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XII.

Als ich wieder zur Besinnung kam, schien mir der Mord, den ich an Spy begangen, eine ungeheuerliche That und ich empfand Grauen davor als hätte ich ein kleines Kind ermordet. Von allen feigen Handlungen, die ich begangen, kam mir diese wie die feigste und häßlichste vor … Juliette töten! Ja, das wäre ein Verbrechen gewesen, allerdings, aber vielleicht wäre es doch möglich gewesen, in dem Aufruhr meiner Leiden, wenn nicht eine Entschuldigung, so doch wenigstens eine Erklärung dafür zu finden … Aber Spy töten … einen Hund … ein armes, wehrloses Tier! … Und weshalb? … Ach ja, weshalb? … Es konnte ja nur sein, weil ich eine Bestie war, weil ich den wilden und unwiderstehlichen Instinkt des Mordes in mir trug! … Während des Krieges hatte ich einen guten, jungen und kräftigen Mann getötet, als er mit entzücktem Auge und bewegtem Herzen, in Rührung versunken, den Sonnenaufgang betrachtete! … Ich hatte ihn, hinter einem Baume versteckt, vom Dunkel beschützt, in feiger Weise getötet! … Zwar war es ein Preuße … Einerlei! … Es war ein Mensch, so gut wie ich, nein, ein besserer Mensch als ich … Von seiner Existenz hingen schwache Frauen- und Kinderexistenzen ab; irgendwo beteten angsterfüllte Wesen für ihn, warteten auf ihn; vielleicht trug diese machtvolle Jugend, trugen diese kraftvollen Lenden Keime in sich zu hochbegabten, von der Menschheit ersehnten Menschenleben! Und mit einem blöden und feigen Schuß hatte ich das alles zerstört … Und jetzt hatte ich einen armen Hund getötet! … Den hatte ich getötet, als er zu mir kam, als er mit seinen zarten Beinchen versuchte auf mein Knie hinauf zu klettern! … Wahrlich, ich mußte ein Mörder sein! … Die kleine Leiche verfolgte mich; beständig sah ich den grausig-zerquetschten Kopf vor mir, das Blut, das auf den hellen Möbelstoffen der Kammer herumspritzte, und das Bett, das jetzt für immer mit Blut befleckt war! …

Was mich ebenfalls unablässig quälte, war der Gedanke, daß Juliette mir den Verlust von Spy niemals verzeihen würde. Jetzt mußte sie Grauen vor mir empfinden … Ich schrieb reuevolle Briefe an sie, in denen ich beteuerte, künftig nur ihrem Willen leben zu wollen, mich nie zu beklagen und ihr nie Vorwürfe über ihr Leben zu machen; Briefe die so demütig waren, so voll der gemeinsten und verächtlichsten Unterwerfung, daß jede andere Frau bei ihrem Lesen den tiefsten Widerwillen verspürt hätte … Ich ließ sie ihr durch einen Dienstmann ins Haus schicken und stand selber, seine Rückkehr ängstlich erwartend, an der Ecke der Rue de Balzac.

»Eine Antwort habe ich nicht bekommen!«

»Sie haben sich gewiß geirrt? … Ist der Brief auch richtig abgeliefert worden, im ersten Stock?«

»Jawohl … Und das Kammermädchen antwortete mir: ich bekäme keine Antwort!«

Ich ging selbst hinauf. Als Célestine mir mit ihrem cynischen und höhnischen Gesicht aufmachte, bemerkte ich, daß man sich mittels einer Sicherheitskette gegen meine Person verbarrikadiert hatte.

