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I.

Ich bin an einem Oktoberabend zu Saint-Michel-les Hêtres, einem kleinen Marktflecken im Departement de l'Orne geboren und wurde sofort auf die Namen Jean-François-Marie Mintié getauft. Und diesen Eintritt in die Welt zu feiern, wie es sich gehört, verteilte mein Onkel, der mein Pate war, eine Unmenge von Bonbons und warf viele Sous und Liards unter die Straßenjungen der Gegend, die sich auf den Stufen unserer Kirche versammelt hatten. Einer von ihnen fiel, als er sich mit seinen Kameraden balgte, so unglücklich auf die scharfe Kante eines Steines, daß er mit zerspaltenem Schädel liegen blieb und am folgenden Tage starb. Was meinen Onkel anbetrifft, so erkrankte er, kaum heimgekehrt, an einem typhösen Fieber und verschied einige Wochen später. Mein Kindermädchen, die alte Marie, hat mir oft mit Wichtigkeit und Stolz von diesen Vorfällen erzählt.

Saint-Michel-les Hêtres liegt am Saume eines großen Waldes, des Waldes von Tourouvre, der im Besitz des Staates ist. Obgleich der kleine Marktflecken an fünfzehnhundert Einwohner zählt, so macht er doch nicht mehr Lärm als die Bäume, das Gras und das Getreide, auf dem Lande an einem stillen Tage. Ein Hochwald von mächtigen Buchen, die sich im Herbst purpurn färben, schützt ihn gegen den Nordwind, und seine Häuser, mit roten Ziegeln gedeckt, steigen langsam den schrägen Abhang des Hügels hinunter, bis in das weite, stets grüne Thal, wo man die Ochsen weiden sieht. Der Fluß Huisne schlängelt sich, blitzend im Sonnenschein, in krausen Wellenlinien durch die Wiesen, die durch hohe Pappelreihen von einander geschieden sind. Ärmliche Gerbereien, kleine Mühlen begleiten seinen Lauf, und schimmern deutlich zwischen Erlengebüsch hervor. An der anderen Seite des Thales liegen die Kornfelder, mit den geometrischen Linien ihrer Hecken und den einzeln darin verstreuten Apfelbäumen. Den Horizont beleben rosenrote Bauernhöfe und kleine freundliche Dörfer, die das Auge zwischen fast schwarzem Grün erblickt. Zu allen Jahreszeiten fliegen wegen der Nähe des Waldes Raben, und Dohlen mit gelben Schnäbeln, am Himmel hin und her.

Meine Familie bewohnte am äußersten Ende des Ortes, der Kirche gegenüber, die sehr ehrwürdig und baufällig war, ein altes, merkwürdiges Haus, das man die Priorei nannte – ein Nebengebäude der ehemaligen Abtei, die, während der Revolution zerstört, jetzt nur noch zwei bis drei verwitterte, von Epheu bedeckte Mauern aufzuweisen hatte. Ohne Bedauern sehe ich, in klaren Umrissen, die kleinsten Einzelheiten dieser Stellen vor mir, wo meine Kinderjahre hinglitten. Ich sehe das verbogene und schiefe Gitterthor wieder, das sich knarrend nach einem großen Hof hin öffnete, den ein dürftig aussehender Rasen schmückte, auf dem zwei kränkliche Vogelbeerbäume standen, von Schwarzdrosseln heimgesucht, und einige sehr alte Kastanienbäume, deren Stamm einen solchen Umfang hatte, daß vier Menschen – so erzählte mein Vater jedem Besuch mit vielem Stolz – ihn nicht umspannen konnten. Ich sehe das Haus wieder mit seinen Backsteinmauern, die so verdrießlich dreinschauten, seiner Freitreppe im Halbkreis, auf der immer dieselben hinwelkenden Geranien standen, mit seinen unegalen Fenstern, die Löchern glichen, seinem schiefen Dache, das eine Wetterfahne krönte, welche im Winde wie eine Eule kreischte. Hinter dem Hause sehe ich das Wasserbecken wieder vor mir, in dem schlammige Wurzelfasern sich badeten, und magere Karpfen mit weißen Schuppen herumspielten; ich sehe die finstere Tannenwand, welche die Nebengebäude verdeckte, sehe den Viehhof, sehe das Bureau, das mein Vater hatte anbauen lassen am Rande eines Weges, der am Besitztum entlang lief, so daß das Kommen und Gehen der Klienten und Schreiber in Nichts das Schweigen des Wohngebäudes störte. Ich sehe den Park wieder, mit seinen ungeheuren, sonderbar gewundenen Bäumen, die von Flechten und Moosen zerfressen und durch dichte Schlingpflanzen miteinander verkettet waren, mit seinen Alleen, in denen zerfallene Steinbänke standen, die wie alte Grabmäler aussahen. Und ich sehe mich selber, wie ich, ein kränklicher Knabe, im baumwollenen Kittel mitten unter diesen melancholisch verlassenen Dingen umherirre, mir an den wilden Sträuchern die Kleider zerreiße, die Tiere in den Ställen peinige, oder auch ganze Tage hindurch im Gemüsegarten hinter Felix, der zugleich unser Gärtner, Kammerdiener und Kutscher war, herlaufe.

Jahre auf Jahre sind dahingegangen; von dem was ich liebte, ist nichts geblieben. Alles, was ich kannte, hat sich erneuert; die Kirche ist wieder aufgebaut und hat jetzt einen neuen Vordergiebel, Spitzbogenfenster und reich verzierte Dachtraufen, deren Mündungen Rachen vorstellen; ihr Glockenturm, aus neuem Stein, sendet helle Töne wie fröhliches Lachen in den blauen Äther; an der Stelle des alten Hauses erhebt sich ein anspruchsvolles Schlößchen, vom neuen Besitzer errichtet, der auch im eingefriedigten Garten die Zahl der farbigen Glaskugeln, der verfallenen Springbrunnen und der regenverwaschenen Liebesgötter aus Gips verdoppelt hat. Trotzdem aber sind die Dinge und Menschen mir so tief ins Gedächtnis eingeprägt, daß die Zeit ihren harten Achat nicht hat abnutzen können.

Wenn ich jetzt von meinen Eltern spreche, so schildere ich sie nicht, wie ich sie als Kind sah, sondern wie sie mir in späteren Jahren erschienen, von den Erinnerungen ergänzt, durch allerlei Offenbarungen und vertrauliche Mitteilungen gleichsam menschlich näher gerückt, in aller Schärfe des vollen Lichts, und so, wie die unerbittlichen Lehren des Lebens uns die Gestalten sehen lassen, welche zu schnell geliebt und zu nahe gekannt wurden.

Mein Vater war Notar. Seit undenklichen Zeiten war das bei den Mintiés so Sitte gewesen. Man hätte es für abscheulich, ja geradezu für aufrührerisch gehalten, wenn ein Mintié es gewagt hätte, mit dieser Familientradition zu brechen und die vergoldeten Schilder aus Holz zu verleugnen, die wie ein Adelstitel, mit religiöser Ehrfurcht, von Generation zu Generation überliefert wurden. In Saint-Michel und in den angrenzenden Ortschaften nahm mein Vater eine Stellung ein, die zum Teil durch die Erinnerungen, die seine Vorfahren hinterlassen, zum Teil auch durch sein eigenes schlichtes und gerades Auftreten als ländlicher Bürger, aber vor allem durch seine zwanzigtausend Franken jährliche Renten, zu einer bedeutenden gemacht wurde, welche nichts untergraben konnte. Als Maire von Saint-Michel, als oberster Gemeinderat, als Stellvertreter des Friedensrichters, als Vizepräsident des landwirtschaftlichen Vereins, als Mitglied zahlreicher Gesellschaften zur Verbesserung des Ackerbaus und des Forstwesens, verschmähte er keines jener kleinen, vielbegehrten Ehrenämter, welche im Provinzleben Ansehen geben und Einfluß verleihen. Er war ein ausgezeichneter Mensch, sehr ehrenhaft, sehr sanft, und hatte dabei doch eine Manie zu töten. Er konnte keine Katze, keinen Vogel, kein Insekt, überhaupt nichts Lebendes sehen, ohne sofort von dem sonderbaren Verlangen ergriffen zu werden, es zu vernichten. Er führte einen schonungslosen Krieg gegen die Ameisen, die Finken, die Stieglitze und die Dompfaffen, einen so hartnäckigen Krieg, wie ihn der eifrigste Trapper nur führen kann. Felix hatte den Auftrag ihn zu benachrichtigen, sobald ein Vogel sich im Parke sehen ließ, und mein Vater verließ alles, Klienten, Geschäfte, Mahlzeiten, um den Vogel umzubringen. Oft auch legte er sich stundenlang, ohne sich zu rühren, auf die Lauer hinter einen Baum, wo der Gärtner ihn auf eine kleine Meise mit blauem Kopfe aufmerksam gemacht hatte. Wenn er während des Spazierengehens einen Vogel auf einem Zweige sah und seine Büchse nicht bei sich hatte, drohte er ihm jedesmal mit seinem Stock, und unterließ es nie zu sagen: »Paff! Den hätt' ich gehabt, den frechen Kerl!« oder auch: »Paff! ich hätt' ihn verfehlt, er war zu weit weg.« Das sind die einzigen Gedanken, die er sich je über die Vögel gemacht hat.

Die Katzen waren ebenfalls eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Wenn er im Sande der Alleen die Spuren einer Katze sah, hatte er keine Ruhe mehr, bis er sie entdeckt und ermordet hatte. Zuweilen stand er Nachts auf, bei schönem Mondschein, und blieb auf dem Anstand liegen bis zum Morgengrauen. Man muß ihn gesehen haben, wenn er dann, die Büchse auf der Schulter, heimkehrte, und in der einen Hand einen blutenden, steifen Katzenleichnam am Schwanz hielt. Niemals ist mir etwas heroischer vorgekommen, und selbst David kann, als er Goliath getötet hatte, keinen siegesberauschteren Gesichtsausdruck gehabt haben. Mit einer königlichen Geberde warf er dann die Katze vor die Füße der Köchin, welche: »Oh, das gräßliche Tier« sagte, und sich sofort dran machte es abzuhäuten. Das Fleisch wurde für die Bettler aufgehoben, die Haut wurde an der Spitze eines Stocks getrocknet und an die Auvergnaten verkauft. Wenn ich mich bei diesen scheinbar unbedeutenden Einzelheiten so lange aufhalte, ist es, weil ich mein ganzes Leben hindurch von den Katzengeschichten meiner Kindheit heimgesucht, ja besessen gewesen bin. Unter anderen ist eine, die einen solchen Eindruck auf meine Seele machte, daß jetzt noch, trotz der entschwundenen Jahre und der ausgestandenen Leiden, kein Tag vergeht, an dem ich ihrer nicht, in schwermütiger Stimmung, gedenke.

