Ende sehen!«

Am nächsten Morgen nahmen fünf Professoren, fünf große Professoren der Universität Montpellier, den Prüfling ins Gebet. Und unter den fünf Gestrengen befand sich auch der ausgezeichnete, damals erst dreißigjährige Literarhistoriker Saint-René Taillandier, der nur wenige Jahre später der treue Freund Mistrals und zeitlebens ein eifrigster Förderer der Ziele des Feliberbundes werden sollte.

Das Examen lief vortrefflich ab, und selig, mehr fliegend als laufend, kehrte der neugebackene Baccalaureus in den kleinen Sankt Johannes zurück. Die wackeren Gärtnersleute hatten ihn mit Ungeduld erwartet. Und als sie ihn glückstrahlend hereinstürmen sahen, riefen sie mit Donnerstimmen: »Er ist durch! Er ist durch!« Und die Männer, die Frauen, die Mädchen, der Wirt, die Wirtin, der Stallknecht, alle, alle umarmten den jungen Sieger und renkten ihm vor lauter Händeschütteln fast die Arme aus. Es war, wie wenn jedem und jeder ein eigenes großes Glück widerfahren wäre.

Der älteste aber, derselbe, der den Vorschlag gemacht hatte, dazubleiben, verlangte das Wort. Er war sichtlich ergriffen.

»Junge,« rief er, »wir freuen uns! Potz Kuckuck, ja, wir freuen uns sogar sehr! Du hast es ihnen gezeigt, den Stadtherren, daß aus unseren Erdschollen nicht bloß Ameisen hervorkommen, sondern auch Männer! Jawohl, ganze Kerle, sage ich! Und jetzt vorwärts, Kinder, hopp! es wird eine Farandole getanzt!«

Die Hände faßten einander und zur Türe hinaus schlängelte sich um Gemüsewagen, Bäume, Tische und Bänke herum, durch den weiten Hof des »kleinen Sankt Johannes« eine lange jauchzende Farandole. Als man sich müde getanzt und gejubelt hatte, ging's in die Wirtsstube zurück. Man aß, trank und sang, und gegen Abend fuhren alle seelenvergnügt nach ihren Heimatdörfern zurück.

Seit jenem Tage ist mehr als ein halbes Jahrhundert verflossen. Mistral ist in dieser langen Zeit in Nîmes, wie überall, wo er in der Provence den Fuß hinsetzt, mehr als einmal mit fast königlichen Ehren empfangen worden. Aber so oft er von weitem das Schild des »kleinen Sankt Johannes« erblickt, steigt in seiner Seele jenes Jugenderlebnis in vollem Glanze empor, und mit Wehmut gedenkt er der schlichten Menschen, die ihn zum ersten Male die Liebe seiner Landsleute und das Glück der Volkstümlichkeit empfinden lehrten.

Der siebzehnjährige Baccalaureus ließ sich an der Rechtsfakultät von Aix immatrikulieren und kehrte von da als wohlbestallter Lizentiat 1851 ins Vaterhaus zurück. Mit Roumanille und der provenzalischen Muse war er in stetem Verkehr geblieben; und als sein weitblickender und großherziger Vater ihm die Wahl eines Berufes völlig freistellte, war er sofort entschlossen, nur noch der Pflege seiner dichterischen Begabung und der Wiedererweckung der provenzalischen Poesie zu leben. Mit Roumanille, Aubanel und vier weiteren Gesinnungsgenossen gründete er den Bund der Feliber, mit dem bewußten Ziele, die seit den Albigenserkriegen unterdrückte und in Verfall geratene provenzalische Sprache von dem Schutte des in sie eingedrungenen Französischen zu reinigen und sie wieder zur Höhe einer Schriftsprache zu erheben. (Vgl. Das Wort Feliber wird von zahlreichen Amateuretymologen von »faire des livres«, Bücher machen, abgeleitet, was gänzlich falsch und dem Geiste der provenzalischen Sprache entgegen ist. Die neuprovenzalischen Dichter gaben sich diesen Namen auf den Vorschlag Mistrals, der das Wort in einer alten provenzalischen Legende in der Bedeutung von »Schriftkundiger« gefunden hatte. Von den aufgestellten mannigfachen Hypothesen sind vielleicht die zutreffendsten die Herleitung vom spanischen feligrés, ursprünglich filii ecclesiae, doctores legis, oder die vom spätlateinischen felibris oder fellebris, der Pflegling, verwandt mit fellare, säugen, und mit filius.Felibris soll, wie alumnus, aktive und passive Bedeutung gehabt haben und felibre würde demnach ebensowohl dem Begriffe von Pflegling, als demjenigen von Pfleger (der Musen) entsprechen.