»Célestine, lassen Sie mich hinein!«

»Mme. Roux ist nicht zu Hause!«

»Célestine, meine gute Célestine, lassen Sie mich hinein!«

»Mme. Roux ist nicht zu Hause!«

»Célestine! … Meine liebe kleine Célestine … Lassen Sie mich hinein, damit ich sie erwarte … Ich werde Ihnen viel Geld geben …«

»Mme. Roux ist nicht zu Hause!«

»Célestine! Ich bitte Sie darum! … Benachrichtigen Sie Mme. Roux, daß ich hier bin … sagen Sie ihr, daß ich ganz ruhig bin … daß ich krank bin … daß ich sterbe! … Und ich gebe Ihnen hundert Franken, Célestine … zweihundert Franken, Célestine!«

Célestine betrachtete mich mit schlauer Miene heimlich von oben bis unten, befriedigt mich leiden zu sehen, aber hauptsächlich befriedigt darüber, daß ich mich zu ihr erniedrigen, daß ich sie in unterwürfigem Ton anflehen mußte.

»Nur eine Minute, Célestine, eine einzige Minute … nur daß ich sie sehe, und ich gehe wieder!«

»Nein, nein, Herr Mintié! … ich bekomme Schelte, wenn ich Sie herein lasse …«

Ich hörte plötzlich das Schellen einer Glocke; das Geklingel wurde immer heftiger …

»Sie hören … ich werde gerufen!«

»Célestine … Sagen Sie ihr, wenn sie bis sechs Uhr nicht zu mir gekommen ist … wenn sie mir bis sechs Uhr nicht geschrieben hat, so töte ich mich! … Bis sechs Uhr, Célestine! … Vergessen Sie es nicht! … Sagen Sie, daß ich mich erschießen werde!«

»Gut, Herr Mintié!«

Und die Thür fiel mit einem starken Gerassel der Sicherheitskette vor mir ins Schloß.

Da kam mir der Gedanke, Gabrielle Bernier aufzusuchen, ihr von meinem Unglück zu erzählen, sie um Rat zu bitten und zu einer Versöhnung zu benutzen. Gabrielle hatte eben in Gesellschaft einer Freundin, einer kleinen, mageren, schwarzhaarigen Frau mit einem spitzen Nagetiermäulchen, die, wenn sie sprach, in einemfort Nüsse zu knabbern schien, ihr Frühstück beendigt. Sie saß jetzt, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, in einem schmutzigen, zerknüllten Morgenrock von weißem Foulard, die Haare oben auf dem Kopf durch einen quer hineingesteckten Kamm zusammengehalten und rauchte Cigaretten, indem sie dabei dann und wann an einem Glase Chartreuse, das vor ihr stand, nippte.

»Sieh 'mal einer an! Jean! … Sie sind also wieder hier?«

Sie bat mich, in ihr Toilettenzimmer einzutreten, wo eine fürchterliche Unordnung herrschte; bei den ersten Worten, die ich über Juliette sprach, rief sie:

»Was? … Sie wissen nicht? … Seit einem Monat schon sind wir auseinander … seitdem sie mir den Konsul wegstibitzte … einen Konsul aus Amerika, mein Lieber, der mir fünftausend im Monat gab! … Ja, den hat sie mir gemaust, denken Sie nur! … Na, und Sie? … Sie haben sie wohl Knall und Fall verlassen, hoffe ich, was? …«

»Ach, ich!« platzte ich heraus, »ich bin furchtbar unglücklich! … Also ist es ein Konsul, der augenblicklich ihr Geliebter …«

Gabrielle zündete ihre ausgegangene Cigarette wieder an und zuckte die Achseln:

»Ihr Geliebter? … Können denn solche Frauenzimmer, wie sie eins ist, einen Geliebten festhalten? Hätte sie den lieben Gott selber, mein Freund, er würde es nicht lange bei ihr aushalten! … Nein, die Männer lassen sich bei ihr nicht nieder, das kann ich Ihnen sagen! … Kommt da einer hin, so ist er auch schon fort am nächsten Tag! … Prost die Mahlzeit! … Mag sie sie pflücken, meinetwegen! aber Handschuhe müßte sie doch dabei anziehen, meine ich … Und Sie sind noch immer in sie verliebt, Sie armer Junge?«

»Mehr denn je! … Ich habe alles gethan, um mich von dieser schmachvollen Leidenschaft zu heilen, die mich zu dem gemeinsten der Menschen macht, die mich ums Leben bringt! … ich habe es nicht gekonnt! … Sie führt also ein verabscheuungswürdiges Leben, sagen Sie?«