Eines Nachmittags gingen wir im Garten spazieren, mein Vater und ich. Mein Vater hatte einen langen Stock in der Hand, an dessen Spitze eine kleine eiserne Gabel befestigt war, mittels der er die Schnecken und Würmer, welche unseren Salat verzehrten, aufspießte. Plötzlich sahen wir am Rande des Wasserbeckens ein kleines Kätzchen, das seinen Durst löschte; wir versteckten uns hinter einem Fliederbusch.

»Kleiner«, sagte mein Vater mit leiser Stimme »hole schnell meine Büchse … geh' um sie herum, gib Acht, daß sie dich nicht sieht.«

Und indem er sich auf die Kniee legte, bog er vorsichtig die Zweige des Fliederbusches auseinander, so daß er die Bewegungen der Katze verfolgen konnte, die, auf die Vorderpfoten gestützt, mit ausgestrecktem Halse und wedelndem Schwanz das Wasser vom Bassin schlabberte, während sie von Zeit zu Zeit den Kopf in die Höhe hob, um sich das Fell zu lecken und den Hals zu kratzen.

»Na,« wiederholte mein Vater »mach', daß du fortkommst.«

Ich hatte großes Mitleid mit dem Kätzchen. Es sah so niedlich aus mit seinem seidenglänzenden, rötlichgrauen und schwarzgestreiften Pelz, seinen geschmeidigen und zierlichen Bewegungen und der kleinen Zunge, die einem Rosenblatt glich, das eifrig Wasser aufsog. Ich wäre meinem Vater gern ungehorsam gewesen, ja, ich dachte einen Augenblick daran Lärm zu machen, zu husten oder die Zweige hart aneinander zu schlagen, um das Tier auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Aber mein Vater sah mich mit so strengen Augen an, daß ich mich schnell in der Richtung des Hauses entfernte. Ich kam bald zurück mit der Büchse. Das Kätzchen war noch immer da, vertrauensvoll und heiter. Auf den Hinterbeinen sitzend, mit gespitzten Ohren, leuchtenden Augen, zitterndem Körper, folgte es dem Fluge eines Schmetterlings in der Luft. Ach, es war eine Minute voll unsäglicher Angst. Das Herz klopfte mir so stark, daß ich ohnmächtig zu werden glaubte.

»Papa! Papa!« schrie ich auf.

Zur selben Zeit ging der Schuß ab, ein trockener Schuß, der wie ein Peitschenschlag knallte.

»Verdammtes Tier!« fluchte mein Vater. Er zielte von neuem. Ich sah, wie sein Finger am Hahn drückte, schnell schloß ich die Augen und hielt mir die Ohren fest zu … Paff! … Und ich hörte ein Miauen, das erst klagend, dann schmerzlich klang – ach, so schmerzlich! – ganz wie das Schreien eines kleinen Kindes. Das Kätzchen sprang hoch in die Luft, wand sich, kratzte das Gras im Rasen auf, und rührte sich nicht mehr von der Stelle.

Absolut unbedeutend von Geist, aber mit einem weichen Herzen begabt – obgleich er gleichgültig erschien Allem gegenüber, was nicht seine lokalen Eitelkeiten und die Interessen seines Studiums betraf – gern bereit Jedem zu helfen, und verschwenderisch mit guten Ratschlägen, gesund und heiter, erfreute sich mein Vater, und das mit Recht, einer allgemeinen Achtung. Meine Mutter, die aus einer adligen, in der Gegend ansässigen Familie stammte, brachte ihm als junges Mädchen zwar kein Vermögen mit, aber doch solide Beziehungen, engere Verbindungen mit der kleinen Aristokratie des Landes, was mein Vater für ebenso nützlich hielt als einen Zuwachs an Geld, oder eine Vergrößerung seines Grundbesitzes. Obgleich seine Beobachtungsgabe sehr beschränkt war und er sich keineswegs einbildete die Fähigkeit zu besitzen Menschenseelen zu verstehen, wie er den Wert eines Ehekontrakts oder die Eigenschaften eines Testamentes erklären konnte, begriff mein Vater schnell den ganzen Unterschied der Rasse, der Erziehung und Gefühlsweise, der ihn von seiner Frau trennte. Ob er sich anfangs darüber grämte, weiß ich nicht; jedenfalls ließ er es sich nicht merken. Er gab sich drein. Zwischen ihm, der schwerfällig, unwissend und immer guter Dinge war und ihr, die kenntnisreich, gebildet, feinsinnig und schwärmerisch angelegt war, existierte ein Abgrund, den zu überbrücken er nie versuchte, da er in sich weder das Verlangen danach, noch die Kraft dazu verspürte. Diese moralische Situation zweier Wesen, die für immer aneinander gebunden sind, ohne daß irgend eine Gemeinschaft der Gedanken und Bestrebungen sie einander näher bringt, belästigte meinen Vater in keiner Weise, der seinem Studium viel Zeit widmete und sich zufrieden fühlte, wenn ihm der Haushalt gut geführt wurde, die Mahlzeiten pünktlich waren, und seine Gewohnheiten und Manien streng respektiert wurden; dagegen litt meine Mutter schmerzlich und schwer darunter.

Meine Mutter war nicht schön, noch weniger was man hübsch nennen konnte: aber in ihrer Haltung lag so viel einfache Vornehmheit, so viel natürliche Anmut in ihren Bewegungen, auf ihren blassen Lippen eine solche Herzensgüte, in ihren Augen, die sich von Zeit zu Zeit verfärbten, wie der Aprilhimmel, und wieder tiefblau wurden wie der Saphir, ein so liebkosendes, so trauriges, so demütig-besiegtes Lächeln, daß man die zu hohe, unter dem unregelmäßig gewachsenen Haar sich stark wölbende Stirn vergaß, ebenfalls die zu große Nase und den grauen glänzenden Teint, der zuweilen von leichtem Kupferausschlag bedeckt war. In ihrer Nähe, hat mir oft einer ihrer alten Freunde gesagt, und ich habe es später mit schmerzlichem Verständnis wohl begriffen, neben ihr, fühlte man sich erst leise überschlichen und bald in unwiderstehlicher Weise ergriffen, von einem sonderbaren Gefühl der Sympathie, in dem sich wehmütige Achtung, sanftes Verlangen mit Mitleid und dem Bedürfnis, sich ihr zu opfern, mischten. Trotz ihrer physischen Unvollkommenheiten, oder vielmehr gerade wegen dieser Unvollkommenheiten, besaß sie den bitteren und mächtigen Reiz, der gewissen, vom Unglück bevorzugten Wesen, die von einer Atmosphäre des Unheilbaren umgeben sind, eigen ist. In ihrer Kindheit und ersten Jugend war sie leidend und von beunruhigenden Nervenstörungen heimgesucht gewesen. Aber man hatte gehofft, daß die Ehe, indem sie andere Bedingungen für ihr Dasein schuf, ihre Gesundheit, von der die Ärzte sagten, daß sie nur durch ein zu stark gesteigertes Empfindungsvermögen angegriffen, wieder herstellen sollte. Das geschah aber nicht. Im Gegenteil, die Ehe brachte den Keim der Krankheit, der in ihr schlummerte, zur vollen Entwickelung, und ihre Reizbarkeit steigerte sich dermaßen daß meine arme Mutter, neben anderen beunruhigenden Erscheinungen, nicht den geringsten Geruch vertragen konnte, ohne daß eine Krise eintrat, die immer mit einer Ohnmacht endete. Woran litt sie denn eigentlich? Weshalb diese melancholischen Stimmungen, diese Zustände der Niedergeschlagenheit, die sie tagelang, unbeweglich und menschenscheu, an ihren Lehnstuhl fesselten, wie eine vom Schlag gelähmte Greisin? Weshalb diese Thränen, die plötzlich ihre Kehle bis zum Ersticken zuschnürten und während ganzer Stunden ihren Augen, wie ein brennendheißer Regen entströmten? Weshalb dieser Abscheu vor allem, den nichts überwinden konnte, weder Zerstreuungen noch Gebete? Sie hätte es nicht sagen können, denn sie wußte es selbst nicht. Von ihren physischen Schmerzen, ihren moralischen Qualen, den Hallucinationen, welche langsam in ihrem Herzen die berauschende Sehnsucht nach dem Tode geboren und sie ihrem Hirn mitgeteilt hatten, begriff sie nichts. Sie begriff nicht, weshalb sie eines Abends vor dem Herde, auf dem ein großes Feuer brannte, von der furchtbaren Versuchung ergriffen wurde, sich in die Glut zu stürzen, sich darin herumzuwälzen und ihren Körper den Küssen der Flamme auszuliefern, die sie rief, sie bezauberte und an sich lockte, indem sie ihr ungekannte Liebeshymnen zusang. Ebensowenig begriff sie, weshalb sie an einem anderen Tage, als sie während des Spazierengehens in einer halbabgemähten Wiese einen Mann mit der Sense auf dem Rücken daherschreiten sah, mit offenen Armen auf ihn losstürzte, indem sie schrie: »Tod, ach, Du glückseliger Tod, nimm mich hin!« Nein, sie wußte es wirklich nicht. Was sie aber wußte, war, daß in solchen Augenblicken stets das Bild ihrer Mutter, der toten Mutter, ihr vor Augen schwebte, so wie sie es gesehen, als sie die Mutter eines Sonntagsmorgens am Kronleuchter im Salon erhängt gefunden hatte. Sie sah dann den Leichnam wieder vor sich, wie er sich im leeren Raume hin- und herbewegte, das blauschwarze Antlitz, die weißen Augen ohne Augapfel, alles von damals so deutlich wieder, bis zum Sonnenstrahl, der sich durch die geschlossenen Vorhänge hindurchstahl, und die hängende Zunge, die aufgeschwollenen Lippen mit einem tragischen Licht übergoß. Ohne Zweifel hatte ihr die Mutter, als sie ihr das Leben gab, zugleich jene Leiden und Verirrungen, jene berauschende Todessehnsucht mitgegeben; im Schoße der Mutter, an den Brüsten der Mutter, hatte sie das Gift eingesogen, das ihr jetzt die Adern füllte und den ganzen Körper durchströmte, das ihr Hirn umnebelte und an ihrer Seele nagte. In den Zwischenzeiten, den lichten ruhigen Augenblicken, die übrigens immer seltener wurden je mehr die Tage, Monate und Jahre dahinflossen, dachte sie oft über diese Dinge nach; und indem sie ihr Dasein durchging von den fernsten Erinnerungen der Kindheit bis zu den Stunden der Gegenwart, die physischen Ähnlichkeiten zwischen der Mutter, die freiwillig den Tod gesucht, und der Tochter die ihn ersehnte, miteinander vergleichend, fühlte sie die Last dieser düsteren Erbschaft immer schwerer auf ihrer Seele ruhen. Sie regte sich auf bei dem Gedanken und überließ sich ihm vollkommen, daß es ihr nicht möglich sei dem Schicksal ihrer Rasse zu entrinnen, die ihr dann erschien, wie eine lange Kette von Selbstmördern, irgendwo aus einer tiefen, fernen Nacht emportauchend und sich durch die Jahrhunderte fortsetzend, um schließlich wohin zu gelangen … wohin? Bei dieser Frage wurden ihre Augen trübe, ihre Schläfen feucht von einem kalten Schweiße, und ihre Hände tasteten krampfhaft nach ihrer Kehle hinauf, als wollten sie dort den eingebildeten Strick losreißen, dessen totbringenden Knoten sie schon am Halse fühlte, wie er sich zuschnürte und sie erstickte. Jeder Gegenstand ihrer Umgebung wurde dann in ihren Augen zu einem Werkzeuge des unvermeidlichen Todes, jedes Ding sandte ihr das eigene Bild blutend und entstellt zurück; die Zweige an den Bäumen schienen ihr nur so und soviel finstere Galgen zu sein, und im grünen Wasser des Teiches, zwischen Schilf und Wasserrosen, im Fluß zwischen den schlanken, wehenden Gräsern, unterschied sie deutlich ihre dahintreibende, schlammbedeckte Gestalt.

