Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.

Ist Mme. Juliette Roux zu Hause?«

»Bitte, treten Sie näher« … sagte das Dienstmädchen.

Ohne mich um meinen Namen zu befragen, ohne eine Antwort abzuwarten, führte sie mich durch ein kleines, sehr dunkles Vorzimmer in einen Salon, von dem ich zuerst nichts unterschied, als eine Lampe mit einem großen rosa Schirm, die ruhig in einer Ecke brannte. Das Dienstmädchen schraubte die Lampe in die Höhe und hob einen Mantel von Otterfell auf, der hingeworfen auf einem Divan lag.

»Ich werde die gnädige Frau benachrichtigen,« sagte sie. Sie verschwand und ließ mich allein.

So war ich denn bei ihr! … Seit acht Tagen schon peinigte mich der Gedanke an diesen Besuch … Ich hatte keinerlei Plan, keinerlei Vorhaben damit verbunden; ich wünschte Juliette zu sehen, das war alles; etwas wie eine außerordentlich lebhafte Neugierde, die ich nicht weiter analysierte, zog mich zu ihr … Mehrere Male schon war ich in die Rue de Saint-Petersbourg gegangen, in der bestimmten Absicht, mich ihr vorzustellen; im letzten Augenblick aber fehlte mir der Mut, und ich war wieder umgekehrt, ohne die Thürschwelle ihres Hauses zu überschreiten … Jetzt, in diesem Augenblick, war ich der verlegenste Mensch von der Welt und bedauerte meine Dummheit sehr, denn es war augenscheinlich eine Dummheit … Wie würde sie mich empfangen? … Was sollte ich ihr sagen? … Allerdings hatte sie mich zum Kommen aufgefordert … würde sie sich überhaupt meiner erinnern? … Was mich aber am meisten beunruhigte, war, daß ich vergebens meine Intelligenz um Hilfe anrief; es wollte mir auch nicht der einfachste Satz, nicht das geringste Wort einfallen, womit ich die Unterredung hätte eröffnen können, wenn Juliette in der nächsten Minute eingetreten sein würde! …

Das Zimmer, in dem ich mich befand, war eine Art von Toilettenkabinett, das zugleich als Salon diente. Der Eindruck, den es auf mich machte, war unangenehm. Der Toilettentisch, der sich mit seinen beiden rosa, gesprungenen Krystallflacons in brutaler Weise breit machte, beleidigte mein Gefühl. Außerdem waren die Wände mit schreiend rotem Atlas bekleidet, die Möbel von gesticktem Plüsch, die Portieren überladen, und überall standen sehr teure und sehr geschmacklose Nippsachen; auch waren da bizarre Tische, die keinem Zweck dienten, Konsolen, die schwerfälligen Schmuck trugen – das Ganze verriet einen vulgären Geschmack. Ich bemerkte mitten auf dem Kamin, zwischen zwei massiven Vasen von Onyx, eine Statuette aus Terracotta, eine Liebesgöttin darstellend, welche mit schwellenden Brüsten und einem Lächeln auf den zugespitzten Lippen, eine Blume, die sie zwischen den auseinander gespreizten Fingern hielt, darreichte. Jede Einzelheit verriet einerseits die Liebe zum groben und teueren Luxus, andererseits eine bedauerungswürdige Neigung zur Romantik, zur kindisch-einfältigen Rührseligkeit, gleichzeitig peinlich und sentimental.

Trotz alledem – und das war mir wieder eine Befriedigung – fand ich nicht das Zusammengestückelte, Flüchtige und Unordentliche der Dirnen-Wohnungen, wo man die wilde Existenz herausfühlt, wo man nach der Anzahl der angehäuften Nippsachen die Anzahl der Liebhaber zählen kann, welche dort eine Stunde, eine Nacht, ein Jahr zugebracht haben; wo jeder Sessel von einer Unkeuschheit oder einem Verrat spricht; wo man hinter einem Glasschrank die Reste eines schwindenden Vermögens entdeckt, auf einer Marmorstatuette Spuren noch warmer Thränen, auf einem Kronleuchter Tropfen noch warmen Blutes erblickt …

Die Thür öffnete sich und Juliette erschien, in einem weißen, langen, lose fließenden Kleide … Ich zitterte … das Blut stieg mir zu Kopfe … aber sie erkannte mich sofort wieder, und hielt mir lächelnd – mit jenem Lächeln, das ich nun endlich wiedersah, die Hand entgegen.