»Wahrhaftigen Gott, das thut sie!« … beteuerte Gabrielle, indem sie eine Rauchwolke in die Luft blies … »Sie wissen, ich bin keine Zierpuppe … Ich amüsiere mich, wie alle Welt es thut … aber, mein Ehrenwort darauf! … ich würde vor Scham erröten, das zu thun, was sie thut … ja, ja, das kann ich Ihnen auf den Kopf meiner Mutter schwören!«

Mit zurückgeworfenem Kopfe blies sie den Cigarettenrauch in Ringen, die zitternd an die Decke emporstiegen, in die Luft hinaus … Und als wolle sie gleichsam die schon gesprochenen Worte unterstreichen, wiederholte sie:

»Wahrhaftigen Gott, ja!«

Obgleich ich grausam litt, obgleich jedes von Gabriellens Worten mir ein Messerstich ins Herz war, nahm ich eine einschmeichelnde Miene an und näherte mich ihr.

»Erzählen Sie mir, meine kleine Gabrielle, bitte, erzählen Sie …«

»Ihnen erzählen! … Ihnen erzählen! … so hören Sie! … Sie kennen ja die beiden Bergheims? … die beiden widerlichen Deutschen? … Gut, Juliette hatte sie alle beide auf einmal! … Das, wissen Sie, habe ich mit meinen eigenen Augen angesehen! Den einen Abend sagte sie zu einem von ihnen: ›Du bist es, den ich liebe,‹ und nahm ihn mit sich. Am folgenden sagte sie zu dem anderen: ›Nein, Du bist es!‹ … Und nun nahm sie den mit … Und wenn Sie das gesehen hätten! … Zwei schmutzige Preußen, die immer wegen der Rechnungen Krakel machten! … Ja, und allerlei solche Sachen mehr … Aber ich will nicht mehr darüber sprechen, denn ich sehe ja, ich thue Ihnen doch wehe damit!«

»Nein!« rief ich … »Nein Gabrielle … fahren Sie fort … denn … Sie verstehen, schließlich … der Ekel … der Ekel …«

Ich war dem Ersticken nahe und brach in heftiges Schluchzen aus.

Gabrielle wollte mich trösten.

»Na, na, weinen Sie man nicht so, armer Jean! … Sie verdient es wahrhaftig nicht, daß Sie sich ihretwegen das Herz aus der Brust grämen … Ein so lieber Mensch wie Sie! … Ist es möglich? … Ich habe ihr immer gesagt: ›Du verstehst ihn nicht, meine Liebe, Du hast ihn nie verstanden … das ist eine Perle von Mann, der!‹ … Ah, ich kenne Frauen, die es wohl zufrieden wären, mit einem solchen lieben kleinen Kerl zu leben … und die ihn aufrichtig lieben würden, das kann ich Sie versichern! …«

Sie setzte sich auf meine Kniee und wollte mir die feuchten Augen abtrocknen. Ihre Stimme war zärtlich geworden, ihr Blick funkelte:

»Fassen Sie Mut! … Lassen Sie sie laufen! … und nehmen Sie eine andere … eine, die gut und sanft ist, die Sie versteht …«

Und unversehens hatte sie mich in ihre Arme geschlossen und drückte ihren Mund auf den meinen … Ihr Busen, der nackend aus den Spitzen ihres Peignoirs hervorsah, preßte sich gegen meine Brust … Dieser Kuß, diese zur Schau gestellte Nacktheit, riefen ein Entsetzen in mir hervor. Ich löste mich aus ihrer Umarmung und stieß sie mit brutaler Kraft zurück. Gabrielle richtete sich, etwas verlegen, wieder auf, brachte ihre Toilette in Ordnung und sagte zu mir:

»Ja, ja, ich verstehe! … Ich habe das auch durchgemacht … aber Du weißt Kleiner … Wenn Du willst … komme nur zu mir …«