Unterdessen belauerte mein Vater, auf den Knieen hinter mächtigem Fliedergesträuch liegend, die Büchse in der Faust, eine Katze, oder warf mit Steinen nach einer Grasmücke, die verstohlen unter den Zweigen ihr Liedchen zwitscherte. Abends pflegte er dann, als einzigen Trost, mit sanfter Stimme zu meiner Mutter zu sagen: »Und es will noch immer nicht besser werden mit Deiner Gesundheit, liebes Kind? Du mußt Bitterwasser trinken, sage ich Dir. Ein Glas morgens und eins abends. Es ist das einzige was hilft.« Er beklagte sich nicht, und wurde nie heftig. Nachdem er sich an sein Pult gesetzt hatte, sah er den papierenen Wisch durch, den ihm der Sekretär der Mairie im Verlauf des Tages gebracht hatte, und mit verächtlicher Miene unterzeichnete er ihn schnell, indem er ausrief: »Diese verflixte Administration! Sollte sich meinetwegen lieber etwas mehr um die Landwirtschaft kümmern, als uns all diese langweiligen Geschichten auf den Hals zu schicken. Sind das wieder Dummheiten!« Darauf legte er sich schlafen, indem er mit ruhiger Stimme wiederholte: »Du mußt Bitterwasser trinken, Bitterwasser, liebes Kind.«

Diese Resignation beunruhigte meine Mutter als wäre sie ein Vorwurf gewesen. Obgleich mein Vater nur eine mittelmäßige Erziehung genossen hatte und sie bei ihm keine jener Gefühle von männlicher Zärtlichkeit oder schwärmerischer Poesie fand, von denen sie geträumt hatte, so konnte sie seine physische Aktivität nicht ableugnen, ebenfalls nicht seine moralische Gesundheit, um die sie ihn zuweilen beneidete, obgleich sie der Meinung war, daß er beides an Dinge verschwendete, die verächtlich, weil sie kleinlich und gemein waren. Sie fühlte sich schuldig gegen ihn, schuldig gegen sich selber, schuldig gegen das Leben, das in so unfruchtbarer Weise in Thränen vergeudet wurde. Denn nicht allein nahm sie keinen Teil mehr an den Geschäften ihres Mannes, sondern sie verlor auch alles Interesse an ihren eigenen Hausfrauenpflichten, überließ das Haus den Launen der Dienstboten und vernachlässigte sich selber dermaßen, daß ihr Kammermädchen, die gute alte Marie, oft genötigt war, sich ihrer, wie eines kleinen Kindes, indem sie sie liebkosend schalt, anzunehmen, sie zurecht zu machen und ihr zu essen zu geben. Ihr Bedürfnis allein zu sein ging so weit, daß sie die Nähe ihrer Verwandten und Freunde nicht ertragen konnte, und diese, die sich nicht mehr bei ihr behaglich fühlten, ja zurückgestoßen wurden von ihrem Gesicht, das immer grämlicher wurde, dem Munde, der nie ein Wort sprach, dem gezwungenen Lächeln, das plötzlich in ein krampfhaftes und unfreiwilliges Zucken der Lippen übergehen konnte, stellten ihre Besuche immer mehr ein und verlernten schließlich den Weg zur Priorei ganz. Wie aller anderen Dinge wurde sie auch der Religion völlig überdrüssig. Sie setzte nie einen Fuß in die Kirche, betete nie, und zwei Osterfeste verstrichen nach einander, ohne daß man sie zum heiligen Abendmahl gehen sah.

Von nun an hütete meine Mutter das Zimmer, wo die geschlossenen Fensterläden und herabgelassenen Vorhänge die Finsternis um sie herum verdoppelten. Dort brachte sie die langen Tage zu, entweder ausgestreckt auf der Chaiselongue liegend, oder zusammengekauert in einer Ecke, den Kopf an die Wand gestützt. Und sie wurde gereizt, sobald das kleinste Geräusch von draußen, das Schlagen einer Thür, das Schlürfen eines Pantoffels im Korridor oder das Wiehern eines Pferdes im Hofe, ihr Noviziat des Nichtseins störte. Ach, es war ja leider nichts dagegen zu machen! Sie hatte nun so lange gegen das unbekannte Übel angekämpft, aber das Übel war stärker als sie und hatte sie bezwungen. Ihr Wille war gelähmt. Sie hatte keinen freien Willen mehr aufzustehen und thätig zu sein. Eine geheimnisvolle Macht beherrschte sie, machte ihr die Hände träge, verwirrte ihr das Hirn und ließ das Herz erzittern, wie eine rauchende Flamme, die der Wind hin und her bewegt; und weit davon entfernt sich zu verteidigen, suchte sie die Gelegenheit auf, sich nur noch mehr in das Leiden zu vertiefen, genoß sie mit einer Art von perverser Aufregung die furchtbaren Wonnen ihrer Vernichtung.

Als mein Vater zu merken begann, daß die Ordnung seiner häuslichen Existenz bedroht war, fing er endlich an sich wegen einer Krankheit zu beunruhigen, die über sein Verständnis ging. Er gab sich alle erdenkliche Mühe, meine Mutter so weit zu bestimmen, daß sie den Beschluß einer Reise nach Paris, um »die Fürsten der Wissenschaft« zu konsultieren, über sich ergehen ließ. Die Reise brachte ein trostloses Resultat. Von den drei berühmten Ärzten, zu denen er sie führte, erklärte der erste, daß meine Mutter blutarm sei, und verschrieb ihr eine stärkende Diät; der zweite, daß sie von Nerven-Rheumatismus angegriffen sei, und riet ihr zu einer schwächenden Diät. Der dritte endlich versicherte, »es sei Nichts,« und empfahl ihr Ruhe des Geistes.

Niemand hatte in dieser Seele klar gelesen. Selbst war sie sich gänzlich fremd. Von der grausamen Erinnerung, auf die sie all ihr Unglück zurückführte, gequält, hatte sie, was sich verworren auf dem tiefsten Grunde ihrer Seele rührte, nicht mit Deutlichkeit unterscheiden können, und auch nicht verstanden, was sich an unbestimmtem Verlangen, ungestilltem Sehnen und unerfüllten Träumen in ihr angesammelt hatte. Sie war wie der junge Vogel, der, ohne sich über das dunkle und sehnsüchtige Bedürfnis klar zu werden, welches ihn in die blaue Ferne hinaustreibt, von der er doch keine Erinnerung hat, sich am Gitter des Bauers den Kopf wund stößt und die Flügel lahm flattert. Statt sich nach dem Tode zu sehnen, wie sie meinte, hungerte ihre Seele wie der Vogel nach der unbekannten Ferne, nach dem Leben, dem Leben voll wonnigster Zärtlichkeit, voll süßester Liebe, und, wie der Vogel, starb sie an diesem ungestillten Hunger. Als Kind hatte sie sich mit der ganzen Übertreibung ihrer leidenschaftlichen Natur der Liebe zu den Dingen und den Tieren hingegeben, als junges Mädchen hatte sie sich mit Ungestüm der Wonne ungestörter, unmöglicher Träume überlassen; aber die Dinge konnten sie nicht befriedigen, und die Träume wollten keine klare und tröstende Form annehmen. In ihrer Umgebung war niemand, der sie leiten konnte, der diese junge Seele, die schon durch innere Erschütterungen gelitten, zurecht weisen konnte; niemand, der diesem Herzen, das schon von den Chimären mit den leeren Augen überschattet wurde, den erlösenden Weg zu den Wahrheiten der Wirklichkeit zeigte; niemand, dem sie das Allzuviel der Gedanken, Zärtlichkeiten und Wünsche hätte mitteilen können, die sich jetzt, der Möglichkeit einer Ableitung nach Außen beraubt, in ihrem Innern anhäuften, überschwollen und die zarte Hülle, die durch überreizte Nerven schlecht geschützt war, zu zersprengen drohten. Ihre Mutter, die immer krank war, die einzig und allein in einem Trübsinn lebte, der ihr bald den Tod bringen sollte, war außer Stande, die Leitung der Erziehung ihres Kindes intelligent und mit fester Hand zu übernehmen; ihr Vater, der fast ruiniert und auf die schlimmsten Auswege angewiesen war, kämpfte einen harten Kampf, um der Familie das hundertjährige Besitztum zu erhalten, und unter den jungen Männern, mit denen sie in Berührung trat, leichtfertige Adelige, eitle Bourgeois, gierige Bauern, war keiner, der an seiner Stirn den magischen Stern getragen hätte, der sie zum unbekannten Gotte führen sollte. Alles was sie um sich sah, alles was sie um sich hörte, schien ihr im schroffen Gegensatz zu stehen zu ihrer eigenen Gefühlsweise und Denkart. Für sie waren die Nächte nicht blaß genug, war die Sonne nicht glutrot und der Himmel nicht weit genug. Ihre Auffassung der Dinge und Wesen, die unbestimmt und zerfließend war, verurteilte sie in unvermeidlicher Weise zu Verirrungen der Sinne und des Geistes und überließ sie der Seelenqual unerreichbarer Träume und unerfüllbarer Wünsche. Und nun später diese Ehe, die weit mehr als ein Opfer, die ein Handel, ein Kompromiß gewesen, um die verzweifelte Stellung ihres Vaters zu retten! Und der Abscheu, der Aufruhr ihrer Seele, als sie fühlte, wie sie, herabgewürdigt und brutalisiert, die Beute, das passive Werkzeug der Lust eines Mannes geworden! Sich so hoch emporgeschwungen zu haben, um so tief zu sinken! Von himmlischen Küssen, mystischen Umarmungen, idealem Besitz geträumt zu haben um … Es war für immer aus! Statt der weiten, lichtstrahlenden Räume, in denen ihre Phantasie zwischen schwebenden, liebesseligen Engeln und weißen, sich zärtlich schnäbelnden Tauben geschwelgt hatte, war nun die Finsternis gekommen, die schwere, lastende Finsternis, die allein das Gespenst der Mutter, über Gräber und Kreuze dahinstrauchelnd, den Strick um den Hals, dann und wann unterbrach.

