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XI.

Juliette hatte mir im Faubourg Saint-Honoré, dicht neben der Rue de Balzac ein Zimmer ausgesucht, im zweiten Stock eines kleinen Hotel garnis. Die Möbel waren schief, die Tapeten verschossen, die Schubläden ächzten, wenn man sie herauszog, ein scharfer Geruch von saurem Holz, von altem Staub haftete den Fenstervorhängen und den Bettdraperien an; aber sie hatte es verstanden, dadurch, daß sie hie und da einige Nippsachen aufstellte, diesem banalen und kalten Zimmer, in dem so viele unbekannte Existenzen sich aufgehalten ohne eine Spur zu hinterlassen, ein traulicheres Aussehen zu verleihen. Juliette hatte auch darauf bestanden, selber meine Sachen in den Schrank einzukramen, die sie mit Veilchenwurzelpulver parfümierte.

»Du siehst, Schatz … hier liegen Deine Socken … dort oben Deine Nachthemden … Deine Taschentücher sind hier … Ich hoffe, daß Deine kleine Frau es hübsch ordentlich gemacht hat, gelt? … Und dann werde ich Dir jeden Tag eine Blume mitbringen, die schön riecht … Sei nicht traurig, Schatz … Wiederhole es Dir immer und immer, daß ich nur Dich liebe, daß ich oft kommen werde … Ach, ich habe ja Deine Unterhosen vergessen! … Ich werde sie Dir durch Célestine schicken; meine Photographie in dem schönen roten Plüschrahmen ebenfalls … Und laß Dir die Zeit nicht lang werden, armer Kleiner! … Weißt Du, wenn ich heute abend bis halb Eins nicht gekommen bin, brauchst Du mich nicht zu erwarten … Nun leg' Dich zu Bett … Schlafe schön … Das versprichst Du mir, gelt?«

Und nachdem sie einen letzten Blick auf das Zimmer geworfen, ging sie.

Wirklich kam Juliette jeden Tag zu mir auf dem Wege zum Bois, und wenn sie heimkehrte, vor dem Diner. Sie blieb nur zwei Minuten, fieberig und eilig wieder hinaus zu kommen; sie hatte eben nur Zeit mich zu küssen und den Schrank zu öffnen, um nachzusehen, ob auch Alles darin in Ordnung sei.

»So, nun gehe ich! … Sei nicht traurig … ich sehe, Du hast wieder geweint … Das ist nicht hübsch von Dir! Weshalb willst Du mir Kummer machen?«

»Juliette! werde ich Dich heute abend sehen … Ach ich bitte Dich so sehr darum, kommst Du heute abend?«

»Heute abend?«

Sie überlegte einen Augenblick.

»Heute abend? ja, mein Schatz … Aber erwarte mich lieber nicht zu fest … Nun leg Dich zu Bett … Schlafe schön … Und vor allem weine nicht … Du bringst mich zur Verzweiflung damit! … Wahrhaftig, man weiß nicht, was man mit Dir anfangen soll!«

Und so lebte ich dahin, den ganzen Tag ausgestreckt auf meinem Sopha liegend, die Minuten zählend, die langsam, langsam, Tropfen für Tropfen in die Ewigkeit des Wartens niederfielen. Fast nie ging ich aus.

Auf den rasenden Aufruhr meiner Sinne war eine große Erschlaffung gefolgt … Ich blieb ganze Nachmittage liegen, ohne mich zu rühren, mit zerschlagenem Körper, trägen Gliedern und nebeligem Gehirn, wie am Tage nach einem Rausch. Mein Leben glich einem schweren Schlaf, von qualvollen Träumen durchkreuzt, von jähem Erwachen unterbrochen, das noch qualvoller war als die Träume. In der gänzlichen Vernichtung meines Willens, in der Auflösung meiner Intelligenz empfand ich das Grauenvolle meines moralischen Verfalls nur noch lebhafter und schmerzlicher. Dazu kam, daß Juliettens Leben eine beständige Angst in mir hervorrief. Wie ehedem auf der Düne des Fischerdorfes Le Ploc'h war es mir nicht möglich das Bild der Beschmutzung, das immer größer und deutlicher wurde, immer grausamere Formen annahm, zu verjagen … Ein Wesen zu verlieren, das man liebt, von dem alle unsere Freuden herstammen, das in unserem Andenken lebt, nur verknüpft mit Erinnerungen an Glück, ist ein herzzerreißender Schmerz … Aber wo ein Schmerz ist, da ist auch ein Trost, und das Leid schlummert ein, in gewisser Weise eingelullt von seiner eigenen Zärtlichkeit … Ich hingegen verlor Juliette an jedem Tage, in jeder Stunde, jeder Minute von neuem und an diesen suksessiven Tod, an diesen Tod ohne Buße und Reue, konnte ich nur martervolle und besudelte Erinnerungen knüpfen. Vergebens suchte ich im aufgewühlten Schlamm unserer beiden Herzen eine einzige Blüte, eine noch so unscheinbare Blüte, deren Duft für mich erquickend einzuatmen gewesen wäre, ich fand sie nicht … Trotzdem faßten meine Gedanken nichts als Juliette. Sie war der Ausgangspunkt und das Resultat meines ganzen Denkens; und je mehr sie mir aus den Händen glitt, je eifriger war ich darauf versessen, sie um jeden Preis der Welt zurückzuerobern. Zwar hoffte ich nicht sie ihrem jetzigen ausschweifenden Leben zu entreißen, dazu war sie zu tief hineingekommen; allein ich hörte nicht auf, ihr und mir zum Trotz, Pläne für eine bessere Zukunft zu machen. Ich wiederholte mir immer wieder: »Es ist unmöglich, daß sie nicht eines Tages von Ekel erfaßt wird, daß in ihrer Seele nicht eines Tages der Schmerz, die Reue und das Mitleid wach werden; dann wird sie zu mir zurückkehren. Wir wollen dann eine kleine Arbeiterwohnung mieten, und ich will arbeiten, arbeiten wie ein Sträfling … Ich schreibe für die Zeitungen, veröffentliche Romane und flehe gute Menschen an, mich als Abschreiber zu beschäftigen … Ach! ich bemühte mich an alles das zu glauben, um den Zustand der Erniedrigung und Demütigung, in dem ich lebte, etwas zu verringern … Von dem Ertrag des Verkaufs der beiden Studien Lirats, einiger Juwelen, die ich noch besaß und meiner Bücher, hatte ich eine Summe von viertausend Franken zusammengespart, die ich sorgfältig für diese Chimäre aufhob … Einmal, als Juliette sinnend und zärtlicher als gewöhnlich neben mir saß, wagte ich es, ihr meinen wunderbaren Plan mitzuteilen … Sie schlug in die Hände vor Freuden.