»Ach, Herr Mintié!« sagte sie … »wie liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mich nicht vergessen haben! … Haben Sie vielleicht unseren Freund Lirat, dieses vollkommne Original, kürzlich gesehen?«

»Nein, gnädige Frau; nicht seit dem Tage, da ich die Ehre hatte Sie bei ihm zu treffen …«

»Lieber Himmel, und ich dachte Sie wären unzertrennlich! …«

»Freilich«, antwortete ich, »sehe ich ihn sehr häufig … aber ich habe während der letzten Zeit fleißig gearbeitet.«

Da ich im Ton ihrer Stimme eine ironische Nuance entdeckt zu haben glaubte, fügte ich mit herausfordernder Miene hinzu:

»Er ist ein großer Künstler, finden Sie nicht auch?«

Juliette ließ diese Bemerkung unbeachtet vorübergehen.

»Sie arbeiten also fleißig?« fing sie wieder an … »Übrigens hat man mir ja erzählt, daß Sie ein wahres Mönchsleben führen … und Thatsache ist, daß man Sie nirgends sieht, Herr Mintié!«

Die Unterhaltung nahm eine außerordentlich banale Wendung; das Theater mußte fast alle Unkosten tragen. Über eine Äußerung von mir wurde Mme. Roux sehr erstaunt und ein wenig entrüstet:

»Was? Sie mögen das Theater nicht? … wie ist das möglich? … und Sie wollen ein Künstler sein! … Ich schwärme dafür! … Ich finde das Theater zu amüsant, muß ich sagen! … Denken Sie nur, heute abend gehen wir zum drittenmal ins Variété …«

Man hörte plötzlich ein leises Bellen hinter der Thür.

»Ach, lieber Himmel!« rief Juliette, indem sie eilig aufstand … »Ich habe ja meinen armen Spy vergessen! … Ich muß Ihnen jedenfalls meinen Spy vorstellen, Herr Mintié … Sie kennen meinen Spy noch nicht, wie?«

Sie hatte die Thüre geöffnet und hielt beide Portieren weit auseinander.

»Na, komm herein, Spy!« sagte sie mit zärtlicher Stimme … »Wo bist Du denn, Spy? Komm, armer kleiner Spy!«

Und ich erblickte ein ganz kleines Tierchen, mit spitzer Schnauze und langen Ohren, das auf zierlichen Beinchen, dünn wie die einer Spinne, herangetänzelt kam, und dessen mageres Körperchen zitterte, als würde es vom Fieberfrost geschüttelt. Ein rotseidenes Band mit einer sorgfältig gebundenen Schleife an der Seite, war ihm um den Hals geschlungen.

»Na Spy, geh nun und sag' dem Herrn Mintié schön guten Tag.« Spy richtete seine runden, kalten Tieraugen auf mich und bellte bissig.

»Gut, gut, Spy! … Nun gieb die Pfote! … Was, willst Du wohl gleich die Pfote geben … willst Du es auf der Stelle thun? …«

Juliette hatte sich über den Hund geneigt und drohte ihm strenge mit dem Finger … Spy legte endlich sein Pfötchen in die Hand seiner Herrin, die ihn aufnahm, ihn liebkoste und umarmte.

»Oh, mein kleiner Liebling! … Oh, der gute, gute Hund … Oh, der kleine liebe, gute, süße Hund! …«

Sie setzte sich wieder hin und behielt ihn wie ein kleines Kind in ihren Armen, legte ihre Wange an die Schnauze des gräßlichen Tieres und flüsterte ihm tausend sanfte und einschmeichelnde Koseworte ins Ohr.

»Na, und jetzt zeige, daß Du zufrieden bist, mein kleiner Liebling … zeige es Deinem Mütterchen, Spy! …«

Spy bellte abermals; darauf leckte er Julietten die Lippen, die sich vergnügt diesen widerlichen Liebkosungen hingab.