Bald ruhte ein tiefes Schweigen über der Priorei. Auf dem Sande der Alleen hörte man das Rollen der Räder nicht mehr von den Kabrioletten und Ponywagen, welche die Freunde aus der Nachbarschaft vor die geraniengeschmückte Freitreppe zu bringen pflegten. Man verschloß die große Gitterthür, um die Wagen zu zwingen durch den Viehhof zu fahren. In der Küche sprachen die Dienstboten mit leiser Stimme und gingen geräuschlos auf den Fußspitzen umher, als wäre im Hause ein Toter. Im Garten ließ der Gärtner nach dem Befehle meiner Mutter, die den Lärm der Schubkarren und das Geräusch der Harken gegen die Erde nicht vertragen konnte, die Wildlinge den Saft der vergilbten Rosensträuche einsaugen, das Unkraut die Blumenbeete ersticken, und die Alleen mit hohem Grün überwuchern. Und das Haus glich, mit der schwarzen Tannenwand, die es gegen Westen schützte und die wie ein Leichengerüst aussah, mit den stets geschlossenen Fenstern, mit dem lebenden Leichnam, den es hinter seinen alten, viereckigen, zerbröckelnden Backsteinmauern einschloß, einer ungeheuren Totengruft. Die Leute aus der Umgegend, die Sonntags in den Wald wollten, konnten an der Priorei nicht mehr vorbei gehen, ohne eine abergläubische Furcht zu verspüren, als ob das Haus ein verfluchter, von Gespenstern heimgesuchter Ort sei. Bald bildeten sich sonderbare Gerüchte, und die Sage entstand, ein Holzhauer habe eines Nachts, als er von der Arbeit heimkehrte, Mme. Mintié gesehen, wie sie totenblaß, mit aufgelöstem Haar, hoch oben durch die Luft dahinschwebte, während sie sich mit einem Kruzifix an die Brust schlug.

Mein Vater vertiefte sich noch eifriger in sein Studium und mied das eigene Haus so viel wie möglich, indem er dort eigentlich nur zu den Mahlzeiten erschien. Nach und nach gewöhnte er sich daran nach den entlegensten Messen zu reisen, wurde Mitglied unzähliger Komitees, und verdoppelte seine Anstrengungen in den Vereinen, denen er vorstand; überhaupt war er unermüdlich darin, neue Zerstreuungen und Beschäftigungen, die ihn vom Hause fern hielten, aufzufinden. Die Provinzialstände, der Ackerbau-Verein, die Jury des Gerichtshofes, waren unschätzbare Hilfsquellen für ihn. Wenn jemand ihm von seiner Frau sprach, schüttelte er den Kopf und antwortete:

»Hm! Ich bin ihretwegen sehr unruhig, sehr besorgt … Wie soll das enden? … Ich muß gestehen, ich fürchte, die arme Frau wird verrückt …«

Und wenn man ihm widersprechen wollte: »Nein, nein, ich sage das nicht im Scherz … Sie wissen ja, in der Familie haben sie leider recht unzuverlässige Nerven.«

Aus seinem Munde kam nie ein Vorwurf, obgleich er an jedem Tage, der verstrich, Gelegenheit hatte sich zu überzeugen, wie sehr diese Situation seinem Geschäfte schadete und er die irritierende Hartnäckigkeit meiner Mutter, die nichts versuchen wollte um eine Heilung herbeizuführen, durchaus nicht begreifen konnte.

In dieser traurigen Umgebung wuchs ich auf. Ich war kränklich und schwächlich auf die Welt gekommen. Welche Sorge um mich, welche kummervolle Zärtlichkeit, welche tötliche Angst! Neben diesem kümmerlichen kleinen Wesen, welches einen so zarten Lebensatem hatte, daß man ihn eher ein Todesröcheln nennen konnte, vergaß meine Mutter ihre eigenen Schmerzen. Die Mutterschaft vermochte es ihr die verlorene Energie wieder zu geben, das Bewußtsein von den neuen Pflichten, der heiligen Verantwortung, die ihr von nun an oblagen, zu erwecken. Welche glühende Nächte, welche fieberheiße Tage lernte sie jetzt kennen, wenn sie über die Wiege gebeugt stand, in der ein Etwas, das sich von ihrem Fleisch und ihrer Seele losgelöst hatte, leise atmend lag! … Von ihrem Fleisch und ihrer Seele! Ach ja! ja! … Ich gehörte ihr, ihr allein; ich war nicht eine Frucht ihrer ehelichen Unterwerfung; ich trug nicht, wie die übrigen Menschensöhne, das Zeichen der ursprünglichen, schmachvollen Befleckung an mir; sie hatte mich seit undenklicher Zeit im Schoß getragen und wie Jesus, war ich aus einem langen Liebesschrei geboren. Sie begriff jetzt ihre früheren Leiden, jene Störungen und Schrecknisse: es hatte sich ja ein großes geheimnisvolles Werk der Schöpfung in ihrem Wesen vollzogen.

Sie hatte sehr viel Mühe mich groß zu ziehen, und wenn ich lebe, kann man mit Recht sagen, daß es nur durch ein Wunder der Liebe geschah. Mehr als zwanzig Male wohl entriß meine Mutter mich den Armen des Todes. Welche Freude und welche Belohnung war es daher für sie, als es ihr vergönnt wurde zu sehen, wie der kleine runzlige Körper voll und gesund wurde, wie das welke Gesichtchen eine rosige Perlmutterfarbe annahm, die Lippen sich eifrig bewegten und begehrlich suchten, bis sie gierig das Leben am nährenden Mutterbusen einsogen! Während einiger Monate erfreute meine Mutter sich eines vollkommenen und gesunden Glücks. Ein Bedürfnis thätig, gut und nützlich zu sein, unaufhörlich die Hände, das Herz und den Geist zu beschäftigen, kurzum zu leben, bemächtigte sich ihrer und sie fand ein neues aufregendes Interesse selbst an den banalsten Kleinigkeiten der Hauswirtschaft, das von einem tiefen Frieden begleitet war. Die Heiterkeit kehrte zurück, eine natürliche und sanfte Heiterkeit, ohne gewaltsame Übertreibungen. Sie baute vertrauensvoll Pläne für die Zukunft und oft verwunderte sie sich darüber, nie mehr an die Vergangenheit, an den bösen, verschwundenen Traum zu denken. Ich entwickelte mich: »Man sieht, wie er mit jedem Tage zunimmt,« sagte das Kindermädchen. Und mit wonnevoller Rührung beobachtete meine Mutter die geheimnisvolle Arbeit der Natur, die die ersten unbestimmten Umrisse der Glieder weiter entwickelte, dem Fleische festere Formen und geschmeidigere, besser geregelte Bewegungen gab, und dem kleinen, dunklen Hirn, das eben erst aus dem Nichts hervorgegangen war, die primitiven Kräfte des Instinkts einflößte. Oh, wie ihr dann Alles wie neugeboren vorkam, in die entzückendsten, lichtesten Farben eingekleidet! Ihr Ohr erfüllte eine liebliche Musik des Willkommens, der Liebessegnungen, und selbst die Bäume, die einst so voller Schrecken und Drohungen waren, streckten ihre Blätter und Zweige über sie aus, als wären es lauter schützende Hände gewesen. So durfte man denn hoffen, daß die Mutter in ihr die Frau gerettet habe. Ach, diese Hoffnung war nur von kurzer Dauer!

Eines Tages glaubte sie bei mir eine deutlich ausgesprochene Neigung zu nervösen Zuckungen, zu krankhaften Muskelzusammenziehungen zu bemerken und sie wurde unruhig. Als ich ungefähr ein Jahr alt geworden war, bekam ich solche Krämpfe, daß ich fast daran gestorben wäre. Die Krisen waren so heftig, daß mein Mund lange nachher wie gelähmt, und von einer häßlichen Grimasse entstellt war. Meiner Mutter fiel es nicht ein sich zu sagen, daß die meisten Kinder, in Zeiten des schnellen Wachstums, solchen Anfällen unterworfen sind. Sie sah darin einen Fall, der eigentümlich war für sie und ihre Rasse, die ersten Symptome des vererbten Übels, des entsetzlichen Übels, das sich von nun an in ihrem Sohne fortsetzen würde. Jedoch bot sie standhaft dem Schwarm von Gedanken Trotz, die sich von neuem auf sie losstürzten, sie benutzte was sie an Energie und Thatkraft wiedergefunden, um sie zu verjagen, indem sie sich zu mir flüchtete, wie zu einem unverletzlichen Asyl, wo sie vor Gespenstern und Dämonen geborgen sei. Sie hielt mich fest an ihre Brust gepreßt, bedeckte mich mit Küssen und sagte:

»Mein kleiner Jean, es kann ja nicht wahr sein, wie? Du wirst leben, wirst glücklich werden, nicht wahr? … Antworte mir … Ach, Du kannst ja nicht sprechen, Du armer Kleiner! … Ach, schreie nicht, Du darfst nicht schreien, nie, Jean, mein Kind mein lieber, kleiner Jean! …«

Aber vergebens fragte sie mich aus, vergebens fühlte sie mein Herz gegen das ihre klopfen, meine ungeschickten Hände an ihrer Brust tasten und sah meine Beinchen lustig, erlöst von den Windeln, in der Luft umherstrampeln: ihr Vertrauen war dahin, der Zweifel siegte. Ein Vorfall, den man mir später oft mit einer Art von religiösen Schrecken erzählt, trug dazu bei, die Störung in der Seele meiner Mutter wieder hervorzurufen.