»Ja! Ja! … Ach, wie wird das lustig werden! … Eine ganz, ganz kleine Wohnung! … Ich werde kochen, hübsche Mützen tragen und eine fixe Schürze vorbinden! … Aber mit Dir ist es unmöglich! Wie schade! … Es ist rein unmöglich!«

»Weshalb denn?«

»Weil Du nicht arbeiten wirst, mein Schatz, weil wir Hungers sterben müssen … Das ist nun einmal Deine Natur! … Hast Du in Le Ploc'h gearbeitet? … Arbeitest Du jetzt vielleicht? … Nein, Du hast nie gearbeitet und wirst nie arbeiten! …«

»Kann ich's denn? … Weißt Du denn nicht, daß mich der Gedanke an Dich keinen Augenblick verläßt? … Es ist das Unbekannte in Deinem Leben, es ist der giftige Schmerz alles dessen, was ich von Deinem Treiben ahne und fühle, was an mir nagt, mich verzehrt und mir das Mark aus den Knochen frißt! … Wenn Du nicht hier bist, weiß ich nicht wo Du bist, aber trotzdem bin ich, wo Du bist, immer, immer! … Ach! wenn Du wolltest! … Dich neben mir zu wissen, liebevoll und ruhig, weit weg von allem was schmutzig ist, von allem was martert! … Glaube mir, ich würde die Kraft eines Gottes haben! … Geld! … Geld? ich würde es scheffelweise, karrenweise verdienen! … Ach, Juliette! wenn Du wolltest! wenn Du wolltest! …«

Sie blickte mich groß an, erregt durch das mächtige Geräusch von Goldstücken, die meine Worte vor ihren Ohren klingen ließen.

»Schön, verdiene gleich und viel, lieber Schatz! … Ja, eine große Menge! … Und denke nicht an die häßlichen Dinge, die Dir wehe thun … Die Männer sind doch zu komisch! … Das will und will nicht verstehen!«

Sie setzte sich zärtlich auf meinen Schoß.

»Da Du es doch bist, den ich anbete, mein einziger Schatz! … Da ich die Anderen verabscheue, und sie nichts von mir haben, verstehst Du, Nichts! … Da ich sehr unglücklich bin! …«

Die Augen voller Thränen drückte sie sich dicht an mich an, suchte sich in meinen Armen ganz klein zu machen und wiederholte: »Ja, sehr, sehr unglücklich!« Ich fühlte Grauen und Mitleid mit ihr …

»Ah, er glaubt, daß es zum Vergnügen ist, das glaubt er! … Aber hätte ich meinen Jean nicht, um mich zu trösten, um mich in seinen Armen zu wiegen, und mir Mut einzureden, könnte ich nicht mehr, nein … ich könnte nicht … dann lieber sterben!«

Mit einem plötzlichen Abspringen der Gedanken und einer Stimme, in der es mir schien, als hörte ich das Bedauern deutlich heraus, sagte sie:

»Übrigens … was die kleine Wohnung anbetrifft … so müssen wir das Geld dazu haben … und Du hast ja keines!«

»Doch, Liebste! … Doch!« rief ich triumphierend aus, »ich habe Geld! … Wir haben genug um zwei bis drei Monate zu leben, so lange bis ich mir ein Vermögen erworben habe!«

»Du hast Geld? … Laß sehen.«

Ich breitete die vier Tausendfrankscheine, einen nach dem anderen, vor ihr aus. Juliette nahm sie in die Hände, zählte sie eifrig nach und untersuchte sie. Ihre Augen leuchteten erstaunt und entzückt.

»Viertausend Franken, mein Schatz! … Was, Du hast viertausend Franken? … Aber Du bist ja reich! … Dann …«

Sie umarmte mich mit liebekosender Schmeichelei.

»Dann« fuhr sie fort, »da Du so reich bist … Ich hab in der Rue de la Paix ein Reisenecessaire gesehen, das ich furchtbar gern haben möchte! … Bitte, kaufe es mir, Schatz, willst Du? …«

Es gab mir einen so jähen, schmerzlichen Stoß ins Herz, daß ich beinahe umgefallen wäre, und eine Thränenflut machte meine Augen erblinden. Dennoch hatte ich den Mut zu fragen:

»Was kostet es denn, Dein Necessaire?«

»Zweitausend Franken, Schatz.«

»Gut! … Nimm sie … Du kannst es Dir selber kaufen.«

Juliette küßte mich auf die Stirn, nahm zwei Scheine hin, die sie eilig in die Tasche ihres Mantels steckte, und mit einem Blick auf die übrigen zwei, die sie ohne Zweifel bedauerte, mir nicht abgefordert zu haben, sagte sie:

»Wahrhaftig? … Du willst? … Das ist hübsch von Dir! … Siehst Du, wenn Du jetzt nach Le Ploc'h zurückkehrst, besuche ich Dich mit meinem neuen Reisenecessaire, gelt?«

Als sie gegangen war, überließ ich mich einer heftigen Wut gegen sie, aber vor allem gegen mich selbst, und als die Empörung sich gelegt hatte, wunderte ich mich darüber, daß ich, ganz plötzlich, nicht mehr litt … Ja wirklich, ich atmete freier auf, ich streckte die Arme mit kräftiger Geberde aus, ich verspürte in den Kniekehlen eine neue Elasticität; kurzum, es war, als ob jemand mir die drückende Last, die ich seit langem getragen, von den Schultern genommen hätte. Ich empfand eine lebhafte Freude dabei, meine Glieder zu recken, meine Muskeln spielen zu lassen, meine Nerven zu spannen – ein Zustand wie der ungefähr, wenn man morgens aus dem Bette springt … Und erwachte ich denn nicht auch aus einem Schlaf, der ebenso tief wie der Todesschlaf gewesen? Aus einer Art von Katalepsie, in der mein erstarrtes Wesen den Alp des Nichtseins kennen gelernt? …