»Ach, wie bist Du doch niedlich, Spychen! … Ja, Du bist ein niedliches, niedliches, niedliches Tierchen!«

Und indem sie sich darauf plötzlich an mich wendete, den sie seit Spys unglücklichem Eintritt total vergessen zu haben schien, fragte sie:

»Sie lieben die Hunde auch, Herr Mintié?«

»Aber sehr, gnädige Frau,« antwortete ich. Darauf erzählte sie mir, mit einer Flut von kindischen Einzelheiten, die Geschichte ihres Spy, seine Gewohnheiten, seine Ansprüche, seine Wunderlichkeiten, seine Scenen mit der Hausmeisterin, die ihn nicht ausstehen konnte.

»Aber man muß ihn sehen, wenn er in seinem Bettchen liegt,« behauptete sie … »Wenn Sie wüßten – er hat ein Bett, er hat Betttücher und ein Deckbett aus Eiderdaunen wie ein großes Menschenkind … Jeden Abend bringe ich ihn zu Bett … Und sein kleines schwarzes Köpfchen sieht so lustig aus darin … Nicht wahr, Herr Spy, Sie sehen dann sehr, sehr komisch aus?«

Spy suchte sich auf dem Kleide seiner Herrin einen bequemen Platz aus, und nachdem er sich gedreht, gedreht, gedreht hatte, rollte er sich zu einer Kugel zusammen und verschwand fast ganz in den Falten des seidenen Stoffs.

»Das ist recht, mein Tierchen! … Schlaf nur ein, eia, popeia, mein Spychen! …«

Während dieser langen Unterhaltung mit Spy hatte ich Juliette in aller Ruhe betrachten können … Sie war wirklich sehr schön, schöner als ich sie mir unter dem Schleier gedacht hatte. Ihr Gesicht war geradezu strahlend vor Klarheit und morgenfrischer Unberührtheit, und diese Frische teilte sich gleichsam der sie umgebenden Luft mit, so daß sie förmlich leuchtend wurde. Wenn sie sich umwandte oder sich vornüberneigte, sah ich ihre schweren, schwarzen Haare in einer dicken Flechte hinten auf dem Kleide herunterhängen; das gab ihr etwas Jungfräuliches, machte ihre Jugend noch jünger. Es schien mir allerdings, als grübe sich vorn in ihrer Stirn, wo die Haare ansetzten, eine gerade, eigenwillige Falte ein; sie wurde aber nur in gewissen Beleuchtungen sichtbar, und die alles überstrahlende Sanftheit ihrer Augen, die außerordentliche Güte ihres Mundes milderten die Härte der Stirn. Unter dem weiten Kleide fühlte man einen geschmeidigen, nervösen Körper sich elastisch auf den Hüften wiegen, einen Körper, der leidenschaftlicher Hingebung und kraftvoller Umarmung fähig war. Was mich aber vor allem entzückte, waren ihre Hände, geschickte und fein geformte Hände, die von einer ganz außerordentlichen Behendigkeit waren und deren Bewegungen, selbst wenn Juliette gleichgültig, ja selbst wenn sie zornig war, wie Liebkosungen auf mich einwirkten. Es wäre mir ungemein schwer geworden ein genaues Urteil über sie zu fällen. In dieser Frau war eine Mischung von Unschuld und Wollust, von Feinheit und Dummheit, von Güte und Bosheit, die mich völlig außer Fassung brachte. Sonderbar! Einen Moment sah ich ganz deutlich das gräßliche Bild des Sängers vom Bouffes neben ihr aufsteigen; seine Gestalt bildete sozusagen ihren Schatten. Weit davon sich aufzulösen, gewann diese Gestalt, je nachdem ich Juliette näher betrachtete, gewissermaßen an körperlicher Konsistenz. Sie schnitt mir Fratzen zu, sprang auf und nieder und schüttelte sich mit gemeinen, niederträchtigen Verzerrungen ihrer Glieder; ihre Lippen verlängerten sich in schmutziger, obscöner Weise Julietten entgegen, die ihn an sich zog, ihre Hand in sein Haar vergrub und sie zitternd an seinem Körper hinuntergleiten ließ, glücklich sich durch unreine Berührungen besudeln zu dürfen. Und der widerliche Hanswurst entkleidete Juliette und zeigte sie mir in der verfluchten Herrlichkeit der Sünde, vergehend vor Lust! …

Ich mußte die Augen schließen und eine schmerzliche Anstrengung machen, um diese abscheuliche Vision fortzujagen. Als die Gestalt verschwunden war, nahm Juliette sofort wieder ihren Ausdruck von rätselhafter und aufrichtiger Zärtlichkeit an.