Sie war im Bade. Marie, das Kindermädchen, stand über mich gebeugt da und bewachte meine ersten, schwankenden Schritte auf dem mit schwarz- und weißkarrierten Marmorplatten belegten Fußboden des Badezimmers. Plötzlich sah sie mich, mit weitgeöffneten Augen und augenscheinlich sehr erschrocken, ein schwarzes Karreau anstarren. Ich stieß einen Schrei aus und verbarg, als hätte ich etwas Furchtbares erblickt, den Kopf in die Schürze meines Kindermädchens.

»Was ist mit ihm?« fragte meine Mutter ängstlich.

»Ich weiß nicht,« antwortete die alte Marie … »man möchte fast sagen, der kleine Herr Jean fürchte sich vor einer Steinplatte.«

Sie führte mich zurück an die Stelle, wo mein Gesicht so plötzlich den Ausdruck gewechselt hatte … Aber beim Anblick der schwarzen Steinplatte fing ich wieder an zu schreien; mein ganzer Körper zitterte.

»Es muß da Etwas sein!« rief meine Mutter … »Marie, schnell, schnell, mein Hemd her … Mein Gott, was hat er gesehen?«

Dem Bade entstiegen, wollte sie nicht warten, daß man sie abtrocknete, und halb nackend, nur vom Bademantel bedeckt, kniete sie auf den Flisen nieder und untersuchte das Karreau.

»Sonderbar,« murmelte sie. »Und doch, er hat Etwas gesehen! … Aber was? … Hier ist nichts.«

Sie nahm mich in die Arme, wiegte und beruhigte mich. Jetzt lächelte ich, stammelte mit lallender Stimme undeutliche Silben und spielte mit den Quästen des Bademantels … Sie setzte mich wieder auf den Fußboden … Mit schwankenden und ungeschickten Schritten, beide Arme weit ausgestreckt, schnurrte ich vor Vergnügen wie ein junges Kätzchen. Keine von den Steinplatten, über die ich hinschritt, verursachte mir auch nur den geringsten Schrecken. Als ich aber an den verhängnisvollen Stein kam, drückte mein Gesicht plötzlich wieder Furcht aus, und weinend, heftig erschrocken, wandte ich mich eilig zu meiner Mutter um.

»Ich sage Dir, Marie, da muß etwas sein,« rief diese … »Rufe den Felix, daß er schnell mit Handwerkzeug herkommt, einem Hammer … schnell, schnell … und benachrichtige auch den Herrn!«

»Ja, da kann man sagen, was man will, merkwürdig ist es,« bestätigte die alte Marie, die mit offenem Munde und mit aufgesperrten Augen den geheimnisvollen Stein betrachtete … »Er muß ja ein Zauberer sein!«

Felix machte den Stein los, hob ihn auf, betrachtete ihn von allen Seiten und höhlte den darunterliegenden Gips aus.

»Machen Sie den anderen ebenfalls los,« befahl meine Mutter … »Schnell … auch den daneben … und diesen … alle, alle! Ich will, daß Sie es finden … Und der Herr … warum kommt der Herr nicht?«

In der Heftigkeit ihrer Bewegungen vergaß sie ganz, daß ein Mann anwesend war, sie entblößte sich und zeigte ihren nackten Körper. Felix lag gebückt auf den Knieen vor ihr und fuhr fort die Steine loszureißen. Er nahm einen nach den anderen in die Hand und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Wenn gnädige Frau es wünschen … aber, erstens ist der Herr unten im Park, er will einen Grünspecht schießen … Und zweitens … ist hier gar nichts los … Diese Karreaus sind Karreaus … ganz vernünftige Steinplatten und sonst nichts! Gnädige Frau können ganz ruhig sein … Es ist gewiß blos in der Einbildung vom kleinen Herrn Jean gewesen … Gnädige Frau wissen ja, kleine Kinder, das ist nicht so wie große Menschen, das sieht ja allerlei Sachen! … Aber was die Karreaus anbelangt, so sind das nicht mehr und nicht weniger als richtige Karreaus.«

Meine Mutter war leichenblaß geworden und sah ganz verstört aus.

»Schweigen Sie still,« befahl sie, »und Ihr Anderen geht hinaus, Alle miteinander!«

Und ohne die Ausführung ihres Befehls abzuwarten, verließ sie das Badezimmer und nahm mich mit sich fort. Die Treppen und Gänge wiederhallten von ihrem Schluchzen; dazwischen hörte man das Schlagen der Thüren.

Das arme liebe Geschöpf hatte auch nicht einmal daran gedacht, diesem Vorfalle, was doch so nahe lag, eine natürliche Erklärung zu geben. Und hätte man ihr auch beweisen können, daß das, was mich so erschreckte, vielleicht nichts weiter gewesen, als der Wiederschein eines sich auf der feuchten Oberfläche der Steinfliesen, hin und her bewegenden Handtuches, oder der Schatten, den ein unruhiges Blatt von draußen durch das Fenster hineinwarf, so hätte sie das sicher nicht zufrieden gestellt. Ihr Geist, der von Träumen genährt und von pessimistischen Übertreibungen gepeinigt war, wandte sich instinktiv dem Mystischen und Phantastischen zu, und nahm mit gefährlicher Leichtgläubigkeit die unsichersten Gründe an, unterwarf sich den verwirrendsten Suggestionen. Sie phantasierte sich die Sache so zurecht, daß es ihre Liebkosungen, ihre Küsse, ihr Einlullen und Wiegen gewesen, welche mir die Keime ihres Übels mitgeteilt hätten, daß die nervösen Krisen, die mich fast das Leben gekostet, die Halluzinationen, die in meinen Augen das düstere, blitzschnelle Aufleuchten eines Wahnsinnes hervorgerufen, Vorboten des Himmels seien, und in jenem Augenblick erstarb die letzte Hoffnung in ihrem Herzen.

Marie fand ihre Herrin halb nackend auf dem Bette liegen, sich vor Angst windend.

»Mein Gott! mein Gott!« stöhnte sie, »nun ist alles aus! … Mein armer, kleiner Jean! … Sie werden Dich nun auch packen, Dich auch! … Mein Gott, hab' Erbarmen mit ihm! … Kann es denn möglich sein? … So klein, so schwach! …«

Und während Marie die Decken und Laken wieder aufhob, die sie abgeworfen, und sie zu beruhigen versuchte, stammelte sie aufgeregt:

»Meine liebe, gute Marie, höre mich! Versprich mir, versprich es mir fest in die Hand, das zu thun, worum ich Dich jetzt bitte … Du hast es gesehen, vorhin, nicht wahr, Du hast es gesehen? … Nimm Dich meinen kleinen Jean's an … erziehe Du ihn, denn ich … ich darf es nicht … Ich würde ihn töten … Siehst Du, Du könntest da im Zimmer nebenan mit ihm wohnen, dicht bei mir … Du wirst ihn pflegen, gut zu ihm sein, und mir dann von ihm erzählen, was er gethan hat … Ich würde ihn da drinnen, neben mir, hören … ich würde fühlen, daß er dort ist … aber Du begreifst, sehen darf er mich nicht … Es ist ja meine Schuld wenn er so ist wie vorhin! …«

Marie hielt mich in ihren Armen und reichte mich der Mutter hin.

»Liebe, gnädige Frau … das ist nicht vernünftig,« sagte sie »und Sie verdienen jetzt, daß ich Sie schelte! … Sehen Sie ihn doch an, Ihren kleinen Jean … Wie eine kleine Wachtel, so lustig ist er … Nicht wahr, mein Liebling, das ist ein tapferer Junge? … Sehen Sie, da lacht er, der kleine Schelm … Da, gieb Deiner Mama einen Kuß! …«

»Nein, nein!« schrie meine Mutter heftig … »ich darf nicht … Später … Trage ihn weg! Trage ihn weg! …«

Und das Gesicht in die Kissen gedrückt, von Grauen erfüllt, schluchzte sie angstvoll auf.

Es war nicht möglich, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Marie begriff sehr wohl, daß wenn es gelingen sollte, ihre Herrin dem normalen Leben zurückzuführen und sie von den »schwarzen Stimmungen« zu heilen, so war der Weg dazu sicher nicht der, sie von ihrem Kinde zu trennen. Der traurige Zustand meiner Mutter ließ eben nur eine Aussicht auf Rettung zu, und gerade diese stieß sie zurück, man wußte nicht von welchem neuen Wahnsinn getrieben. Denn alles was ein kleines Wesen an Freude, an Sorge, an Thatkraft, an Liebe und Selbstlosigkeit im Herzen einer Mutter wachrufen kann, das gerade war es, was ihr not that; und nun sagte sie:

»Nein, nein! Ich darf nicht … Später! Trage ihn weg! …«

In der vertraulichen und ungeschliffenen Sprache, zu der ihre langen und treuen Dienste sie berechtigten, führte die alte Dienstmagd ihrer Herrin all die guten Gründe und Beweise vor, welche ihr praktischer Geist und einfaches Bauernherz ihr eingaben; ja, sie machte ihr einen Vorwurf daraus, daß sie sich den Mutterpflichten entzöge; sprach von Eigenliebe und erklärte, daß eine gute Mutter, die auch nur etwas Religion besäße, ja, selbst ein wildes Tier, an ihrer Stelle nicht so handeln würde.