Ich war wie ein Verschütteter, der das Licht wieder erblickt, wie ein Verhungerter, dem man ein Stück Brot darreicht, wie ein zum Tode Verurteilter, der begnadigt wird … Ich ging ans Fenster und schaute auf die Straße hinab. Die Sonne beschien in goldenem Rechteck die Häuser mir gegenüber; auf dem Trottoir eilten geschäftige Menschen, mit glücklichen Gesichtern, vorüber; die Wagen kreuzten sich lustig auf der Fahrstraße … Die Regsamkeit, die Aktivität, das Geräusch des Lebens berauschten, begeisterten und rührten mich, und ich brach in die Worte aus:

»Ich liebe sie nicht mehr! Ich liebe sie nicht mehr!«

Im Verlauf einer Sekunde blitzte in mir die deutliche Vision eines neuen, arbeitsamen und glücklichen Daseins auf. Ich wollte mich von diesem Schmutz reinigen, wollte meinen unterbrochenen Jugendtraum wieder aufnehmen. Aber nicht allein, daß ich meine verlorene Ehre wieder einlöste, nein, jetzt wollte ich den Ruhm erobern, ich wollte einen so großartigen, so unangefochtenen, so durch alle Welten verbreiteten Ruhm erobern, daß Juliette vor Ärger bersten sollte, einem solchen Menschen wie mich verloren zu haben. Ich sah mich schon im Geiste vor der Nachwelt in Bronze und Marmor dastehen, auf Säulen und symbolistische Postamente gehoben, die künftigen Jahrhunderte mit meinem unsterblichen Bilde erfüllend. Und was mich vor allem erfreute, war der Gedanke, daß Juliette auch nicht das geringste Teilchen von diesem meinem Ruhme erhalten würde, daß ich sie unbarmherzig aus dem Strahlenkreise meiner Sonne hinausstoßen würde.

Ich stieg die Treppen hinab, und zum ersten Male seit mehr als zwei Jahren war es mir ein köstliches Vergnügen, mich auf der Straße zu befinden … Ich ging mit schnellen Schritten, mit geschmeidigen Gliedern und sieghafter Haltung, das geringfügigste Schauspiel interessierte mich und kam mir wie etwas neues vor. Und ich fragte mich betroffen, wie es möglich gewesen, daß ich so lange hatte unglücklich sein können, daß meine Augen sich der Wirklichkeit nicht früher erschlossen hatten … Ah, diese verächtliche Juliette! … Wie hat sie über meine Unterwürfigkeit, meine Verblendung, mein Mitleiden, meine unbegreiflichen Verrücktheiten lachen müssen! Ich zweifelte nicht daran, daß sie ihren zufälligen Liebhabern von meinen idiotischen Schmerzen erzählte, und daß sie sich gegenseitig zur Liebe aufregten, indem sie sich über mich lustig machten! …

Aber ich werde mich an ihr rächen und meine Rache soll furchtbar werden! … Bald sollte Juliette winselnd mir zu Füßen liegen und mich um Gnade anflehen.

»Nein, nein, Elende, niemals! … Hast Du mich getröstet, wenn ich weinte? … Hast Du mir einen einzigen Schmerz erspart? … Hast Du einen einzigen Augenblick eingewilligt, Dich in mein Unglück zu fügen und mein Leben zu leben? … Du bist nicht wert an meinem Ruhm teil zu nehmen … Nein … geh!«

Und um ihr meine unbegrenzte Verachtung zu bezeugen, würde ich ihr Millionen ins Gesicht werfen.

»Sieh her! … Willst Du Millionen? … Sieh, Millionen über Millionen!«

Juliette wird verzweifelt die Hände ringen; sie wird rufen:

»Hab Mitleiden, Jean! … hab Mitleiden … Oh, ich will kein Geld! … Was ich wünsche, ist ganz verborgen, ganz klein in Deinem Schatten zu leben, glücklich, wenn nur ein einziger Strahl des Sonnenlichts, das Dich umgiebt, eines Tages auf Deine arme Juliette scheint … Hab Mitleiden!«

»Hast Du Mitleid mit mir gehabt, als ich Dich um Gnade anflehte? … Nein! … Dirnen, wie Du, jagt man mit Gold zu Tode! … Sieh her! wieder Millionen! … Sieh her! Millionen! Millionen!«

Ich ging mit großen Schritten, laut sprechend, mit der Hand eine Geberde machend, als würfe ich Millionen in den leeren Raum hinaus.

»Sieh her, Elende; sieh her!«

Trotzdem war meine Kaltblütigkeit bei dem Gedanken an Juliette nicht so groß, daß nicht jede Frau, die ich gewahr wurde, mich in Unruhe versetzt und ich das Innere der Wagen, die unaufhörlich an mir vorbeifuhren nicht mit ungeduldigen Blicken untersucht hätte … Als ich auf dem Boulevard anlangte, verließ mich meine Zuversicht, und die alte Angst packte mich von neuem. Von neuem fühlte ich auf meinen Schultern die unerträgliche Last; der gierige Raubvogel, den ich für immer verjagt zu haben glaubte, stieß wieder auf mich nieder und bohrte seine Krallen noch grimmiger und tiefer als je in mein armes Fleisch … Dazu hatte allein der Anblick der Theater und der Restaurants genügt, dieser fluchbeladenen Orte, die voll der quälenden Geheimnisse in Juliettens mir unbekanntem Leben waren … Die Theater sagten zu mir: »Diese Nacht war Deine Juliette hier; während Du sie stöhnend riefst und schmerzlich ihrer harrtest, prangte sie in einer Loge, blumengeschmückt und glücklich, ohne einen Gedanken für Dich übrig zu haben.« Die Restaurants sagten: »Diese Nacht war Deine Juliette hier … mit Augen, die trunken vom Rausch der Ausschweifung waren, hat sie sich auf unsere Divans gewälzt, und Männer, die nach Wein und Cigarren rochen, haben sie besessen.« Und alle die jungen eleganten und flotten Spaziergänger, denen ich begegnete, sagten ebenfalls: »Wir kennen sie, Deine Juliette … Trägt sie Dir wohl etwas von dem Gelde zu, das sie uns kostet?« Jedes Haus, jeder Gegenstand, jede Bethätigung des Lebens, Alles, rief mir mit grinsenden Fratzen zu: »Juliette! Juliette!« Der Anblick der Rosen in den Blumenläden war mir eine Qual, und ich verfiel in Wut allein beim Anschauen der reichen Läden mit ihren Auslagen von ausfallenden, die Kauflust anregenden Sachen. Es schien mir, als wende Paris seine ganze Kraft an, als entfalte es seinen ganzen Reiz, einzig und allein um mir Juliette zu rauben. In mir stieg der Wunsch auf, diese Riesenstadt möchte durch irgend eine Katastrophe untergehen, verschwinden, und ich bedauerte, daß die rächenden Zeiten der Commune, in denen man auf den Straßen Petroleum vergoß und Tod um sich verbreitete, vorbei waren … Ich kehrte in mein Hotel zurück …