Ich entfernte mich … Meine Beine versagten den Dienst und zitterten unter mir; um den Kopf hatte ich eiserne Reifen, und ein kalter Schweiß brach auf meiner Stirn hervor und rieselte in großen Tropfen an meinem Rücken hinunter … Um weiter zu gehen, mußte ich mich an die Mauern der Häuser stützen … Da ich einer Ohnmacht nahe war, trat ich in ein Café und schluckte gierig ein Glas Rum hinunter … Ich kann nicht sagen, daß ich gerade sehr litt … Es war mehr wie eine Art von Betäubung, welche mir die Glieder schwer und unbeweglich machte, eine gänzliche, sowohl physische wie moralische Vernichtung, in die der Gedanke an Juliette dann und wann einen scharfen, jähen Schmerz hineinmischte … Und in meinem irren Geiste wurde Juliette zu etwas Unpersönlichem. Sie war nicht mehr eine Frau, die ein Sonderdasein führte, nein, sie war die Prostitution selber, die sich groß und mächtig in der Welt herumwälzt, das unreine Götzenbild, von Ewigkeit zu Ewigkeit beschmutzt, zu dem die atemlosen Massen hinpilgerten, durch tragisches Dunkel hindurch, erleuchtet von den Fackeln der Baphometen-Ungeheuer … Lange, lange saß ich da, die Ellbogen auf dem Tische, den Kopf in den Händen, die Augen starr auf eine Wandfläche zwischen zwei Spiegeln gerichtet, auf der Blumen gemalt waren … Endlich verließ ich das Café, und ohne zu wissen, wo ich mich befand, schritt ich weiter, den Weg vor mir gerade aus, immer weiter … Nach einem mehrstündigen Laufe kam ich, ohne es beabsichtigt zu haben, auf die Avenue du Bois de Boulogne hinaus, in die Nähe des Arc de Triomphe … Der Tag neigte sich zu Ende … Über den Hügeln von Saint-Cloud, die sich violett färbten, loderte der Himmel auf in purpurner Glut, und kleine rosige Wolken segelten im weiten Himmelsraume, der von einem hellen, zarten Blau war, dahin … Der Wald lag da wie eine düstere Masse, und ein feiner Staub, der die Reflexe der sterbenden Sonne rot färbte, hob sich von der Avenue, die schwarz von Wagen war … Und die dicht gedrängten Wagen fuhren in langer Reihe unaufhörlich vorüber, raubgierige Weiber zur nächtlichen Schlächterei führend … Auf den Kissen ausgestreckt lagen sie da, mit gleichgültigen und verächtlichen Mienen, mit tierischem Ausdruck im Gesicht, mit weichem, von der Ausschweifung schlaffem Körper, alle waren sie da und einander so ähnlich, daß ich in jeder Juliette wiedererkannte … Der Zug kam mir grausiger vor denn je … Der Anblick dieser vielen Wagen, dieser ausstaffierten Pferde, dieser blutigen Sonne, die die elegant lackierten Equipagen wie Rüstungen aufblitzen ließ, das ganze lebhafte Gemisch von roten, gelben und blauen Stoffen, von Federn, die im Winde zitterten, machte mir den Eindruck, als sähe ich feindliche Regimenter, siegestrunkene Regimenter sich plündernd auf das besiegte Paris werfen … Und ich war aufrichtig empört darüber, keinen Kanonendonner zu hören, nicht die Mitrailleusen Tod speien und die Avenuen reinfegen zu sehen … Ein Arbeiter, der von seiner Arbeit heimkehrte, hatte auf dem Trottoir Halt gemacht … mit seinem Werkzeuge auf den Schultern, mit gekrümmtem Rücken stand er da und sah sich das Schauspiel an … In seinem Auge war keinerlei Haß zu lesen, im Gegenteil, er sah sich das Schauspiel mit einer Art von Begeisterung an … Da packte mich die Wut … Ich verspürte eine heiße Lust zu ihm hinzugehen, ihn am Kragen zu fassen und ihm zuzurufen:

»Was thust Du da, Thor? Weshalb betrachtest Du die Weiber da in dieser Weise? … Die Weiber da, die eine Herausforderung für Deine zerrissene Jacke sind, für Deine von der Anstrengung zerschlagenen Arme, für Deinen ganzen, von den täglichen Strapazen zerschundenen Körper … In den Tagen der Revolution glaubst Du Dich an der Gesellschaft, die Dich zertritt, zu rächen, indem Du Soldaten und Prediger, leidende und bescheidene Menschen, wie Du selber einer bist, tötest? … Und nie hast Du daran gedacht, ein Schaffot zu errichten für diese infamen Geschöpfe da, für diese raubgierigen Bestien, die Dir von Deinem Brot, von Deiner Sonne das Beste wegstehlen … Denke doch mal nach! … Die Gesellschaft, die Dich verfolgt, die sich bestrebt, Dir mit jedem Tage die Ketten schwerer zu machen, die Dich an das ewige Elend ketten, sie beschützt, sie bereichert diese da; es sind Deine Blutstropfen, die sie in Gold verwandelt, um damit den fetten Busen dieser Elenden zu schmücken … Damit sie Paläste bewohnen können, mußt Du Deine Kräfte mißbrauchen, mußt Du Hungers sterben, oder Dir den Kopf auf den Barrikaden zerschlagen lassen … Sieh sie Dir mal an! … Wenn Du in der Straße um Dein Brot betteln gehst, ergreifen Dich die Schutzleute, Du armer Teufel! … Nun sieh mal hin, wie sie für diese da, für ihre Wagen und Kutscher den Weg frei machen! Sieh es Dir doch an! … Ah! und was für wunderbare Weinlesen gäbe es … Welch prächtige Ströme von Blut! … Und das schöne Korn, wie würde es emporschießen, hoch und nahrhaft, wie würde es auf der Erde wachsen, in der sie verwesten! …«

Plötzlich gewahrte ich Juliette … nur einen kurzen Moment, im Profil … Sie trug einen rosa Hut, sah frisch aus und schien glücklich zu sein, sie erwiderte mit leichter Neigung des Hauptes lächelnd die Grüße, die an sie gerichtet wurden … Juliette sah mich nicht … sie fuhr vorüber …

»Sie kommt zu mir! … Sie hat sich erinnert … Sie kommt zu mir! …«

Ich zweifelte keinen Augenblick dran … Ein Fiaker kehrte leer zurück … Ich stieg hinein … Juliette war schon verschwunden …

»Wenn ich das Hotel nur zur selben Zeit erreiche wie sie! … Denn sie kommt zu mir! … Schnell, Kutscher, schneller!«

Vor der Thür des Hotels kein Wagen … Juliette war schon fort! … Ich stürzte in die Pförtnersstube.

»Es ist in diesem Augenblick jemand dagewesen, der nach mir gefragt hat, nicht wahr? … Eine Dame? … Mme. Juliette Roux …«

»Nein, Herr Mintié.«

»Dann haben Sie einen Brief für mich?«

»Nichts, Herr Mintié.«

Ich dachte:

»Sie wird sogleich hier sein!«

Und ich ging wartend, fiebernd auf dem Trottoir auf und ab, indem ich, um mich zu beruhigen, laut wiederholte:

»Sie wird sogleich hier sein!«

Ich wartete, wartete … Niemand! Ich wartete wiederum … Niemand … Die Zeit verstrich … Niemand!! …

»Die Elende! … Und sie lächelte … sie sah vergnügt aus … Und sie wußte, daß ich mich um sechs Uhr erschießen wollte!« Ich lief in die Rue de Balzac … Célestine beteuerte, Madame sei soeben ausgegangen.

»Hören Sie mich an, Célestine … Sie sind ein gutes Mädchen … Und ich habe Sie immer gern gehabt … Sie wissen, wo sie ist, nicht wahr? … Gut, gehen Sie zu ihr, sagen Sie ihr, daß ich sie sehen muß.«

»Ich weiß wirklich nicht, wo Madame ist.«

»Doch, Célestine, Sie wissen es … Ich bitte Sie herzlich darum … Gehen Sie! Ich leide zu furchtbar!«

»Auf mein Ehrenwort! … Herr Mintié, ich weiß es nicht.«

Ich drang auf sie ein.