»Ja,« schloß sie, »es ist schlecht von Ihnen … Schon zu Ihrem Manne sind Sie nicht zärtlich genug gewesen, der arme Mensch! Wenn Sie jetzt auch noch das Unglück Ihres eigenen Kindes herbeiführen wollen!«

Aber meine Mutter, die noch immer laut schluchzend auf dem Bette lag, konnte nichts antworten als:

»Nein! nein! Ich darf nicht! … Später … Trage ihn weg …«

Wie war nun meine Kindheit? Eine lange Erschlaffung. Von meiner Mutter getrennt, die ich nur selten sah, meinen Vater meidend, den ich nicht liebte, lebte ich, ein unglücklicher Waisenknabe, fast ausschließlich mit der alten Marie und Felix, in dem großen finsteren Hause und dem verlassenen, melancholischen Parke. Schweigen und Einsamkeit lasteten auf meiner jungen Seele wie eine Todesnacht. Ach, wie ich mich langweilte! Ja, ich bin jenes seltene, jenes vom Schicksal verurteilte Kind gewesen, das sich langweilt! Immer traurig, immer ernst, sprach ich fast nie und besaß nichts vom heiteren Frohsinn, von der Neugierde und dem Übermut meines Alters; es war, als schlummerte meine Intelligenz im Vorhofe des Lebens, wie zur Zeit der mütterlichen Schwangerschaft. Vergebens suche ich mich auch nur einer einzigen Empfindung aus meiner Kinderzeit zu erinnern, auch nur eine wiederzufinden; wahrlich, ich möchte fast glauben, daß ich überhaupt keine gehabt habe. Stumpfsinnig und schlaff schleppte ich mich umher, ohne zu wissen, was ich mit meinen Beinen, meinen Armen und Augen und meinem kränklichen kleinen Körper, der mich belästigte wie ein unangenehmer Kobold, den man gerne los werden möchte, anfangen sollte. Nie fesselte mich irgend ein Schauspiel, irgend ein Eindruck an einen bestimmten Ort. Ich hätte am liebsten dort sein mögen, wo ich nicht war, und die Spielsachen mit dem schönen Tannengeruch häuften sich bei mir an, ohne daß ich auch nur daran gedacht hätte, sie anzurühren. Nie habe ich von einem hölzernen Pferde, einem Messer, einem Bilderbuche geträumt. Wenn ich heute, auf den Rasenplätzen, in den Gärten und auf dem Sande des Meeresstrandes die Kinder laufen, springen und sich haschen sehe, kehren meine Gedanken sofort mit peinlicher Niedergeschlagenheit zurück zu den ersten, grämlichen Jahren meines Lebens, und wenn ich das helle Kinderlachen höre, das wie das Morgenläuten beim Sonnenaufgang der Menschenseele klingt, sage ich mir, daß all mein Unglück von dieser einsamen und toten Kindheit herrührt, über der kein heller Lichtschein aufging.

Ich war kaum zwölf Jahre alt, als meine Mutter starb. An dem Tage, als das Unglück eintrat, nahm mich der gute Pfarrer Blanchetière, der uns sehr lieb hatte, in seine Arme, drückte mich gegen seine Brust und sah mich mit Thränen in den Augen lange an, indem er mehrere Male vor sich hinmurmelte: »Armer, kleiner Kerl!« Ich weinte sehr heftig, hauptsächlich, weil ich den guten Pfarrer weinen sah, denn der Gedanke, daß meine Mutter tot sei und nie wiederkommen würde, wollte mir nicht in den Kopf. Während ihrer Krankheit hatte man mir verboten in ihr Zimmer zu kommen, und nun war sie geschieden, ohne daß ich ihr einen Abschiedskuß gegeben hatte … Konnte sie mich denn in dieser Weise verlassen haben? … Als ich gegen sieben Jahre alt war und meine Gesundheit kräftiger geworden, hatte meine Mutter eingewilligt, sich wieder mit mir zu befassen. Von diesem Augenblicke an habe ich es eigentlich erst begriffen, daß ich eine Mutter hatte und daß ich sie anbetete. Und der Inbegriff meiner Mutter – meiner schmerzensreichen Mutter – das waren für mich ihre zwei Augen, ihre zwei großen, starren, von roten Ringen umgebenen Augen, die beständig weinten, ohne daß sie die Augenlider bewegten, weinten, wie die Wolke und der Springbrunnen weint.

Ich hatte bei den Schmerzen meiner Mutter ganz plötzlich ein heftiges, schneidendes Weh empfunden, und durch dieses Weh wachte ich zum Leben auf. Ich wußte nicht, woran sie litt, aber ich wußte an der Art und Weise wie sie mich umarmte, daß ihr Übel entsetzlich sein mußte. Sie hatte Anfälle von einer so wütenden Zärtlichkeit, daß sie mich erschreckten und mich heute noch erschrecken. Sie preßte dann meinen Kopf an sich und umklammerte meinen Hals, ließ ihre Lippen über meine Stirn, über meine Wangen und meinen Mund gleiten und küßte mich so wild, daß sie mich mitunter ins Fleisch biß – sie küßte mich, wie ein Tier küßt und legte in diese Liebkosung eine solche sinnliche Liebesglut hinein, als wäre ich das phantasieerzeugte Wesen ihrer Träume, das Wesen nach welchem ihre Sinne und ihr Herz verlangten. Konnte es denn möglich sein, daß sie tot war?

Mit Inbrunst flehte ich das schöne Bild der Jungfrau an, zu der ich jeden Abend vor dem Schlafengehen betete:

»Heilige Jungfrau, schenke meiner geliebten Mutter eine gute Gesundheit und ein langes Leben.« Aber eines Morgens sah ich, wie mein Vater mit ernster Miene und bleichem Gesicht den Arzt bis zum Gitterthor hinaus begleitete; beide waren so schweigsam und still, daß es leicht zu merken war, daß etwas Außergewöhnliches vor sich ging. Auch die Dienstboten gingen weinend umher. Weshalb sollten sie weinen, wenn es nicht war, weil sie ihre Herrin verloren hatten? Und hatte der Pfarrer nicht vorhin im Ton des tiefsten Bedauerns zu mir gesagt: »Armer, kleiner Kerl!« Weshalb mich so tief bedauern, wenn es nicht war, weil ich meine Mutter verloren hatte? Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, der kleinsten Einzelheiten dieses schrecklichen Tages. Im Zimmer, wo ich mit der alten Marie eingeschlossen war, hörte ich von den Alleen und Gängen her ein ungewohntes Geräusch, und die Stirn gegen die Fensterscheibe gedrückt, sah ich durch die halbgeschlossenen Fensterläden den Bettelfrauen zu, wie sie draußen auf dem Rasen niederknieten und, eine Wachskerze in der Hand, Gebete murmelten; ich sah die Leute in den Hof eintreten, die Männer in schwarzem Anzuge, die Frauen mit langen schwarzen Schleiern: »Ach, das ist ja der Herr Bacoup … und dort kommt auch die Frau Provost.« Ich bemerkte, daß sie alle traurige Gesichter hatten, während draußen, am weit geöffneten Gitterthor, die dort versammelten Chorknaben, die Kirchensänger in den langen schweren Chorröcken, die barmherzigen Brüder in ihrer scharlachroten Dalmatika, von denen der eine ein großes Banner trug, und der andere das schwere, silberne Kreuz – heimlich einander zulachten und sich damit amüsierten sich gegenseitig Püffe zu versetzen. Der Küster klingelte mit seinem Glocken-Geklingel, trieb die neugierigen Bettler aus dem Wege, und ein Heuwagen, der zurückkehrte, wurde gezwungen Halt zu machen und zu warten. Vergebens suchte ich mit den Augen den kleinen Sorieul, einen verkrüppelten Knaben, der mit mir im gleichen Alter war und dem ich jeden Sonnabend einen Laib Brot gab; ich konnte ihn nicht finden und das that mir leid. Plötzlich fingen die Glocken im Glockenturm der Kirche an zu läuten. Ding! Ding! Dang! Der Himmel war tiefblau, die Sonne sendete glühende Strahlen hernieder. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung; erst kamen die Chorknaben und Sänger, dann das Kreuz, das in der Sonne glänzte und das Banner, das hin und her schaukelte; der Pfarrer in weißem Meßgewande, sich den Kopf mit dem Psalmbuch beschützend; danach etwas Langes und Schweres, das über und über mit Blumenkränzen bedeckt war und von Männern getragen wurde, welche schwankend, mit eingeknickten Knieen, daher schritten; endlich eine schwarze, wimmelnde Menschenmenge, die den Hof anfüllte, sich langsam auf den Weg hinausschlängelte, und in der ich bald meinen Vetter Morel unterschied, der sich mit einem karrierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. Ding! Dang! Und während die Glocken läuteten, flatterten drei weiße Tauben unaufhörlich, sich lustig haschend, um die Kirche herum, die mir gerade gegenüber, mit ihrem gesenkten Dache und ihrem Schieferturm, aus Akazienbäumen und rosig blühenden Kastanien hervorsah.

Als die Ceremonie zu Ende war, trat mein Vater zu mir ins Zimmer. Er ging, ohne zu sprechen, einige Minuten lang auf und ab, die Hände auf dem Rücken gefaltet.

»Ach, mein armer Herr,« klagte die alte Marie, »das ist ein großes, großes Unglück!«

»Ja, ja,« antwortete mein Vater, »ein großes, großes Unglück!«

Er ließ sich in einen Lehnstuhl sinken, indem er einen tiefen Seufzer ausstieß.

Ich sehe ihn noch mit seinen geschwollenen Augenlidern, seinem niedergeschlagenen Blick, seinen hängenden Armen. Er hatte ein Taschentuch in der Hand und von Zeit zu Zeit drückte er es an die von Thränen geröteten Augen.

»Vielleicht habe ich sie nicht sorgfältig genug gepflegt, Marie? … Siehst Du, sie sah es ja nicht gern, wenn ich bei ihr war … Und doch habe ich gethan was ich konnte, ja was ich konnte … Wie entsetzlich sie aussah, als sie da so furchtbar steif und kalt auf ihrem Bette lag. Ach Gott, ich werde sie immer so sehen! … Und übermorgen wäre sie gerade einunddreißig Jahre alt geworden! …«

Mein Vater zog mich an sich und setzte mich auf sein Knie.