In Mistrals gesamtem Wirken und Streben ist die Verherrlichung seiner über alles geliebten provenzalischen Heimat der Pol, um den sich alles dreht und das Ziel, nach dem sich alles richtet. Aus diesem Gesichtspunkte muß es auch betrachtet und verstanden werden, wenn er gelegentlich die poetische Freiheit ein wenig weit treibt und z. B. in der Absicht, an den Glanz der altprovenzalischen Dichtkunst zu erinnern, im dritten Gesange von Mirèio den ländlichen Seidenwinderinnen Schilderungen mittelalterlicher Minnehöfe in den Mund legt, die das Wissen junger Mädchen aus dem Volke weit zu überschreiten scheinen. Immerhin darf demgegenüber geltend gemacht werden, daß das provenzalische Landvolk, wie man sich im persönlichen Verkehr mit ihm nicht selten überzeugen kann, mit Zähigkeit an den ruhmreichen Überlieferungen der provenzalischen Vergangenheit festhält und sich die Damen und Ritter der Liebeshöfe von der historischen Kritik so wenig in nichts auflösen läßt, wie etwa die Bewohner der Schweizer Berge ihren Wilhelm Tell.

In dem uns etwas eigentümlich anmutenden zweiten Teile des sechsten Gesanges hat Mistral den zahlreichen, nach und nach absterbenden Volkssagen seiner Heimat ein poetisches Denkmal setzen wollen. Über die symbolische Bedeutung desselben haben die Kommentatoren, wie üblich, mehr gewußt, als der Dichter selbst. Auf bezügliche, an ihn gerichtete Fragen, hat Mistral stets ausweichend geantwortet. Eine der geistreichsten Auslegungen ist die des deutschen Dichters Ludwig Giesebrecht. Eduard Boehmer behandelt sie eingehend in der Studie, die er der ersten und zweiten Ausgabe meiner Mirèio-Übersetzung vorausgeschickt hat. Sie soll, auf des hochverehrten Verfassers Wunsch, den weiteren Auflagen nicht mehr vorgedruckt, sondern, erweitert, mit dessen längst vergriffener Schrift »Die provenzalische Poesie der Gegenwart« verschmolzen und dann neu herausgegeben werden.

Daß Mistral das Schicksal seiner Heldin durch den scheinbar so äußerlichen und zufälligen Umstand eines Sonnenstiches sich entscheiden läßt, haben verschiedene Kritiker zu tadeln gefunden. Sie hätten recht, wenn der Schauplatz der Begebenheit Deutschland oder Nordfrankreich wäre. In der Provence aber, wo im Hochsommer die Landleute ihre früh um drei Uhr beginnende Feldarbeit schon vor neun Uhr Morgens abbrechen müssen, wenn sie nicht, trotz ihrer breitrandigen Strohhüte von den sengenden Strahlen niedergestreckt sein wollen, und wo Sonnenstiche und Hitzschläge zu den allergewöhnlichsten Vorkommnissen gehören, in der Provence ist die zweitägige Fußwanderung eines zarten Mädchens durch die buchstäblich glühenden Steppen der Crau und der Camargo, wie dort unten jedermann weiß, der fast sichere Tod. Daß aber die Arme in ihrer Verzweiflung dessen nicht achtet, legt dem, der die Sommersonne des unteren Rhonetales und ihre täglichen Wirkungen kennt, das vollgültigste Zeugnis ab für die Stärke von Mirèios Glauben und Liebe. Denn die Gefahr des Unterganges ist mindestens ebenso groß, wenn nicht größer, als beispielsweise die, der Leander trotz geboten hat, um zu seiner Hero zu gelangen.