»Und vor allem, besuchen Sie mich oft, recht oft,« sagte sie zu mir, indem sie mich hinausbegleitete, während Spy, der ihr ins Vorzimmer gefolgt war, bellte und auf seinen zierlichen Spinnenbeinchen herumtänzelte.

Kaum war ich draußen, als ich einen hastigen und heftigen Rückfall meiner Liebe zu Lirat verspürte, und indem ich mir Vorwürfe darüber machte, ihm in gewisser Weise gegrollt zu haben, beschloß ich am selben Abend noch zu ihm zu gehen und bei ihm zu Mittag zu essen. Während der Strecke Weges von der Rue Saint-Petersbourg bis zum Boulevard de Courcelles, wo Lirat wohnte, stellte ich bittere Betrachtungen an. Dieser Besuch hatte mich ernüchtert, ich stand nicht mehr unter dem Zauber des Traumes, und schnell kehrte ich zum einsamen, trostlosen Leben und zum Nihilismus der Liebe zurück. Was ich mir über Juliette zurechtphantasiert hatte, war etwas sehr Vages … Mein Geist, der sich an ihrer Schönheit erhitzt, hatte ihr moralische Eigenschaften verliehen, intellektuelle Vorzüge, die ich mir nicht näher erklärte, die ich mir aber als ganz außerordentliche vorgestellt hatte; außerdem hatte Lirat dadurch, daß er ihr ohne Grund eine ehrlose Existenz und schändliche Neigungen beilegte, sie zu einer Märtyrerin gemacht, was mein Herz tief gerührt hatte. Indem ich nun die Verrücktheit noch weiter trieb, hatte ich mir eingebildet, daß sie, von einer unwiderstehlichen Sympathie bewogen, mir alle ihre Leiden, alle die ernsten und schmerzlichen Geheimnisse ihrer Seele anvertrauen würde; ich sah mich schon im Geiste, wie ich sie tröstete, ihr von Tugend, Pflicht und Resignation sprach … Kurzum, ich hatte eine Reihe von feierlichen und rührenden Sachen erwartet … Statt dieser Poesie empfing mich nun der greuliche Hund, der mir zwischen die Beine bellte, und eine Frau wie die anderen, ohne Hirn, ohne Ideen, die einzig und allein von Vergnügungen erfüllt war, deren Traum nicht weiter reichte als bis zum Théatre-des-Variétés, und bis zu den Liebkosungen ihres Spys, ihres Spys! … ha! ha! ha! ihres Spys, ihres lächerlichen Hundes, den sie mit den Worten und Zärtlichkeiten einer Portiersfrau liebte! Und im Weitergehen versetzte ich im leeren Raume einem eingebildeten Spy wütende Fußtritte, indem ich Juliettens Stimme nachäffend, immer und immer wiederholte: »Oh, mein kleiner Liebling! … Oh, der gute Hund! … Oh, das kleine, liebe, süße Spychen!« Und – ich will es nur gestehen – ich war auch böse auf sie, daß sie mein Buch mit keinem Worte erwähnt hatte. Daß man im gewöhnlichen Leben nicht mit mir darüber sprach, war mir so ziemlich gleichgültig; aber ein Kompliment von ihren Lippen hätte mich in Entzücken versetzt! Ich hatte so sehr gehofft von ihr zu hören, daß diese Stelle sie zu Thränen gerührt, jene sie entrüstet habe, und nun – nichts … Nicht einmal eine Andeutung! Und das trotzdem ich ihr, wie ich mich genau entsann, in geschickter Weise die Gelegenheit geboten hatte zu dieser – Höflichkeit.