»Hast Du mich ein klein wenig lieb, mein kleiner Jean?« fragte er, indem er mich sanft schaukelte … »Ein klein wenig … sag? Ich habe ja nur Dich jetzt …« Und leise, mit sich selber sprechend, sagte er: »Vielleicht ist es besser so! … Was hätte draus werden sollen, später! … Ja, es ist vielleicht besser … Ach, Du armer Kleiner, sieh mich mal an, sieh mir ins Gesicht …«

Und als ob er in dem Moment in meinen Augen, die den Augen meiner Mutter glichen, ein Schicksal voller Leiden geahnt hätte, preßte er mich heftig an seine Brust und brach in Thränen aus.

»Mein kleiner Jean! … Ach mein armer kleiner Jean!«

Von der Bewegung und der Anstrengung der vergangenen Nächte überwältigt, schlief er, mich in seinen Armen haltend, ein. Und ich, der plötzlich von einem ungeheuren Mitleid ergriffen wurde, horchte auf die Schläge dieses unbekannten Herzens das zum ersten Mal neben dem meinen schlug.

Einige Monate vorher hatte man die Bestimmung getroffen, daß ich nicht ins Gymnasium geschickt werden, sondern einen Hauslehrer haben sollte. Mein Vater stimmte dieser Art von Erziehung durchaus nicht bei, aber sein Widerstand hatte solche Krisen hervorgerufen, daß er den Entschluß faßte, sich nicht mehr zu widersetzen, und, wie er seiner Frau seine Rechte als Gatte aufgeopfert hatte, so gab er nun sein Recht als Vater auf. Ich bekam einen Hauslehrer, nach dem Wunsche meiner Mutter, dem sich mein Vater bis zu seinem Tode treu fügen wollte. Und eines schönen Morgens sah ich einen sehr ernsten, sehr blonden und sehr rasierten Herrn ankommen, der eine blaue Brille trug. Herr Jules Rigard hatte sehr entschiedene Meinungen über den Unterricht, eine schulmeisterliche Schroffheit und priesterliche Wichtigkeit in seinem Benehmen, die, weit entfernt davon mich aufzumuntern, mir im Gegenteil alle und jede Lust zum Lernen benahmen. Man hatte ihm ohne Zweifel gesagt, daß meine Intelligenz träge und spät entwickelt sei, und da ich von seinen ersten Stunden Nichts begriff, hielt er sich an dieses erste Urteil und behandelte mich wie ein idiotisches Kind. Niemals kam es ihm in den Sinn in meine junge Seele einzudringen, mein Herz zu befragen, niemals dachte er daran, ob sich nicht unter dieser traurigen Maske des einsamen Kindes vielleicht ein inbrünstiges Sehnen verberge, das meinen Jahren weit voraus sei, eine leidenschaftliche und unruhige Natur vielleicht, die nach Wissen durstete, die sich nach Innen entwickelt hatte und im Schweigen der zurückgehaltenen Gedanken, der stummen Begeisterung, stecken geblieben war. Herr Rigard stumpfte meinen Geist durch sein Griechisch und Latein nur noch mehr ab, und das war Alles. Ach, wie viele Kinder hätten sich vielleicht zu großen Männern entwickelt, wenn ihre geistigen Fähigkeiten nicht von einem einfältigen Vater oder unwissenden Lehrer in furchtbarer Weise erstickt – wenn sie verstanden und richtig geleitet worden wären! Kommt es denn nur darauf an uns in brünstiger Begierde viehisch erzeugt zu haben, muß denn nicht das Werk der Schöpfung fortgesetzt werden, gekräftigt werden, dadurch, daß man uns geistige Nahrung giebt und Waffen, uns zu verteidigen? In Wirklichkeit fühlte meine Seele sich noch einsamer bei meinem Vater als bei meinem Lehrer. Und doch that er alles, was er konnte, um mir zu Gefallen zu sein, er war förmlich versessen darauf, mich in der thörichtsten Weise zu lieben. Aber war ich bei ihm, konnte er nie etwas anderes finden, um es mir zu erzählen, als dumme Ammenmärchen, grausige Gespenstergeschichten, furchtbare Erzählungen aus der Revolution von 1848, die in seinem Geiste einen unüberwindlichen Schrecken hinterlassen hatte. Oder auch Berichte über die Schandthaten eines gewissen Lebecq, der ein großer Republikaner war und die Umgegend in Aufruhr versetzte durch seinen eifrigen Widerstand gegen den Pfarrer und durch seine hartnäckige Weigerung, an den Tagen des Fronleichnamsfestes, seine Fenster mit kleinen gemusterten Teppichen zu behängen, wie die Anderen es thaten. Oft nahm mein Vater mich, wenn er Geschäfte auf dem Lande zu besorgen hatte, mit sich hinaus in seinem kleinen Kabriolett, und wenn ich, aufgeregt durch das Geheimnis der Natur, die mir mit jedem Tage großartiger erschien, eine Frage an ihn richtete, wußte er nicht, was er mir antworten sollte und zog sich mit den Worten aus der Verlegenheit: »Du bist noch zu klein um das zu verstehen. Warte bist Du größer wirst.« Und schmächtig und mager wie ich war, drückte ich mich, neben meines Vaters schwerem Körper, der auf dem holperigen Wege hin und her schwankte, ganz in die Ecke des Kabrioletts, während mein Vater mit dem Peitschenstiel die Pferdefliegen tötete, die sich auf den Rücken unserer Stute setzten. Und jedesmal sagte er: »Ich habe nie so viele von diesen gräßlichen Tieren gesehen, es ist sicher ein Gewitter im Anzuge.«

In der Kirche von Saint-Michel stand im Hintergrunde einer kleinen, von dem roten Lichtscheine eines Kirchenfensters erleuchteten Kapelle, auf einem Altar, der mit Stickereien und Vasen geschmückt war, in denen Papier-Blumen steckten, eine Statue der heiligen Jungfrau. Sie hatte eine rosige Hautfarbe, trug einen blauen, silberverbrämten Mantel, ein lila Kleid, das in keuschen Falten über die vergoldeten Sandalen fiel. Auf ihrem Arm trug sie ein nacktes, rosiges Kind, dessen Kopf von einem goldenen Heiligenschein umgeben war, und ihre Augen ruhten mit schwärmerischem Ausdrucke auf dem Kinde. Während mehrerer Monate wurde diese Jungfrau aus Gips meine einzige Freundin, und ich verbrachte alle Zeit, die ich von meinen Schulaufgaben erübrigen konnte, in Betrachtung versunken vor diesem Bilde mit den lichten, zarten Farben. Sie schien mir so schön zu sein, so gut und so sanft, daß kein lebendes Geschöpf diesem leblosen und gemalten Gegenstande an Schönheit, Güte und Sanftmut hätte gleichkommen können; sie sprach eine unbekannte und entzückende Sprache zu mir, und es war, als entströmte ihr ein berauschender Duft von Weihrauch und Myrrhen. Bei ihr wurde ich wirklich zu einem anderen Kinde; ich fühlte, wie meine Wangen sich rot färbten, wie das Blut mir kräftiger in den Adern pulsierte, meine Gedanken lebhafter und lichter wurden; es schien mir, als höbe sich der schwarze Schleier, der auf meiner Intelligenz lastete, nach und nach, um neue Klarheit leuchten zu lassen. Marie war übrigens, was diese Ausflüge in die Kirche betraf, meine Mitschuldige; sie führte mich oft in die Kapelle, wo ich mich stundenlang mit der heiligen Jungfrau unterhielt, während das alte Kindermädchen, auf den Stufen des Altars niederknieend, fromm ihren Rosenkranz betete. Sie mußte mich dann mit Gewalt aus meiner Extase herausreißen, denn von selbst hätte ich gewiß nie daran gedacht wieder nach Haus zurückzukehren, weltentrückt wie ich war, versunken in Träume, die mich in den Himmel trugen. Meine Leidenschaft für diese heilige Jungfrau wurde so heftig, daß ich mich fern von ihr unglücklich fühlte, und nur den einen Wunsch hatte, sie nie zu verlassen. »Der Herr Jean wird ganz gewiß Prediger werden,« sagte die alte Marie. In mir stieg ein Bedürfnis auf sie zu besitzen, ein heißes Verlangen, sie in meine Arme zu schließen, sie zu umschlingen und mit Küssen zu bedecken. Es kam mir die Idee, sie zu zeichnen, und mit welcher Liebe ich dies that, kann man sich gar nicht vorstellen! Als sie endlich auf meinem Papier in den ersten groben Umrissen, scheinbar ähnlich, dastand, war es eine grenzenlose Freude für mich. Ich legte jede Kraftanstrengung, über die ich verfügte, in diese Arbeit hinein, die ich für bewunderungswürdig, ja übermenschlich hielt. Mehr als zwanzig Mal fing ich von vorne an, aufgebracht gegen meinen Bleistift, der sich den sanften Linien nicht anbequemen wollte, gegen das Papier, auf dem das Bild nicht lebend, sprechend, so wie ich es zu sehen wünschte, hervortreten wollte. Ich wurde wie versessen auf diese Arbeit, mein Wille war nur auf dies eine Ziel gerichtet. Endlich gelang es mir eine einigermaßen richtige, freilich sehr naive Idee von der gipsernen Jungfrau zu geben. Und plötzlich dachte ich nicht mehr daran. Eine innere Stimme hatte mir gesagt, daß die Natur schöner, wehmütiger, herrlicher sei, und ich begann die Sonne zu betrachten, die die Bäume liebkoste, auf den Schiefersteinen der Dächer spielte, das Grün vergoldete, die Flüsse leuchten ließ und blitzen; ich begann der pochenden Lebenslust, die alle Wesen erfüllt, zu lauschen, jener Lebenslust, welche die Erde wie einen Körper aus Fleisch erzittern macht.