Der schlichte Liebesroman zweier Kinder aus dem Volke ist, bei aller eigenen Zartheit und Süße, doch nichts anderes, als der verbindende Faden, auf den der Dichter die Perlen seiner zahlreichen, farbenprächtigen und stets mit dem Tun und Empfinden der auftretenden Personen aufs engste verknüpften Naturbeschreibungen reiht. Die Forderung einer lückenlos fortschreitenden Handlung wird nicht streng erfüllt, aber das sonnige Land mit seinen Bergen und Tälern, Strömen und Ebenen, Gehöften und Städten, Denkmälern und Ruinen, mit seiner schlichten Bewohner Lust und Leid, ihren Sagen und Legenden, ihren Beschäftigungen und Gewerben, Sitten und Gebräuchen, Tänzen und Liedern tut sich ganz dem Leser auf, und mit Fug ist gesagt worden, die Schilderung sei so anschaulich, daß das Gedicht reichlichen Ersatz gewähren könne für einen längeren Aufenthalt in der Provence.

Der tragische Ausgang endlich war geboten, wenn nicht darauf verzichtet werden sollte, dem in der provenzalischen Volksseele so tief wurzelnden religiösen Gefühl dichterischen Ausdruck zu verleihen.

Sieben Jahre lang hat Mistral an seinem Epos »Mirèio« gearbeitet und gebessert. Im Zimmer oder im Freien auf und ab schreitend, hat er sich Strophe für Strophe unzählige Male laut vorgesprochen, an Rhythmus und Reim, an Klangwirkung, Wortwahl und Satzbau unablässige und unerbittliche Selbstkritik übend. Manch einer hat es eiliger. »Der schöne Tag Mariä Lichtmeß«, 1859, ist das Datum des letzten Feilenstriches.

Dann, aber auch wieder erst nach sieben Jahre währender Durcharbeitung, folgte 1866 das, gleich Mirèio, von begeisterter Liebe zur Heimat getragene Epos »Calendau«; ferner 1874, die lyrische Gedichtsammlung »Lis Isclo d'or« (Die Goldinseln); 1884 seine die Papstzeit in Avignon wiederspiegelnde Nerto; 1890 die dramatische Verherrlichung der schönen Königin Johanna von Neapel und Provence »La Rèino Jano«; und endlich 1897 sein Sang vom Rhonestrom »Lou Rose«. – Zwischendurch liefen ungezählte Beiträge in Prosa und in Versen zu allen Jahrgängen des ältesten Organs des Feliberbundes, des »Armana Prouvençau« und zu den provenzalischen Zeitschriften »L'Aiòli« und ihrer Nachfolgerin »Prouvènço«.

Neben seinem in jedem Sinne fruchtreichen, der Dichtkunst und dem Feliberbunde zugewandten Wirken hat Mistral mit dem Fleiße einer Biene und mit der Arbeitskraft eines Riesen sich als Lexikograph betätigt. In mehr als zwanzigjährigem, unablässigem Sammeleifer hat er sein großes, ungefähr 2400 dreispaltige Quartseiten umfassendes Wörterbuch der neuprovenzalischen Sprache »Lou Tresor dóu Felibrige« zu stande gebracht. Dieses unerschöpfliche Nachschlagebuch provenzalischer Geschichte und Landeskunde, heimischer Überlieferungen, Denkwürdigkeiten, Sprichwörter und Redensarten ist ein nicht nur der romanischen Philologie unschätzbares wissenschaftliches Hilfsmittel, sondern auch den in Mistrals Bahnen wandelnden neuprovenzalischen Dichtern ein unentbehrlicher Wegweiser. Denn wie Dante und Luther die italienische und deutsche, so hat Mistral die provenzalische Sprache von Schlacken gereinigt und neu geschmiedet.