»Ach, sie ist eine dumme Gans!« schloß ich, während ich vor Lirats Thür die Klingel zog …

Lirat empfing mich mit offenen Armen.

»Ah, mein lieber Mintié!« rief er aus, »wie reizend von Ihnen, daß Sie heute bei mir zu Mittag essen wollen … Und sie kommen zu guter Stunde, sage ich Ihnen … wir haben heute gerade Kohlsuppe!«

Er rieb sich die Hände und schien ganz glücklich zu sein … Nachdem er mir dienstfertig meinen Überzieher und Hut abgenommen hatte, zog er mich eilig in das kleine Zimmer hinein, das ihm als Salon diente, indem er von neuem wiederholte:

»Mein lieber, kleiner Mintié, ich bin verdammt froh, Sie wieder zu sehen! … Kommen Sie morgen zu mir ins Atelier?«

»Gewiß!«

»Na! Sie werden ja sehen! … Sie werden sehen! … Erstens habe ich die Malerei ganz und gar aufgesteckt, verstehen Sie!«

»Sie wollen doch nicht etwa Kaufmann werden?«

»Hören Sie einen Augenblick! … Sehen Sie, mein kleiner Mintié, die Malerei ist nichts als Aufschneiderei!«

Er ereiferte sich, ging mit langen Schritten im Zimmer auf und ab und holte aus mit den Armen

»Giotto! Mantegna! … Belasquez! … Rembrandt! … Ja, also Rembrandt! … Watteau! Delacroix! … Ingres! … Schön, und nach ihnen? Nein, nein, es ist nicht wahr, die Malerei kann nichts wiedergeben, nichts ausdrücken, es ist die reine Aufschneiderei! … Mag sie für die Kunstkritiker, für die Bankiers und die Generäle, die ihr Porträt malen lassen mit einer explodierenden Granate im Vordergrunde, eine gewisse Berechtigung haben … Aber – ein Stückchen Himmel, die Farbennuance einer Blume, das Zittern auf dem Wasserspiegel, ein Lufthauch … verstehen Sie? … die Luft, ja! … die ganze unsichtbare, unsichtbare Natur mit einem Farbenbrei wiedergeben zu wollen … mit dickem Farbenbrei, denken Sie nur!«

Lirat zuckte mit den Achseln.

»Denken Sie nur! Mit Farbenbrei, den man in Tuben aufbewahrt, der von den schmutzigen Händen der Chemiker zubereitet wird, mit schwerem, undurchsichtigem Farbenbrei, der wie Eingemachtes an den Fingern kleben bleibt! … Heh, nicht wahr? … Die reine Aufschneiderei! … Da müssen Sie mir doch recht geben, mein kleiner Mintié … Die Zeichnung hingegen, das Aquarell … zwei Töne … ja, das begreife ich! … Das betrügt nicht, ist ehrlich und anständig, außerdem, die Kunstfreunde machen sich drüber lustig und lassen einen in Ruhe, langweilen einen nicht! … Da giebt's kein Feuerwerk in ihren Salons abzubrennen! … Ja, ja die wahre Kunst, die erhabene Kunst, die künstlerische Kunst … das ist sie! … Die Bildhauerkunst? … nun ja, wenn es schön ist, versetzt es einem einen Stoß durch die Eingeweide, ja … Und die Zeichnung … die Zeichnung, mein kleiner Mintié, ohne preußisch Blau, die Zeichnung ohne Firlefanz! … Kommen Sie morgen ins Atelier? …«

»Gewiß.«

Er fuhr fort, indem er in abgebrochenen und hervorgestoßenen Worten sprach und sich am Klang seiner eigenen Stimme berauschte:

»Ich fange eben eine Reihe von Aquarellen an … na, Sie werden ja sehen … Ein nacktes Weib, das aus schwarzem Schatten emportaucht und auf den Flügeln eines Tieres in die Höhe steigt … Sich rückwärts wälzend, mit wulstigen Schenkeln, mit fettem, faltigem und unedlem Fleische … ein Leib, der dick und aufgeschwemmt ist, und sich nach allen Seiten hin ausbreitet, ein Leib, dessen Aussehen furchtbar und widerlich, aber wahr ist … ein Totenkopf, aber ein lebendiger Totenkopf, verstehen Sie? … gierig und gefrässig, mit Lippen, die alles sagen … Sie steigt also in die Höhe, vor einer Versammlung von alten Herren, mit hohen, seidenen Hüten, mit Pelzmänteln und weißen Halsbinden … Sie steigt, und die alten Herren klammern sich mit schwammigen, hängenden Lippen, mit verdrehten Augen an sie … alle Typen der Ausschweifung sind da versammelt, alle! …

Indem er sich mit trotziger Miene vor mir aufstellte, sprach er weiter:

»Und wissen Sie, wie ich das nenne? … wissen Sie's … Ich nenne es Die Liebe, mein kleiner Mintié, Die Liebe! Na, was denken Sie davon? …«

»Es scheint mir zu symbolistisch,« wagte ich einzuwenden.

»Symbolistisch! …« unterbrach mich Lirat … »Mein kleiner Mintié, erlauben Sie, aber da haben Sie eben eine Dummheit gesagt … Symbolistisch! … Es ist das Leben, ganz einfach! … Na, wollen wir zu Mittag essen.«

Der Mittag verstrich in lustiger Laune. Lirat war geistvoll und interessant; ohne zu übertreiben, ohne paradox zu sein, war er voll von originellen Einfällen über Kunst und Litteratur. Er hatte seine gesunde Begeisterung aus der besten Zeit seines Lebens wiedergefunden. Mehrere Male während unseres Beisammenseins kam mir der Gedanke, ihm zu beichten, daß ich Juliette besucht hatte … Eine Art von Scham aber hielt mich zurück; ich wagte es nicht.

»Arbeiten Sie, arbeiten Sie, mein kleiner Mintié,« sagte er zu mir, als wir uns trennten … »Schaffen! immerfort schaffen! … aus seinen Händen oder seinem Hirn irgend etwas herausziehen, einerlei was … und wären es nur ein Paar Stiefel … das ist noch das einzige, glauben Sie mir!«

Sechs Tage später war ich wieder zu Juliette zurückgekehrt, und bald hatte ich die Gewohnheit angenommen, regelmäßig hinzugehen und eine Stunde vor dem Mittagsessen dort zu verplaudern. Der unangenehme Eindruck, den ich gleich bei meinem ersten Besuch empfangen hatte, schwand allmählig. Nach und nach, und ohne daß es mir selber zum Bewußtsein kam, hatte ich mich so an die roten Atlastapeten im Salon, an die Liebesgöttin aus Terracotta, an Juliettens kindisches Geschwätz, ja selbst an Spy gewöhnt, der mein Freund geworden war, daß es mir, wenn ich das alles einen Tag über nicht gesehen hatte, erschien, als sei an dem Tage eine große Leere in meinem Leben gewesen … Nicht allein, daß die Dinge, die mein Feingefühl einst beleidigt hatten, es jetzt nicht mehr thaten, sie rührten mich im Gegenteil, und jedesmal, wenn Juliette zu ihrem Hunde sprach, oder übertriebene Sorge um ihn zeigte, bereitete das mir ein angenehmes Gefühl, weil es mir wie eine Bestätigung ihrer Naivität und der liebenden Eigenschaften ihres Herzens vorkam. Schließlich ging es so weit, daß ich selber diese Hundesprache sprach … Eines Abends, als Spy leidend war, fühlte ich mich besorgt seinetwegen, und indem ich vorsichtig die Kissen und Decken, die ihn einhüllten, ein klein wenig in die Höhe hob, murmelte ich:

»Wo thut es dem kleinen Spychen Wehweh? … Was? mein Herzchen, wo thut es ihm denn Wehweh?«

Nur störte das Bild des Sängers, das plötzlich neben Juliette auftauchen konnte, zuweilen den Frieden dieser Zusammenkünfte; indessen brauchte ich nur einen Augenblick die Augen zu schließen oder den Kopf umzuwenden, und es verschwand sofort.

Ich versuchte Juliette zu bewegen, mir ihr Leben zu erzählen. Bisher hatte sie sich aber immer geweigert.