Die Jahre flossen dahin, langweilig und leer. Ich blieb ein stiller und menschenscheuer Knabe, der beständig in sich selber verschlossen, es liebte durch die Felder zu streifen und sich im tiefsten Dunkel des Waldes aufzuhalten. Es schien mir, als sei ich dort wenigstens, eingelullt von der mächtigen Stimme der Natur, nicht so schmerzlich einsam, als hörte ich dort gleichsam mich selber leben. Ohne die furchtbare Fähigkeit der Analyse zu besitzen, des Sichausfragens, mit der einige Menschen unaufhörlich das Warum ihrer Handlungen untersuchen, fragte ich mich oft, wer ich sei und was ich wolle. Ach! ich war Nichts und wollte Nichts. Meine Kindheit war in dunkler Nacht dahingegangen, meine Jugend verstrich in Unklarheit; ich war kein Kind gewesen, und konnte deshalb auch kein Jüngling werden. Ich lebte sozusagen in einem Nebel. Tausend Gedanken regten sich in mir, aber so verworren, daß ich ihre Form nicht ergreifen konnte; keiner von ihnen löste sich deutlich ab vom Hintergrunde dieses undurchsichtigen Nebels. Ich fühlte Sehnen, ich fühlte Begeisterung, – es wäre mir aber unmöglich gewesen mein Sehnen, meine Begeisterung mir klar zu machen, ihre Ursache und ihren Gegenstand anzugeben; ich fühlte in mir eine so unendliche Zärtlichkeit, daß mein Wesen sich ganz darin auflösen konnte, aber für wen und für was? Ich wußte es nicht. Zuweilen konnte ich plötzlich bitterlich zu weinen anfangen, aber weshalb eigentlich? Ich wußte es ebenso wenig. Nur das stand fest: ich mochte an Nichts lebhaften Anteil nehmen, ich konnte in meinem Leben keinerlei Ziel erblicken und fühlte mich unfähig zu jeder Anstrengung. Die Kinder pflegen zu sagen: »Ich will General, Bischof, Arzt, Gastwirt werden.« Ich habe nie so Etwas gesagt; nie bin ich über den gegenwärtigen Augenblick hinaus gegangen; nie habe ich es gewagt einen Blick in die Zukunft zu werfen. Der Mensch schien mir wie ein Baum zu sein, der unter einem gewitterschweren Himmel seine Zweige ausstreckt und seine Blätter ausbreitet, ohne zu wissen, welche Blumen an seinem Fuße wachsen werden, welche Vögel in seiner Krone singen werden, oder welcher Blitzschlag ihn demnächst niederstrecken wird. Und doch drückte mich das Gefühl von der moralischen Einsamkeit, in der ich lebte, nieder, es ängstigte und erschreckte mich. Ich konnte mein Herz weder meinem Vater noch meinem Lehrer eröffnen, ich konnte es Niemandem eröffnen; ich hatte keinen Kameraden, kein lebendes Wesen, das mich verstehen, mich leiten und lieben konnte. Mein Vater und mein Lehrer waren trostlos über meine »geringen Fähigkeiten«, und die Leute der Umgegend hielten mich für halb verrückt, für schwachsinnig. Trotz alledem bestand ich mein Examen, und obgleich weder mein Vater noch ich selber irgend eine Ahnung davon hatten, welchen Beruf ich wohl ergreifen könnte, wurde ich nach Paris geschickt, um dort die Rechte zu studieren. »Rechtswissenschaft ist die Grundlage für alles Andere,« sagte mein Vater.

Paris versetzte mich in Erstaunen. Die Stadt rief in mir den Eindruck eines großen, lärmenden Tollhauses hervor. Die einzelnen Individuen und die Massen glitten an mir vorüber, scheinbar in närrischer, unzusammenhängender, zügelloser Weise, und begingen Handlungen, die meine Phantasie mir als entsetzlich und ungeheuerlich ausmalte. Von Pferdeköpfen gestoßen, von Menschen gedrängt, betäubt von dem Geräusche der Stadt, die mir wie eine riesengroße, teuflisch dahinrasende Fabrik erschien, geblendet vom Glanze der vielen ungewohnten Lichter, ging ich umher wie in einem mir unerklärlichen Wahnsinn. Ich war sehr überrascht dort Bäume zu finden. Wie hatten sie nur, in dieser steingepflasterten Erde, keimen können, inmitten dieses steinernen Waldes und dieses Menschengewimmels, die Zweige vom bösen Winde hin und her gepeitscht, emporschießen können? Es dauerte lange, bevor ich mich an dieses Dasein gewöhnen konnte, das mir wie die Vergewaltigung der Natur vorkam; und aus dem Innern dieser siedenden Hölle heraus, kehrten meine Gedanken oft zurück zu jenen friedlichen Feldern dort unten, die den frischen Duft der bearbeiteten und fruchtbaren Erde zu mir aufsteigen ließen; zu jenen grünen, lauschigen Waldwinkeln, wo ich Nichts hörte als das sanfte Rauschen der Blätter, und von Zeit zu Zeit, wiederhallend aus den stillen Tiefen des Waldes, die dumpfen Schläge der Axt und das fast menschliche Ächzen der alten Eichen. Doch jagte mich die Neugierde, die Alles kennen wollte, immer von Neuem aus dem kleinen Zimmer, das ich in der Rue Oudinot bewohnte, und ich lief die Straßen, die Boulevards, die Quais entlang, in fieberhafter Eile dahinstürmend, mit zitternden Händen, und das Gehirn sozusagen zermalmt von der mächtigen und nervösen Aktivität der Riesenstadt. Meine Sinne drohten aus dem Gleichgewicht zu kommen inmitten all dieser vielen Farben, Gerüche, Geräusche, bei der Fremdheit und Seltsamkeit all dieser mir so neuen Eindrücke. Je mehr ich mich in den Taumel hineinstürzte und mich an dem Schauspiel berauschte, je häufiger ich diese Tausende von Menschenleben an mir vorübertreiben sah, gleichgültig gegeneinander, ohne sichtbares Band, und wieder andere emportauchen, verschwinden und von neuem erstehen sah, und das so weiter in einer Unendlichkeit – je mehr fühlte ich meine Einsamkeit, wie ein niederdrückendes, unerbittliches Schicksal auf mir lasten. War ich in Saint-Michel auch sehr allein gewesen, so kannte ich dort doch alle Wesen und Dinge. Ich hatte überall Merkzeichen, die meinen Geist leiteten, einen Bauernrücken, der sich über den Erdboden bückte, eine baufällige Hütte an der Biegung des Weges, eine Vertiefung im Terrain, eine Mergelgrube, der Baumstumpf einer Weißbuche – alles war mir vertraut, wenn auch nicht lieb. In Paris hingegen war mir alles unbekannt und feindlich. Wie hätte man, und wäre es auch nur für einen kurzen Augenblick, in der entsetzlichen Hast mit der sie sich alle bewegten, dem tiefen Egoismus und gegenseitigen Vergessen, die Aufmerksamkeit dieser Leute, dieser Schemen festhalten können, ich meine ja nicht die Aufmerksamkeit einer Zärtlichkeit oder eines Mitleidens, sondern nur eines einfachen Blickes! … Eines Tages sah ich einen Menschen, der einen anderen Menschen tötete; man bewunderte ihn, und sein Name war sofort in aller Mund. Am nächsten Tage sah ich ein Weib die Röcke mit unzüchtiger Gebärde aufheben: die Masse folgte ihr in großem Aufzuge.

Da ich sehr schüchtern und mit den Sitten der Gesellschaft unbekannt war, wurde es mir schwer Verbindungen anzuknüpfen. Ich setzte kein einziges Mal den Fuß in die Häuser, wohin ich empfohlen war, aus Furcht, daß man mich lächerlich finden würde. Ich war einmal zum Diner eingeladen worden bei einer Cousine meiner Mutter, die reich war und ein großes Haus machte. Der Anblick des eleganten Gebäudes, der Bedienten in der Vorhalle, der vielen Lichter und teppichbelegten Treppen, dazu der schwere Duft der welkenden Blumen, alles das machte mir Angst, und ich ergriff deshalb die Flucht, draußen auf der Treppe eine Dame fast umstoßend, die im scharlachroten Mantel die Stufen emporstieg, und über mein verwildertes Gebahren an zu lachen fing. Die geräuschvolle Fröhlichkeit der jungen Leute – meiner Studiengenossen – die ich in den Vorlesungen, im Restaurant, in den Cafés traf, mißfiel mir ebenfalls. Die Plumpheit ihrer Vergnügungen verwundete mein Gefühl, und ihre Frauen, mit den schwarzumränderten Augen, den zu roten Lippen, dem Mangel an Anständigkeitsgefühl in Worten und Haltung, reizten mich nicht. Desungeachtet betrat ich eines Abends, als ich, in abgespannter Stimmung, von einer plötzlichen, sinnlichen Aufregung überfallen wurde, ein öffentliches Haus und ich verließ es, von Scham und Gewissensbissen erfüllt, unzufrieden mit mir selber und mit einem Gefühl, als sei meine Haut mit Schmutz in Berührung gekommen. Was? Aus dieser dummen und unsauberen Handlung wurden die Menschen geboren? Von diesem Augenblick an weilte mein Blick häufiger auf den Frauen, aber er war nicht mehr rein, und indem er sich auf sie richtete, als wären sie unkeusche Bilder gewesen, suchte er unter dem Putz, der Toilette das Geschlecht und die Nacktheit des Körpers. Ich lernte dann die einsame Sinnenlust kennen, die mich noch verschlossener, noch unruhiger und verträumter machte. Eine Art von wüster Betäubung bemächtigte sich meiner. Ich blieb während mehrerer Tage im Bette liegen, von Zeit zu Zeit von plötzlichem, furchtbarem Alpdrücken gepackt, von Herzbeklemmungen geängstigt, die mir den Schweiß auf die Stirn trieben. Ich lag in meinem Zimmer, hinter geschlossenen Vorhängen, wie ein Toter etwa, der das volle Bewußtsein von seinem Tode hat und der über sich, tief unten aus der furchtbaren schwarzen Nacht, aus der Gruft heraus, das dumpfe Brausen eines Volkes und das ferne Lärmen einer Stadt hört. Dann und wann riß ich mich aus diesem Zustande der Vernichtung los und ging aus. Aber was sollte ich anfangen? Wo sollte ich hingehen? Alles war mir gleichgültig; ich hatte keinen Wunsch, keine Neugierde. Mit starrem Blick und gebeugtem Haupte, mit schwerem Blute, schritt ich vorwärts aufs Geratewohl, bis ich mich endlich im Park du Luxembourg auf eine Bank niederfallen ließ, wo ich stundenlang, greisenhaft in mich zusammengesunken und unbeweglich, sitzen blieb, ohne etwas zu sehen, ohne etwas zu hören, ohne mich zu fragen, weshalb die Kinder da seien, die dort um mich herum spielten, die Vögel, die da sangen, die Paare, die an mir vorüber gingen … Natürlich arbeitete ich nicht und dachte an Nichts … Dann kam der Krieg … und die Niederlage … Trotz den Einwendungen meines Vaters, trotz der Bitten der alten Marie, ließ ich mich anwerben.


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