»Ist Niemand da gewesen?« fragte ich den Portier.

»Niemand, Herr Mintié.«

»Briefe auch nicht?«

»Nein, Herr Mintié?«

»Sind Sie sicher, daß Niemand während meiner Abwesenheit zu mir hinaufgestiegen ist?«

»Der Schlüssel da ist keinen Augenblick von seiner Stelle genommen, Herr Mintié!«

Ich kritzelte mit einem Bleistift folgende Worte auf meine Karte:

»Ich will Dich sehen.«

»Tragen Sie das nach der Rue de Balzac.«

Ungeduldig und nervös wartete ich draußen auf der Straße; der Portier kam bald wieder zurück.

»Das Kammermädchen gab mir den Bescheid, die gnädige Frau seien noch nicht nach Hause gekommen.«

Es war sieben Uhr … Ich ging in mein Zimmer hinauf und streckte mich auf das Kanapee aus.

»Sie wird nicht kommen … Wo ist sie? Was macht sie? …«

Ich hatte kein Licht angezündet … Durch die Fenster, die von den Straßenlaternen erleuchtet wurden, stahl sich ein unsicheres Licht in das Zimmer hinein und warf einen gelben, zitternden Schein auf die Decke, gegen den sich der Schatten der Gardinen abzeichnete … Und die Stunden verstrichen, langsam, endlos, so langsam und endlos, daß man meinen konnte, die Zeit habe plötzlich aufgehört vorwärts zu schreiten.

»Sie wird nicht kommen!«

Von der Straße her drang das ununterbrochene Geräusch der Wagen zu mir herauf; die Omnibusse kamen schwerfällig daher, die müden Fiaker rasselten langsam vorüber, und die Coupés flogen leicht und schnell weiter …

Wenn eins von den letzteren hart an das Trottoir heran streifte, und sein schnelles Fahren aufhörte, stürzte ich ans Fenster, das ich halb offen gelassen und beugte mich nach der Straße hinab … Aber kein Wagen hielt an.

»Sie wird nicht kommen!«

Und trotzdem – während ich mir sagte: »Sie wird nicht kommen!« hoffte ich dennoch, Juliette werde in wenigen Minuten da sein … Wie oft schon hatte ich mich auf das Kanapee geworfen und ausgerufen: »Sie wird nicht kommen«, und trotzdem war Juliette gekommen!

Wie oft hatte ich, gerade in dem Augenblick, wenn meine Verzweiflung sich aufs Höchste gesteigert hatte, einen Wagen anhalten hören, Schritte auf der Treppe, ein Geräusch auf dem Korridor – und Juliette war erschienen, lächelnd, in großer Toilette, das Zimmer mit einem starken Parfüm und einem leichten Rauschen von knitternder Seide erfüllend.

»So, nun nimm Deinen Hut, Schatz.« Gereizt durch den Anblick dieses heitern Lächelns, dieser reichen Toilette, durch den Geruch ihres Parfüms, erzürnt über das lange Warten, konnte ich sie dann oft hart anfahren.

»Wo bist Du gewesen? in welchem Schmutze hast Du Dich herumgetrieben? … in welchem Schmutzloch, sag'?«

»Oh, eine Szene? … Dafür danke ich … Da geh' ich lieber gleich … Allein, so viel will ich Dir nur sagen, mein Freund: ich habe mir alle erdenkliche Mühe gegeben, um mich heute frei zu machen und zu Dir zu kommen.«

Aber mit geballten Fäusten und krampfhaft zuckenden Muskeln brüllte ich:

»So geh' doch, geh! … scher' Dich zum Teufel, Weib! … Und komme nie, nie wieder her!«

Kaum hatte sie indessen die Thür hinter sich zugemacht, so lief ich ihr nach.

»Juliette! Juliette!«

Sie stieg die Treppe hinunter, ohne den Kopf umzuwenden.

»Juliette! … komm herauf! Ich bitte Dich! … Juliette … warte, ich gehe mit Dir.«

Aber sie setzte ihren Weg fort, ohne mich zu beachten … Ich holte sie ein.

Als ich dicht neben ihr stand, neben diesem Kleide, diesen Federn, diesen Blumen und Juwelen, packte mich die Wut aufs neue.

»So, nun gehst Du augenblicklich mit hinauf, oder ich zerschmettre Dir den Schädel gegen diese Stufen.«

Und oben im Zimmer angelangt, fiel ich auf die Kniee vor ihr.

»Ja, meine kleine Juliette, ja ich bin im Unrecht, ich bin im Unrecht! … Aber ich leide zu sehr! … Hab' ein wenig Mitleiden mit mir! … Wenn Du wüßtest, in welcher Hölle ich lebe! … Wenn Du mit Deinen Händen mir das Herz aus der Brust reißen und sehen könntest, was drin steckt! … Juliette! … Ach! ich kann nicht, ich kann nicht mehr so leben wie jetzt! … Ein Tier würde Mitleid empfinden, ich versichere Dich! … Ja, ein armes Tier würde Mitleid haben!« Ich drückte ihre Hände, ich küßte ihr Kleid.