In jüngster Zeit hat der bald fünfundsiebzigjährige Dichter seine ungeschwächte Schaffenskraft in den Dienst eines neuen, von ihm ins Leben gerufenen Unternehmens gestellt, des »Museon Arlaten« zu Arles, einer reichhaltigen ethnographischen Sammlung, die die Schätze provenzalischer Kunst und Industrie in sich vereinigen soll und zugleich bestimmt ist, einen anschaulichen und belehrenden Kommentar zu den in des Dichters Werken genannten, durch den gesteigerten Verkehr und die gleichmachende Maschine immer mehr außer Gebrauch kommenden Geräten und Werkzeugen des provenzalischen Volkes zu liefern.

So sehen wir durch dieses in seiner Art einzigen Mannes Lebenswerk immer und überall den gleichen Gedanken gehen. Als Dichter, als Sprach- und Geschichtsforscher, als Sammler ist er unablässig bestrebt gewesen, alles, was in der Provence schön und gut und eigenartig ist, alles, was ihr zur Ehre und zum Ruhme gereicht, vor Vergessenheit zu schützen und kommenden Geschlechtern zu überantworten. Was er, dahin zielend, in der Jugend sich gewünscht, des hat ihm ein herrliches Alter die Fülle gegeben, und für die Wahrheit des Wortes: »Genie ist Fleiß« (wenn nämlich das Genie da ist) bildet sein ganzes Leben einen der glänzendsten Belege.

Mistrals eigener anmutiger Lebensroman ist bald erzählt. Auf einer seiner Reisen nach Paris, bald nach dem Erscheinen von Mirèio, besuchte er in Dijon einen Freund seiner Familie, den Justizbeamten Rivière. Dieser besaß ein achtjähriges Töchterchen, dessen wundervolle Augen einen tiefen Eindruck auf den damals zweiunddreißigjährigen Dichter machten. Vierzehn Jahre später, nachdem seine hochbetagte Mutter auf dem Sterbebette ihn gebeten hatte, eine eigene Familie zu gründen, machte er sich, ohne einen Augenblick zu schwanken, nach Dijon auf und hielt um die Hand der inzwischen herrlich herangeblühten Jungfrau an. Er führte sie nach Maiano, wo sie seitdem als der von allen hochverehrte gute Geist des ruhmreichen Dichterhauses waltet.

Seinen Heimatsort hat Mistral seit Beendigung der Studienzeit nur noch zu gelegentlichen Reisen und Ausflügen verlassen. Dort, an der Seite seiner edlen Gattin, empfängt er mit unvergeßlicher Liebenswürdigkeit an seinem gastlichen Tische die Gelehrten, Künstler und Schriftsteller aller Länder. Kommt bei solchen Anlässen die Rede auf seine Erfolge und auf seinen Ruhm, so weiß er stets mit einem geistreichen Wort abzulenken. Ihm ist es allezeit nur um die Sache, »le causo«, und nie um die eigene Person zu tun.

Im Mai 1904 ward Mistral die hohe Freude zu teil, inmitten vieler Tausende von Felibern und Feliberfreunden, in demselben Park von Font-Segugno bei Avignon, in dem der Feliberbund gestiftet worden war, das Jubiläum seines fünfzigjährigen Bestandes zu begehen. Die Ansprache, die das jetzige Bundeshaupt, der Dichter und Geschichtsforscher Pèire Devoluy, an die Versammlung hielt, gibt ein so zutreffendes Bild von der Gesinnung der Nachstrebenden das großen Führers, daß hier einige ihrer Hauptstellen Platz finden mögen:

»Es sind nun bald siebenhundert Jahre her, daß die Lichtungen und Büsche dieses weiten, fröhlichen Waldes vom Getöse von Männern und Rossen, vom Schalle der Hörner und Waffen widerhallten. Denn das Kriegsgerät eines Lagers bedeckte diesen ganzen Hügel. Von allen aufgegeben, war der letzte eingeborene Fürst unseres Südens, Raimund VII. von Toulouse, genannt der ›Junge Graf‹, Herzog von Narbonne und Markgraf von Provence, in sein provenzalisches Erbgut gekommen, um hier sein letztes Heer aufzubieten, um hier seinen letzten Kampf zu kämpfen. Sein TodfeindSimon von Montfort, der Anführer des vom Papst Innozenz III. zum »Kreuzzug« gestempelten Raubzuges., im Vergleich mit ihm vor kurzem noch ein gar kleines Herrlein, hatte, durch Raub und Morden emporgekommen, soeben mit ungeheurer Übermacht die Stadt Avignon eingeschlossen.

O Zeit der Finsternis und der Trauer!

Nach zwanzig Jahren des Krieges und der Plünderung war die Kraft unserer Männer gebrochen. Die Helden des großen vaterländischen Kampfes waren entweder auf den Schlachtfeldern von Toulouse, Muret, Carcassonne und Beaucaire gefallen, oder endeten, in schaurige Turmverließe lebendig eingemauert, als unbeugsame Märtyrer.

Damals geschah es, daß inmitten der allgemeinen Erschöpfung und Abkehr, Avignon sich zu ewiger Ehre erhob, indem es das zerfetzte Banner des Vaterlandes aufpflanzte und vor seinen wohlbewehrten Wällen den Ansturm ungezählter wütender Söldner aufhielt. Und während Avignon tapfer standhielt, entflammten, unter Raimunds Führung, Barone und Bauern in den bergigen Buschlanden den heiligen Krieg der Geächteten: tollkühn, Gottesfeuer in den Seelen, brachen sie aus ihren Verstecken wie das Wetter in die Nachschübe und Zufuhren des Belagerungsheeres. So lange Avignon, das letzte Bollwerk der Verteidigung, sich hielt, sagte man sich, daß das Vaterland noch lebe und vielleicht gar wieder sich erheben könne.

Von diesen Höhen von Camp-CabèuCamp-Cabèu, wörtlich »gewölbtes Feld«, Name des ungefähr zwei Wegstunden östlich von Avignon ansteigenden Hügels, auf dem Schloß und Park von Font-Segugno liegen. spähte denn auch der ›Junge Graf‹ fleißig nach der belagerten Stadt hinüber; und wenn seine Boten ihm meldeten, daß das heilige Banner noch immer vom höchsten Turme wehe, riß Raimund VII. zu neuen Glanztaten das Schwert aus der Scheide.

Eines Tages aber – o Tag des Unglücks und der Trauer! – sprengte mit blutigen Sporen ein verstörter Reiter heran und ließ sich vor den Feldherrn führen: ›Graf,‹ rief er, ›Avignon ist gefallen! Die Fremden sind Herren der Stadt! . . .‹

Alsbald widerhallte das Lager von Verwünschungen, von Schluchzen und Schreckensrufen. Gram im Antlitz versammelte der ›Junge Graf‹ seine Mannen um sich:

›Barone,‹ sprach er, ›unser Tagwerk ist beendet. Tapferkeit und Adel sind dahin. Mit Avignons Fall ist jede Hoffnung zerstört. Vom Schicksal gefällt, will ich wenigstens, daß ihr nicht alle mit mir zu Grunde geht. Ich entbinde euch eures Treueides. Zerbrecht eure Schwerter und zerstreut euch unter Gottes Hut auf den Wegen der Verbannung . . . O Provence! Alles ist verloren! Die Gesittung ist zu Tode verwundet. Die Zukunft wird uns verraten, wie die heutige Stunde uns verrät. Unser Andenken im Vaterlande wird der Feind mit Lug und Haß beladen; und ich sehe voraus, daß selbst die Sprache unseres Volkes, vom hohen Thron gestürzt, verachteter als eine Zigeunerin, dergestalt in den Bann getan werden wird, daß unsere eigenen Enkel sich scheuen werden, sie zu reden. Aber, beim lebendigen Gott, der Tag der Gerechtigkeit, früher oder später muß er erstrahlen!