»Vielleicht ist sie bei ihrem Liebhaber? … im Restaurant? … Ach bitte, bitte! Sagen Sie es mir!«

»Aber wenn ich es doch nicht weiß!« Da packte mich die Ungeduld.

»Célestine … ich habe höflich und freundlich mit Ihnen gesprochen … Reizen Sie mich nicht … denn …«

Célestine kreuzte die Arme, schüttelte den Kopf höhnisch und sagte mit schleifender Straßenjungenstimme:

»Dann? Was? dann … Ich will Ihnen was sagen: Sie langweilen mich, Sie Affenfratze Sie! … Machen Sie, daß Sie fortkommen, und das auf der Stelle, sonst hole ich die Polizei, verstehen Sie!«

Und indem sie mich zur Thür hinausstieß, fügte sie grob hinzu:

»Wahrhaftigen Gott! diese Schmutzfinken! … Das ist ja schlimmer als die Hunde!« Ich besaß gerade noch Besinnung genug, um nicht mit Célestine Streit anzufangen; beschämt schlich ich die Treppe hinunter.

Es war Mitternacht, als ich von der Rue de Balzac zurückkehrte … Ich hatte mich in der Nähe der verschiedenen Restaurants herumgetrieben, um nach Juliette auszuspähen, ich hatte sie zwischen den Ritzen der niedergelassenen Rouleaux hindurch, mit Hilfe der großen Spiegel, in den Räumen gesucht … Ich war in mehreren Theatern gewesen … Im Hippodrom, wohin sie an den Abonnementstagen zu gehen pflegte, hatte ich alle Logen durchsucht … In diesem großen Raume mit seinem blendenden Lichtmeer und seinem brausenden Orchester, das eine traurige und schmachtende Melodie spielte, hatte die Spannung meiner Nerven nachgelassen … ich weinte still vor mich hin … Ich hatte mich verschiedenen Männergruppen genähert, in der Hoffnung sie von Juliette sprechen zu hören, etwas Näheres über sie zu erfahren … Und von jedem der jungen Stutzer in schwarzem Frack, dachte ich:

»Der da ist vielleicht ihr Liebhaber!«

Was that ich hier? … Es schien, als sei es mein Schicksal, immer und überall herumzulaufen, auf dem Trottoir zu leben, vor den Thüren der berüchtigtsten Orte, um dort Juliettens Kommen zu erwarten! … Vor Erschöpfung beinahe umsinkend, mit brummendem Kopfe, schwankenden Knieen irrte ich, da ich Juliette nirgends gefunden, von neuem in den Straßen umher. Und ich wartete! … Worauf? … Ich wußte es nicht … Ich erwartete alles, und ich erwartete nichts … Ich war da, um mich ihr wieder aufzuopfern, oder um ein Verbrechen zu begehen … Ich hoffte, daß Juliette allein nach Hause kommen würde … Dann wollte ich zu ihr gehen, ihr Herz rühren … Ich fürchtete mich davor, sie mit einem Manne kommen zu sehen … ich würde sie vielleicht töten, dann … Ich überlegte mir nichts im voraus … Ich war da, das war alles! … Um sie besser überrumpeln zu können, versteckte ich mich in eine Ecke, in der Pforte des Nachbarhauses.