»Meine Juliette! … ich habe Dich nicht totgeschlagen … und doch hätte ich das Recht dazu gehabt, das schwöre ich Dir … ich habe Dich nicht totgeschlagen! … Das müßtest Du mir hoch anrechnen … Es liegt Heroismus darin, denn Du weißt es nicht und kannst es nicht wissen, welch' furchtbare Rachegedanken ein Mann, der leidet und einsam ist, beständig einsam, ausfinden kann. Ich habe Dich nicht totgeschlagen! … Sieh, ich hoffte ja; ich hoffe noch immer! … Kehre zurück zu mir! Alles soll vergessen sein, alles ausgelöscht sein, meine Schmerzen, meine Schmach … für mich sollst Du fortan die reinste, die strahlendste der Jungfrauen sein … Wir wollen nach einem entlegenen Ort ziehen … wohin Du willst … Ich will Dich heiraten! … Du willst nicht? … Du glaubst vielleicht, ich sagte das nur, um mir Deinen Besitz zu sichern, Dich ausschließlich für mich zu haben? … Schwöre mir, daß Du Dein Leben ändern wirst, und ich töte mich auf der Stelle, da, vor Dir! … Höre mich an: ich habe alles für Dich geopfert! … Ich rede nicht von meinem Vermögen … aber von dem, was einst der Stolz meines Lebens war, meine Mannesehre, meine Künstlerträume, alles habe ich, ohne ein Bedauern, für Dich hingegeben … Nun mußt Du mir Deinerseits auch ein Opfer bringen können … Und was ist es denn, um das ich Dich bitte? Nichts … Das Glück zu genießen, eine anständige und gute Frau zu sein … Ein Opfer zu bringen, meine Juliette, ist so groß, so edel! … Ach, wenn Du sie kenntest, die Wonne des Sichaufopferns! … Juliette, höre mich, Malterre ist noch immer reich! … Er ist ein braver Mensch, besser als die anderen, denn er hat Dich wahrhaft geliebt … Ich will zu ihm gehen, ich werde ihm sagen: »Sie allein können Juliette retten, sie aus der Welt emporziehen, in der sie lebt … Kehren Sie zurück zu ihr … und fürchten Sie nichts von mir … ich werde verschwinden …« Willst Du Juliette? …«

Juliette sah mich mit unverhohlenem Erstaunen an. Ein unruhig-besorgtes Lächeln umspielte ihre Lippen … Sie murmelte:

»Lieber Schatz, Du sagst da Dummheiten … Komm mit und weine nicht!«

Ich folgte ihr, indem ich stöhnend fortfuhr: »Ein Tier würde Mitleid haben … Ja, ein Tier …«

Zu anderen Zeiten schickte sie Célestine, um mich zu sich in ihre Wohnung zu holen, und ich fand sie dann im Bette liegend, von frischem Aussehen, aber traurig und matt. Ich begriff, daß jemand vor kurzem bei ihr gewesen, jemand, der eben fortgegangen war. Ich sah es an Juliettens zärtlicherem Blick, an allem, was sie umgab, am Bett, das frisch gemacht, an ihrer Toilette, die mit einer zu ängstlichen Sorgfalt wieder in Ordnung gebracht war, an allen ausgelöschten Spuren, die ich in ihrer schmerzlichen und entsetzlichen Wirklichkeit doch überall wieder hervortreten sah. Ich hielt mich dann zögernd im Toilettenkabinett auf, durchwühlte die Schubladen, befragte die Gegenstände, indem ich mich zu einer niedrigen Untersuchung der intimsten Sachen herabließ. – Von Zeit zu Zeit rief mich Juliette aus ihrer Kammer:

»So komm doch, lieber Schatz! … Was machst Du denn dadrinnen?«

Oh, mir sein Bild Zug für Zug vorstellen zu können! etwas vom Geruch seines Körpers verspüren zu können! … Ich sog die Luft mit weitgeöffneten Nasenflügeln ein und meinte darin den Wohlgeruch von kräftig-männlicher Ausdünstung zu unterscheiden; es schien mir, als gewahrte ich an der Wand den länglichen Schatten eines gewaltigen Rumpfes, als erblickte ich dort Athletenschultern, Heldenarme, nervige, behaarte Schenkel mit schwellenden Muskeln.

»Kommst Du bald? …« rief Juliette …

In solchen Nächten redete Juliette von nichts anderem, als von der Seele, vom Himmel, von den Vögeln; sie hatte dann ein starkes Bedürfnis nach ideellen Gefühlen, nach himmlischen Träumereien … Sie lag in meinen Armen, so zärtlich, so unberührt wie ein Kind und seufzte:

»Oh, wie wohl ich mich fühle! … Sprich mir von schönen Dingen, mein Jean, von zarten Dingen, wie sie in Gedichten vorkommen … Ich habe Deine Stimme so lieb … es sind so harmonische Töne darin … sprich lange mit mir … Du bist so gut, Du verstehst es, mich zu trösten … Ich möchte immer so leben, immer in Deinen Armen liegen, mich nicht von der Stelle rühren und Dir immer gehören! … Weißt Du, was ich auch möchte? … Ah, wie oft träume ich davon! … Ein kleines Mädchen von Dir haben, das wie ein kleiner Engel aussähe, rosig und blond! … Dann würde ich sie nähren! … und sie mit hübschen Schlafliedern einlullen! … Mein Jean, wenn ich tot bin, wirst Du in meinem Schmuckkasten ein kleines rosa Heft finden, mit goldenen Randverzierungen … Das ist für Dich bestimmt … Das sollst Du hinnehmen … Ich habe darin meine Gedanken niedergeschrieben, und Du wirst daraus sehen, wie ich Dich geliebt habe! … Du wirst sehen! … Ach, morgen muß ich aufstehen und ausgehen, wie langweilig! Wiege mich in Schlaf, sprich zu mir, sage mir, daß Du meine Seele liebst, meine Seele! …«

Und sie schlief in meinen Armen ein und sah so weiß, so rein aus, daß die weißen Bettgardinen ihre Flügel hätten sein können.