›Barone, und ihr, Landleute, ehe wir unser Lager abbrechen, ehe wir zum letzten Male uns umarmen, o meine Waffenbrüder, o Geächtete des Buschlandes, die ihr nie verzweifeltet, will ich an diesem Orte ein ewiges Zeugnis unserer Kämpfe und unserer Hoffnungen zurücklassen. Grabt, grabt eine tiefe Grube in die Erde der Väter! Und damit sie dem Feinde nicht in die Hände fallen, begrabt hier das Schwert von Toulouse und das Feldzeichen meiner Vorfahren! Und wenn je, in den folgenden Jahrhunderten, Gott sich offenbaren wird, wenn je das Gewissen des Vaterlandes erwacht, dann mögen neue Helden, ganz insgeheim, kommen und in ihrer ehrfürchtigen Liebe, von der Hand des Schicksals geleitet, die heiligen Reliquien des Vaterlandes wiederfinden!‹

Da gruben die Ritter mit ihren Lanzen das große Grab für die Jahrhunderte und nachdem sie die Waffe andachtsvoll geküßt und in die Falten der Oriflamme gehüllt hatten, senkten sie weinend das Schwert unseres Volkstums in die Grube.

Dann folgten die Jahrhunderte der Finsternis. Lüge und Haß taten ihr Kainswerk. Und von all der fröhlichen Gesittung, von all dem Glanze des Vaterlandes, von all der bräutlichen Herrlichkeit, die unvergleichlich über drei Jahrhunderten seiner Geschichte strahlt, wurde selbst die Erinnerung, gleich einem Verbrechen, verfolgt, aus allen Schulen und aus allen Hörsälen verbannt und den ersten trüben Teil der Vorhersagung des edlen Raimund sahen unsere Ahnen auf das schlimmste sich erfüllen.

Aber der lebendige Gott hatte es in den Himmel der Provence eingeschrieben, daß die Weissagung Raimunds auch bis ans Ende erfüllt werden solle!

Brüder des Südens! Das vaterländische Schwert, das seit so vielen Jahrhunderten in der Verborgenheit dieser verzauberten Wildnis schlief, die Sieben von Font-Segugno haben es vor fünfzig Jahren ausgegraben!

Es sind nun fünfzig Jahre, daß sieben Dichter in der Schöpferkraft des Geistes hierherkamen, und daß sie, zitternd vor heiliger Erregung, die verborgene Waffe der edlen Raimunde wiederzufinden wußten. Und sie härteten den Stahl aufs neue und begannen über ihr Volk hin das blitzende Schwert des Wortes zu schwingen.

Herr, der du die Sieben uns geschenkt hast, heiliger SternHeiliger Stern, lat. Sancta Stella, kanonischer Name jener schönen provenzalischen Jungfrau, die im II. Jahrhundert zu Massilia, dem heutigen Marseille, den Märtyrertod erlitten haben soll. Die Feliber haben sie, der Doppelbedeutung des Namens wegen, zu ihrer Schutzpatronin erkoren., der sie leitete, ihr habt nicht gewollt, in eurer schützenden Gerechtigkeit, daß das mittägliche Vaterland für immer in die Tiefe des Abgrundes gestürzt sei. Ihr wolltet, daß die entarteten Enkel ihren Stolz wiederfänden in den Großtaten der Ahnen . . . Jene vor Zeiten vom hohen Thron herabgestürzte Sprache, verachteter als eine Landstreicherin, verfolgt und schimpflich behandelt von allen Regierungen und von allen Vorgesetzten, jene Sprache, die trotz alledem unversehrt und so kraftvoll wie je im kindlichen Munde des Volks geblieben war, jene Sprache endlich, die elf Millionen Welsche beständig und mit Behagen plaudern, ihr habt gewollt, daß sie sich wiedererkenne in ihren mundartlichen Blüten, daß sie laut ihren edlen Ursprung und die Fruchtbarkeit ihres Geistes verkünde, indem sie sich in den herrlichen Dichtungen verkörperte, deren erste Keime Font-Segugno gesehen hat. Ihr gabt uns die sieben Dichter, die, das blitzende Schwert neu schärfend, auf Camp-Cabèu jenen Flammenstoß des Ruhmes und der Schönheit entzündeten, der unser Land erhellt, und der nie mehr verlöschen wird . . .