Von dort aus konnte ich alles beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, wenn es mir nicht paßte. Die Wartezeit dauerte nicht lange. Ein Fiaker kam vom Faubourg Saint-Honoré angefahren und bog in die Rue de Balzac ein, fuhr quer herüber nach meiner Seite und hielt, hart an das Trottoir hinfahrend, vor Juliettens Hause an! … Mein Atem ging schwer … ich zitterte am ganzen Körper … Juliette stieg zuerst aus … ich erkannte sie wieder … Sie hüpfte leicht über das Trottoir, und ich hörte, wie sie die Glocke zog … Darauf stieg ein Mann aus – es schien mir, als müßte ich den Mann ebenfalls kennen … Er hatte sich der Straßenlaterne genähert und wühlte in seinem Portemonnaie umher, nahm einige Geldstücke heraus, die er in ungeschickter Weise, mit erhobenem Ellbogen, beim Lichte besah … Und sein Schatten breitete sich groß und eckig und unförmlich auf der Straße aus! … Ich wollte auf ihn losstürzen … Aber eine furchtbare Schwere in allen Gliedern hielt mich wie festgenagelt an der Stelle … Ich wollte schreien … der Laut erstickte in der Kehle … Ich hatte die Empfindung, als verließe mich das Leben … Da raffte ich mit übermenschlicher Anstrengung meine letzten Kräfte zusammen und verließ schwankend die Pforte … Inzwischen hatte man Julietten aufgemacht, die mit den Worten: »Na, kommen Sie?« im Hause verschwunden war …

Der Mann wühlte noch immer in seinem Portemonnaie …

Es war Lirat! … Wenn der Himmel eingefallen und die Häuser über meinem Kopfe zusammengebrochen wären, hätte ich nicht bestürzter sein können! … Lirat fuhr mit Juliette nach Hause! … Es konnte nicht sein! … Ich war verrückt! … Ich ging auf ihn zu.

»Lirat!« schrie ich auf, »Lirat! …«

Er hatte den Kutscher endlich bezahlt und sah mich entsetzt an … Unbeweglich, mit offenem Munde und auseinandergespreizten Beinen stand er da und sah mich an, ohne ein Wort zu sprechen …

»Lirat! … Sind Sie es wirklich? … Das ist nicht möglich! Nicht wahr? … Sie sind es nicht … Sie gleichen Lirat, aber Sie sind nicht Lirat! …«

Lirat schwieg.

»Lirat, hören Sie mich … Das werden Sie nicht thun … oder ich sage, Sie haben mich nach Le Ploc'h geschickt, um mir Juliette zu stehlen! … Sie hier mit ihr! … Aber das ist ja Wahnsinn! … Lirat, erinnern Sie sich doch, was Sie mir damals von ihr erzählten … denken Sie an all die schönen Dinge, womit Sie meinen Geist genährt haben … die schönen Dinge, die Sie mir ins Herz gelegt haben! … Diese elende Dirne! … Für mich ist das gut genug, der ich nun einmal ein verlorener Mensch bin … Aber Sie! … Sie sind edel, Sie sind ein großer Künstler! … Ist es etwa, um Rache an mir zu nehmen? … Ein Mensch wie Sie rächt sich nicht in dieser Weise … er beschmutzt sich nicht! … Wenn ich nicht zu Ihnen gekommen bin, Lirat, war es, weil ich's nicht wagte, weil ich Ihren Zorn fürchtete! … Lirat, sprechen Sie zu mir … Antworten Sie mir! …«

Lirat schwieg. Juliette rief ihn, drinnen vom Korridor.

»Na, kommen Sie?«

Ich ergriff seine Hände.

»Lirat, hören Sie auf mich! … Sie hält Sie zum Narren … Verstehen Sie es denn nicht, Mensch? … Eines Tages hat sie zu mir gesagt: »Ich werde mich an Lirat rächen; für all seine Verachtung, seine hochmütige Schroffheit soll er mir büßen … und das soll lustig werden! …« Sie rächt sich, Lirat! … Sie begleiten sie jetzt hinauf, nicht wahr? … gut, und morgen, heute Abend schon, vielleicht im nächsten Augenblick wird sie Sie mit Schande hinausjagen! … Das ist es ja, was sie will, nur das, ich schwöre es Ihnen! … Ach, ich begreife alles, alles! … Sie hat Sie verfolgt … So unbedeutend, so geistlos und dumm sie auch ist, so fern sie Ihnen auch steht, so hat sie es doch verstanden Sie zu bethören … denn sie hat das Genie des Bösen, und Sie – Sie leben rein, Sie leben keusch … Jetzt tragen Sie das Gift in ihren Adern! … Aber Sie sind stark, Lirat! … Nach dem, was zwischen uns vorgefallen ist, können Sie mir das nicht anthun! … Oder, Sie sind ein schlechter Mensch, ein schmutziges Tier, Sie, den ich bewunderte, Sie auch! … Sie, ein schmutziges Tier? … Nimmermehr! …«