Die Nacht rückte heran; die Straßen wurden ruhig … Von Zeit zu Zeit hörte man einen verspäteten Wagen vorüberfahren, und auf dem Trottoir gingen zwei Schutzleute mit schweren, schleppenden, immer gleichen Schritten auf und ab … Mehrere Male war die Hausthür des Hotels aufgemacht und wieder zugeschlossen worden, ich hatte öfters das Rauschen von Frauenkleidern und leise gesprochene Worte im Korridor vernommen … Aber es war nicht Juliette! … Und seit langem schon schien alles im Hotel zu schlafen … Ich erhob mich vom Kanapee, zündete ein Licht an und sah nach der Uhr; es ging auf drei … »Sie kommt nicht! … Es ist vorbei! … Wo mag sie sein? … Ist sie überhaupt diese Nacht zu Hause gewesen … Oder, in welchem Winkel dieses großen, unreinen Dunkels steckt sie?«

Was mich vor allen Dingen empörte, war, daß sie mich nicht hatte benachrichtigen lassen … Sie hatte meine Karte erhalten … sie wußte, daß sie nicht kommen würde … und sie hatte mir kein einziges Wort geschickt! … Ich hatte geweint, ich hatte sie angefleht, ich hatte zu ihren Füßen gelegen … und nun kein Wort! … Welche Thränen, welches Blut mußte man denn vergießen, um diese Seele von Stein zu rühren? … Wie konnte sie dem Vergnügen nachlaufen, die Ohren noch von meinem Schluchzen voll, den Mund noch feucht von meinen Küssen, meinen Bitten? … Die am tiefsten gesunkenen Dirnen, die verruchtesten Geschöpfe haben doch in ihrem ausschweifenden, beutegierigen Leben Augenblicke, wo sie erschrocken innehalten; es giebt doch Momente, wo sie die Sonne in ihr erstarrtes Herz dringen lassen, wo sie, die Augen gegen den Himmel emporgerichtet, die allverzeihende, die allerlösende Liebe anrufen! … Aber Juliette – nie! … Etwas Gefühlloseres als das Schicksal, etwas Unerbittlicheres als der Tod, schob sie, trieb sie und stürzte sie unaufhaltsam, ohne Rast, von der besudelnden Sinnenliebe zu der, welche Blut will, von dem, was entehrt, zu dem, was tötet! … In dem Maße, wie die Zeit verstrich, begann die Ausschweifung ihren Körper mit unauslöschlichen Befleckungen zu brandmarken. Auf ihre ursprünglich robuste und gesunde Leidenschaft war in der letzten Zeit eine lasterhafte Neugierde gefolgt, begleitet von jener wilden Nichtbefriedigung, jenem Alkoholismus der nie gesättigten Sinne, den die unregelmäßigen und sterilen Liebesvergnügen hervorrufen. Außer den Nächten, in denen die Erschöpfung die unerwarteten Formen des allerreinsten, allerunschuldigsten der Ideale annahm, verspürte ich in ihrem Wesen das Gepräge von tausenderlei verschiedener und raffinierter Korruption, tausenderlei perverser Phantasien von Greisen und Blasierten. Es entschlüpften ihr Worte und Ausbrüche, die einem jählings Aussichten auf ein Leben voll der grausigsten Beschmutzung boten, und obgleich ich, als sie mir die verzehrende Flamme ihrer Depravation gebeichtet hatte, bei der Mitteilung eine Art von höllischer, strafbarer Wollust genossen, konnte ich es nicht lassen, Juliette von Zeit zu Zeit mit Grauen und Furcht zu betrachten … Wenn ich voller Scham und Ekel aus ihren Armen schied, empfand ich das Bedürfnis, das die Verworfenen empfinden, ruhige, friedliche Schauspiele zu betrachten, und ich beneidete dann mit schneidender Reue und sehnsüchtigem Weh die hochstehenden Wesen, welche aus der Tugend, aus der Reinheit die unbeugsamen Gesetze ihres Lebens machten! … Ich träumte von Klöstern, in denen man betet, von Hospitälern, in denen man sich aufopfert … Ein wahnsinniges Verlangen bemächtigte sich meiner, in die Schmutzhöhlen hineinzudringen, wo die unglücklichen Geschöpfe zu Grunde gehen ohne ein gutes Wort zu hören, um ihnen das erlösende Evangelium zu bringen. Ich gelobte mir, nachts den Prostituierten im Schatten der engen Gassen zu folgen, sie zu trösten und ihnen mit solcher Leidenschaft, in solchen rührenden Worten von der Tugend zu reden, daß sie bewegt und hingerissen weinen würden und sagen: »Ja, ja, retten Sie uns!« … Mir that es wohl, ganze Stunden im Park Monceau zu sitzen und dem Spielen der Kinder zuzusehen; ich entdeckte eine Unendlichkeit von Glück in den Augen der jungen Mütter, und es befriedigte mich, in Gedanken diesen Existenzen, die der meinen so fern lagen, nachzugehen, ihre gesunden und heiligen Freuden, die ich auf immer verloren, neben ihnen, mit ihnen durchzukosten … Sonntags irrte ich auf den Bahnhöfen umher, inmitten der frohen Menschenmenge, zwischen den kleinen Beamten, den Handwerkern und Arbeitern, die mit ihrer Familie hinausfuhren, um ein wenig frische Luft für ihre geschwächten Lungen und neue Kräfte für die Anstrengungen der Woche zu gewinnen. Ich folgte den Schritten eines Arbeiters, dessen Gesichtszüge mich interessierten; ich hätte seinen resignierten Rücken, seine schwieligen Hände, die schwarz von der groben Arbeit waren, seinen schwerfälligen Gang, seine ehrlichen, guten Doggenaugen haben mögen … Ach! ich hätte alles haben mögen, was ich nicht hatte, alles sein mögen, was ich nicht war! … Diese Spaziergänge, die mir das Bewußtsein meiner Erniedrigung noch peinlicher machten, thaten mir trotzdem wohl, und ich kehrte jedesmal mit erneuten mutigen Vorsätzen zurück … Aber abends sah ich Juliette wieder, und Juliette bedeutete für mich das Vergessen jeder Ehre, jeder Pflicht …

Über den Häusern erhellte sich der Himmel mit einem schwachen Lichtschein, der den nahenden Tag ankündigte. Da gewahrte ich unten am Ende der Straße zwei glänzende Punkte, zwei Wagenlaternen, die wie zwei wandernde Gasflammen zitterten, hin und herschwankten und näher kamen … Für einen Augenblick kehrte mir die Hoffnung wieder zurück … Der Wagen rollte tanzend auf der Fahrstraße heran, die Lichter wurden größer, das Geräusch stärker … Es war mir, als hörte ich das mir so vertraute Rollen von Juliettens Coupé! … Aber nein! … Plötzlich bog der Wagen links ab und verschwand … Und in einer Stunde würde es Tag sein!