O Mistral, Roumanille, Aubanel, Tavan, Giéra, Brunet, Mathieu, hier war es, wo ihr den Bundeseid geschworen, hier ist es gewesen, wo ihr die große Verschwörung der Wiedereroberung angezettelt habt.

Und weil dieser herrliche Hain solch wunderbare Morgenröte anbrechen sah, weil er solche Ernte der Fröhlichkeit vorbereitet hat, solche Erneuerung des vaterländischen Lebenssaftes, wird er bis ans Ende der Jahrhunderte unserem Volke geheiligt bleiben.

Kommt, Feliber, kommt von überall her, aus dem heiligen BecherAnspielung auf das von Mistral auf eine alte Sabolysche Melodie gedichtete »Becherlied«, »La Cansoun de la Coupo«, das bei allen festlichen Veranstaltungen der provenzalischen Feliber, während ein von den katalonischen Felibern gestifteter Pokal im Kreise geht, gesungen wird. zu trinken und die Weihe des Mysteriums von Font-Segugno zu empfangen.

Hier, auf dem Altar des Vaterlandes, vor dem Großmeister, der es unsterblich verkörpert, lasset uns, gleich jenen, den Bund besiegeln: Schwören wir, einigen Herzens, zu bedenken, zu lernen und zu verstehen; schwören wir, ohne Nachlassen zu arbeiten für den Triumph unserer höchsten Rechte.

Und aus dieser umschatteten Wiege der Neubelebung, aus diesem unentweihten Hort der Geächteten, ziehen wir alle aus, und furchtlos, wie jene gewesen, entfachen wir zum endlichen Siege, den heiligsten und redlichsten der Kämpfe, den friedlichen Krieg der Begeisterung und der Treue, den Krieg der Feder und des Wortes, um wiederzuerobern den ganzen Umfang unseres uns widerrechtlich entrissenen Erbes, alle guten Willens und einträchtig und, wie vor Zeiten die Väter, rufend:

›Que Diéu rènde la terro à si fidèus amant!‹Gott gebe die Erde seinen Getreuen zurück.«

* * *

Der Poet von Maiano ist der Liebling der Götter und der Abgott seines Volkes. Wir Nordländer können uns ohne eigene Anschauung kaum eine Vorstellung von den Ausbrüchen der Begeisterung machen, die das Erscheinen ihres geliebten großen Dichters bei seinen südlichen Landsleuten entfesselt. Es ist mir im Vorjahre vergönnt gewesen, Zeuge eines echt provenzalischen Festes im antiken Theater von Arles zu sein. Als Mistral, seine Gattin am Arme, die Ehrentribüne betrat, erhoben sich die fünfzehntausend Zuschauer, die den Raum bis auf den letzten Platz füllten, wie ein Mann von ihren Stufensitzen und das jubelnde Zurufen, Händeklatschen, Hüte- und Tücherschwenken wollte kein Ende nehmen. Es bedurfte einer bittenden Handbewegung des Gefeierten, um so viel Stille zu schaffen, daß der Festakt beginnen konnte.

Man muß Mistral inmitten seines Volkes, man muß seine väterliche Güte mit den Geringsten und seine edle Einfachheit mit den Vornehmsten gesehen haben, um zu verstehen, welche Schätze an Liebe und Verehrung ihn umgeben. Denn wie ein großer Dichter, so ist er ein goldlauterer Charakter und ein leuchtendes Vorbild begeisterter Heimatliebe.

Glücklich das Land, das einen solchen Mann hervorbringen, glücklich das Volk, das sagen kann: Er ist unser!