Lirat machte sich gewaltsam aus meinen Armen los. Indem er mich mit seinen beiden geballten Fäusten zurückstieß, rief er:

»Nun denn! … So bin ich ein schmutziges Tier! … Lassen Sie mich! …«

Ich hörte ein dumpfes Geräusch, das in der Nacht wie Donnergeroll wiederhallte … Es war die Pforte, die hinter Lirat ins Schloß fiel … Die Häuser, der Himmel, die Laternen, die Straße, alles drehte sich, drehte sich im Kreise um mich … Und ich sah und hörte nichts mehr … ich breitete die Arme aus und schlug auf das Trottoir hin …

Da gewahrte ich, inmitten friedlicher Gefilde, einen Weg, einen sonnenüberfluteten Weg, auf dem ein müder Mensch langsam vorwärtspilgerte … Der Mensch konnte sich nicht satt sehen an dem schönen Getreide, das in der Sonne reifte, an den weiten Wiesen, auf dem die Viehherden ruhig weideten, die Mäuler in das hohe Gras vergraben … Die Apfelbäume streckten ihm ihre Zweige voll goldroter Früchte entgegen, und die Quellen rieselten sanft aus mosigem Grün hervor … Er setzte sich auf den Abhang eines Hügels, welcher an der Stelle mit lieblichen, duftenden Blumen bewachsen war und lauschte entzückt der göttlichen Sprache der Dinge um ihn her … Von allen Seiten murmelten leise Stimmen, Stimmen, die aus der Erde kamen, Stimmen, die vom Himmel herniederschwebten, ihm sanft entgegen: »Komme zu uns, Du, der Du gelitten hast … Wir sind die Trösterinnen, die den armen Menschen die Ruhe der Seele und den Frieden des Gewissens wiedergeben … Komme zu uns, Du, der Du leben willst!« … Und der Mensch hob seine Arme zum Himmel empor und flehte: »Ja, ich will leben! … Was soll ich thun, um nicht mehr zu leiden? Was soll ich thun, um nicht mehr zu sündigen?« Die Bäume rauschten, das Korn bewegte seine Halme hin und her, aus jedem Gras, aus jedem Kraut stieg ein leises Flüstern. Die Blumen schaukelten ihre zarten Kelche an der Spitze der schlanken Stengel, und aus allen Dingen erhob sich eine Stimme, eine volltönende Stimme: »Uns lieben!« sagte sie … Der Mensch nahm seinen Weg wieder auf … Um ihn herum zwitscherten die Vögel lustig …

Am folgenden Tage kaufte ich mir einen Arbeiteranzug.

»Der Herr wollen abreisen?« fragte mich der Kellner im Hotel, dem ich meine alte Lumpen geschenkt.

»Ja, mein Freund!«

»Und wohin gehen der Herr?«

»Ich weiß es nicht …«

Auf der Straße machten mir die Menschen den Eindruck von verrückten Gespenstern, von sehr alten Skeletten, die aus den Fugen gingen, deren Knochen, schlecht mit einem Stückchen Bindfaden zusammengehalten, mit seltsamem Gerassel auf das Pflaster fielen. Ich sah, wie die Schädel auf den zerbrochenen Rückenwirbeln lose wackelten, wie sie über dem ausgerenkten Schlüsselbein hingen, wie die Arme sich vom Rumpf lösten, der Rumpf sich von den Rippen … Und alle diese Stücke von menschlichen Körpern, denen der Tod das Fleisch geraubt, fielen über einander her, immer noch vom Fieber des Mordens getrieben, immer noch vom Fieber der Wollust gepeitscht und stritten sich um unsaubere Beute …

Noirmoutier, November 1886.

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