»Sie wird nicht kommen! … Nun ist es für diesmal aus, sie wird nicht kommen!«

Ich schloß das Fenster und legte mich wieder aufs Kanapee, mit klopfenden Schläfen und schmerzenden Gliedern … Vergebens versuchte ich zu schlafen … Ich konnte nur weinen, schluchzen und rufen:

»Juliette! Juliette!«

Meine Brust brannte wie Feuer, in meinem Kopfe brauste und kochte es, als sei er mit siedendheißer Lava gefüllt … Meine Gedanken verwirrten sich, wurden zu Halluzinationen … An den Wänden meines Zimmers entlang haschten sich eine Menge von kleinen Wieseln, die umhersprangen und sich liederlichen Spielen hingaben … Und ich hoffte, das Fieber würde mich niederschlagen, mich auf das Krankenbett werfen, mich hinwegraffen … Krank zu sein! … Ach, ja! lange, nein, für immer krank zu sein! … Juliette setzte sich dann neben mein Bett, sie wachte bei mir, sie hob mir den Kopf in die Höhe, um mir die Medizin einzugeben, sie begleitete den Arzt an die Thür und sagte etwas zu ihm mit leiser Stimme; und der Arzt schaute mit ernster Miene drein:

»Nein, nein, gnädige Frau … beruhigen Sie sich … alles ist noch nicht verloren!«

»Ach Doktor, retten Sie ihn, retten Sie meinen Jean!«

»Sie allein können ihn retten, gnädige Frau, denn Sie sind die Ursache seines Todes!«

»Ach, was soll ich thun? … Schnell, sagen Sie, Doktor, was soll ich thun?«

»Sie müssen ihn lieben, gut sein …« Und Juliette warf sich in die Arme des Arztes.

»Nein! Du bist es, den ich liebe … komm!« Sie zog ihn mit sich, sie hing sich an seine Lippen … und in meinem Zimmer wälzten sie sich umher, sprangen bis zur Decke hinauf und fielen verschlungen auf mein Bett zurück.

»Stirb, mein Jean, stirb, ich bitte Dich darum … Ah! … weshalb zögerst Du so lange mit dem Sterben?«

Ich war eingeschlummert … Als ich erwachte, war es heller Tag … Die Omnibusse rollten von neuem am Hause vorüber; die Straßenverkäufer stimmten ihr Morgenlied an; ich hörte, wie draußen im Korridor jemand mit einem Besen gegen meine Thür fegte.

Ich ging aus und lenkte meine Schritte nach der Rue de Balzac … In Wirklichkeit hatte ich nur die Absicht das Haus von Juliette zu sehen, ihre Fenster zu betrachten und vielleicht Célestine oder Mutter Sochard zu begegnen … Mehr als zwanzig Male ging ich wohl auf dem gegenüberliegenden Trottoir auf und ab … Die Fenster des Speisezimmers standen offen, und ich unterschied das Kupfer am Kronleuchter, das aus dem Dunkel hervorschimmerte … Auf dem Balkon hing ein Teppich … Die Fenster des Schlafzimmers waren zu … Was ging wohl vor sich hinter diesen geschlossenen Fensterläden, hinter diesem Stückchen weißer, undurchdringlicher Mauer? … Ein verwühltes, durch einander geworfenes Bett und zwei hingestreckte Körper, welche schliefen … Der eine – Juliettens Körper, und der andere? … Der Körper aller Welt. Ein Körper, den Juliette irgendwo, zufälligerweise aufgefunden, im Wirtshause oder auf der Straße! … Sie schliefen, beschmutzt von der gemeinen Wollust! … Die Pförtnersfrau von Juliettens Hause kam auf das Trottoir hinaus, um Teppiche auszustäuben. Ich entfernte mich, denn seitdem ich die Wohnung verlassen hatte, vermied ich den ironischen Blick der alten Frau; ich errötete jedes Mal, wenn meine Augen sich mit ihren zwei kleinen, geschwollenen und boshaften Augen kreuzten, die aussahen, als verhöhnten sie mein Unglück … Als sie fertig war, kehrte ich wieder zurück und blieb lange, gereizt und mit bitterem Groll vor der Mauer stehen, hinter der sich etwas Furchtbares vollzog, und die eine grausame Gleichgültigkeit zur Schau trug, gleich wie eine unbeweglich-starre Sphynx … Plötzlich wurde ich, als sei der Blitz in mich gefahren, von Kopf bis zu Fuß von einer wahnsinnigen Wut gepackt, und ohne zu überlegen was ich that, ohne auch nur ein klares Bewußtsein davon zu haben, trat ich in das Haus, stieg die Treppe hinauf und klingelte an Juliettens Thür … Es war Mutter Sochard, die mir öffnete.