* * *

Zu meiner Übersetzung habe ich nur zu sagen, daß mit Ausnahme derjenigen provenzalischen Namen, für die es eine deutsche Form gibt (Alpinen, Rhone u. a.) oder solcher, deren französische Form auch im Deutschen eingebürgert ist (Avignon, Tarascon u. a.), für sämtliche Personen- und Ortsnamen und für spezifisch provenzalische Sachbezeichnungen die Formen des Originals beibehalten worden sind. Zu ihrer – wenigstens annähernd – richtigen Aussprache ist zu merken:

Im Provenzalischen decken sich Schriftbild und Lautwert in der Regel der französischen Aussprache gemäß. Für die

Konsonanten gelten folgende Ausnahmen:

g vor e und i, und j vor irgend einem Vokal, werden wie dz ausgesprochen. Somit felibrige, Juge, Jano, Jour, wie felibridze, Dzudze, Dzano, dzour.

ch wie ts, also chato, chamas, wie tsato, tsamas.

Vokale: a, Kennzeichen der weiblichen Endung im Altromanischen, ist im Neuprovenzalischen durch (dumpf und sehr kurz zu sprechendes) o ersetzt worden. Auslautendes o im Provenzalischen entspricht somit dem französischen dumpfen e und dem unbetonten Endvokal a der Italiener und Spanier.

e mit dem Akut, und inlautendes e ohne Akzent, werden wie französisches geschlossenes e gesprochen; e mit dem Gravis wie französisches sehr offenes e.

e und i vor unmittelbar darauffolgendem Nasalkonsonanten behalten ihren alphabetischen Klang; a, o, ou und u vor unmittelbar darauffolgendem Nasalkonsonanten, werden schwach nasaliert.

ou lautet wie deutsches u.

Die provenzalische, sehr klangreiche Sprache besitzt neben den reinen Vokalen zahlreiche Halbdiphthonge, Diphthonge und Triphthonge.

In den Halbdiphthongen ist das erste Lautelement halbkonsonantisch, z. B. Mirèio wie Mi-rè- jo , Mario wie Ma-rì- jo , Ourrias wie Ourr- jas .

In den Diphthongen ist das erste Lautelement das betonte.

In den Triphthongen ist das erste Lautelement halbkonsonantisch, das zweite betont, das dritte unbetont. Die unbetonten Lautelemente werden überall in ihrem unveränderten alphabetischen Klange zu Gehör gebracht. u lautet, wenn in der Silbe alleinstehend, wie französisches u, im Diphthong und Triphthong aber wie deutsches u.

Alle Vokale werden sehr rein und, mit alleiniger Ausnahme des oben besprochenen auslautenden o , sehr klangvoll ausgesprochen.

Wortton: Die neuprovenzalische Rechtschreibung bezeichnet in der Regel den Vokal der tontragenden Silbe mit einem Akzent, und zwar dem Gravis für den offenen und dem Akut für den geschlossenen. In Ermanglung eines Akzentzeichens liegt der Ton:

auf der vorletzten Silbe in den auf unbetontes e oder o auslautenden Wörtern, z. B. couns acre, fel ibre, felibr ado, cam argo.

auf der letzten Silbe in den auf a, i, u, auf einen Diphthong oder Triphthong oder auf einen Konsonanten auslautenden Wörtern, z. B. engip a, fantast i, mor i, vert u, marteg au, marc iau, arlat en .

Diese tunlichst gedrängte Anleitung möge die Stelle der lautschriftlichen Tafeln vertreten, die in den beiden ersten Auflagen den romanistischen Fachkreisen bestimmt waren und von ihnen beifällig aufgenommen worden sind.

Die Erläuterungen, auf die eine Anmerkungsnummer am Ende des betreffenden Verses verweist, habe ich in der Hauptsache dem Originalwerke und dem Tresor dóu Felibrige entnommen und in mündlichem Verkehr mit dem Dichter der Mirèio und seinen und meinen Freunden, den Felibern, ergänzt.

Wie in den früheren Auflagen, so sind auch in der vorliegenden, zu möglichster Vermeidung störenden Beiwerkes, alle Namen in ein besonderes alphabetisches Verzeichnis ausgeschieden worden.

A. B.



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