»Sagen Sie Mme. Roux, daß ich sie sofort sehen will, daß ich sie sprechen will … Sagen Sie ihr: wenn sie nicht auf der Stelle zu mir käme, würde ich zu ihr kommen und sie aus dem Bett herausreißen, hören Sie? … Sagen Sie ihr …«

Mutter Sochard stammelte zitternd und leichenblaß:

»Aber mein armer Herr Mintié, Madame ist nicht hier … Madame ist heute Nacht nicht zu Hause gewesen …«

»Nimm Dich in acht, alte Hexe! … Und untersteh' Dich nicht mich zu foppen, hörst Du … Thue, was ich Dir sage! … Oder ich schlage Dich, Juliette, die Möbeln, das ganze Haus in Stücke, ich schlage Euch tot … Alle mit einander! …«

Die alte Frau hob mit angstvoller Geberde die Arme empor …

»Bei Gott! Es ist die reine Wahrheit!« rief sie … »Wie ich Ihnen sage, Madame ist heute Nacht nicht zu Hause gewesen, Herr Mintié! … Gehen Sie in ihre Kammer rein, da werden Sie es ja selber sehen! … wie ich Ihnen sage! …«

In zwei Sprüngen stürzte ich in die Kammer … die Kammer war leer … das Bett stand unberührt da. Mutter Sochard folgte mir protestierend, Schritt für Schritt nach:

»Seien Sie vernünftig, Herr Mintié! … hören Sie, seien Sie vernünftig … da Sie doch nicht mehr mit ihr zusammen sind …«

Ich ging in das Toilettenkabinett … Alles war in gewöhnlicher Ordnung, wie sonst, wenn wir abends spät heimkehrten … Juliettens Sachen lagen auf dem Divan ausgebreitet, der Kessel stand voll Wasser auf dem kleinen Gasofen.

»Wo ist sie?« fragte ich.

»Aber lieber Herr!« antwortete Mutter Sochard, »weiß ich's denn, wo Madame hingeht? … Heute morgen ist hier so'ne Art von Kammerdiener gewesen, der hat mit der Célestine gesprochen; darauf ist sie mit einem Kleid zum Umziehen für Madame abgefahren … Das ist alles, was ich weiß!«

Als ich das Kabinett durchstöberte, fand ich die Karte, die ich tags zuvor geschickt hatte.

»Hat Madame de Roux diese Karte gelesen?«

»Wahrscheinlich nicht, sollt' ich meinen.«

»Und Sie wissen nicht, wo sie ist?«

»Wahrhaftigen Gott, nein! … Madame erzählt mir ihre Angelegenheiten nicht.«

Ich ging in die Kammer zurück und setzte mich auf die Chaiselongue.

»Gut, Mutter Sochard … Ich werde sie hier erwarten … Und das kann ich Ihnen sagen, es soll lustig werden! … Ha! ha! … Sehen Sie, Mutter Sochard, schließlich muß die Geschichte doch mal ein Ende haben! … Ich habe Geduld gehabt … viel zu viel Geduld … Aber jetzt ist's genug! …«

Ich schleuderte meine geballten Fäuste ins Leere hinaus.

»Und es soll lustig werden, Mutter Sochard, das versprech' ich Ihnen … und Sie werden sich rühmen können, bei einem so lustigen Schauspiel dabei gewesen zu sein, daß Sie es nie in Ihrem Leben vergessen werden, nie in Ihrem Leben! … Nachts sollen Sie noch davon träumen, und das mit Schrecken, Mutter Sochard!«

»Ach Herr Mintié! … Herr Mintié! …« flehte die alte Frau. »Um Gottes willen, beruhigen Sie sich doch … Gehen Sie lieber Ihrer Wege! … Das wird ein Unglück geben, so viel steht fest! … Und was haben Sie vor? … Um Gottes willen, was haben Sie vor?«

In diesem Augenblick kam Spy, der seinen Korb verlassen hatte, auf seinen zierlichen Spinnenbeinchen, mit krummem Rücken auf mich zugetänzelt … und ich betrachtete Spy lange … Und ich dachte daran, daß Spy das einzige Wesen sei, das Juliette liebte, daß Spy umzubringen dasselbe sei, wie Julietten den größten Schmerz zuzufügen, den sie im stande war zu fühlen. Der Hund hob seine Pfötchen zu mir empor und versuchte auf meine Kniee hinaufzukriechen. Es war, als wolle er mir sagen:

»Wenn Du so furchtbar leidest, so bin ich nicht die Ursache davon … Dich an mir rächen zu wollen, der ich so klein, so schwach bin, Dir so vertrauensvoll entgegen komme, wäre feige! … Und außerdem, meinst Du wirklich, daß sie mich so sehr liebt? … Ich amüsiere sie wie ein Spielzeug, ich zerstreue sie für ein Stündchen, das ist alles! … Wenn Du mich heute abend totschlägst, wird sie morgen einen anderen kleinen Hund haben, den sie Spy nennen wird wie mich, den sie mit Zärtlichkeiten überhäufen wird wie mich, und es wäre nichts an der Sache geändert!«

Aber ich hörte nicht auf Spy, wie ich überhaupt auf keine der Stimmen hörte, die zu mir redeten, wenn das Verbrechen mich zu irgend einer schlechten Handlung antrieb … Mit brutalem Griff packte ich den kleinen Hund an seinen Hinterbeinen.

»Was ich vorhabe, Mutter Sochard?« schrie ich »da! …«

Und indem ich den Hund aus allen Kräften in der Luft schwang, zerschmetterte ich ihm den Schädel gegen die spitze Kante des Kamins. Das Blut spritzte auf den Spiegel, auf die Tapeten, Teilchen vom Gehirn saßen an den Armleuchtern, und ein ausgerissenes Auge lag auf dem Teppich …

»Was ich vorhabe, Mutter Sochard? …« wiederholte ich, indem ich den Hund mitten auf das Bett hinwarf, auf dem sich eine große, rote Blutlache bildete … »Was ich vorhabe, hahaha! … Sehen Sie dieses Blut, dieses Auge, das Gehirn da, den Leichnam, das Bett! … Hahaha! … Ja, Mutter Sochard, das habe ich mit Juliette vor! … mit Juliette! Ja, hast Du's nun verstanden, alte Schnapssäuferin! …«

»Daß Gott sich erbarm'!« jammerte Mutter Sochard, außer sich vor Schrecken … »rein in meinem Leben hab' ich nicht …«

Sie vollendete nicht … Mit weit aufgerissenen Augen, aufgesperrtem Munde und verzogenem Gesicht starrte sie den schwarzen Leichnam des Hundes an, der auf dem Bette lag, das Blut, das von den Laken aufgesogen wurde, und dessen purpurroter Flecken sich immer größer und tiefer ausbreitete …


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