»Nein, nein,« sagte sie, und mich mit ihren großen, traurigen Augen anblickend, fügte sie mit einem Seufzer hinzu:

»Zu welchem Zweck, mein Freund.« Aber ich bestand auf meiner Bitte, ja ich flehte sie darum an.

»Es ist für Sie eine Pflicht, mir ihr Leben zu erzählen, für mich eine Pflicht es kennen zu lernen.«

Endlich willigte sie ein, besiegt durch dieses Raisonnement, daß ich nicht unterließ, ihr in vielfacher und überzeugender Einkleidung zu wiederholen … Ach, welcher Jammer!

Sie hatte in Liverdun gelebt. Ihr Vater war Arzt, und ihre Mutter, die ihm untreu gewesen war, hatte ihn verlassen … Was Juliette betraf, so hatte man sie zu den frommen Schwestern in halbe Pension gegeben … Der Vater trank und kam jeden Abend betrunken nach Haus … dann gab es furchtbare Scenen, denn er war sehr boshaft. Der Skandal wuchs und wurde so groß, daß die Schwestern Juliette heimschickten, weil sie die Tochter eines Trunkenboldes und einer verderbten Mutter nicht bei sich behalten wollten … Ach, welch elendes Leben hatte sie geführt! Beständig in ihrem Zimmer eingeschlossen, hatte sie nie gewagt auszugehen, und öfter war sie ohne Grund von ihrem eigenen Vater geprügelt worden … Eines Nachts spät trat der Vater in Juliettens Zimmer und … (Wie kann ich Worte finden, um Ihnen das auszudrücken! sagte Juliette errötend … Aber, Sie verstehen, nicht wahr?) sie springt aus dem Bette, schreit, öffnet das Fenster … aber der Vater kriegt es mit der Angst und verläßt sie … Am folgenden Tage reiste Juliette nach Nancy, wo sie von ihrer Arbeit zu leben hoffte … Da hatte sie Charles kennen gelernt.

Während sie mit sanfter und immer gleichmäßiger Stimme erzählte, hatte ich ihre Hand hingenommen, ihre schöne Hand, die ich an den schmerzlichen Stellen des Berichtes gerührt drückte. Und wie war ich empört über diesen Schurken von einem Vater! … Und die Mutter, die ihr Kind verlassen konnte, ich fluchte ihr! …

Ich fühlte in mir eine unendliche Aufopferungsfähigkeit sich regen, auf der anderen Seite stieg in mir eine dumpfe Rachsucht auf … Als sie zu Ende war, weinte ich heiße Thränen … Es war eine wunderbare, eine köstliche Stunde!

Juliette empfing nur wenig Menschen, einige Freunde von Malterre und zwei oder drei Frauen, Freundinnen der Freunde von Malterre. Die eine von ihnen, Gabrielle Bernier, eine große, sehr hübsche Blondine, trat immer in derselben Weise ins Zimmer.

»Guten Tag, mein Herr … guten Tag, Kleine … lassen Sie sich nicht stören, ich mache sofort wieder, daß ich wegkomme!«

Und sie setzte sich auf die Lehne eines Fauteuils, indem sie mit ungestümen Gesten ihren Muff glättete.

»Denken Sie nur mal, ich habe eben wieder eine Scene mit Robert gehabt … Wenn Sie wüßten, was das für ein Mensch ist! … Er kommt vorhin zu mir herauf und sagt im weinerlichen Ton: ›Meine kleine Gabrielle, ich muß Dich verlassen; meine Mutter hat mir heute morgen erklärt, daß sie mir kein Geld mehr geben wird.‹ ›Deine Mutter! Der werd' ich schon antworten! … Du kannst Deiner Mutter von mir sagen, daß ich Dich an dem Tage, zu der Stunde verlassen werde, wo es ihr paßt, ihre Liebhaber zu verlassen. Bis dahin kann Deine Mutter mir gestohlen werden!‹ … Na, hab' ich nicht recht? So' ne liederliche alte Weibsperson! … Hat der Robert aber gelacht! … Sag mal, wir gehen heute abend ins Ambigu … Kommt Ihr mit?«

»Danke, nein!«

»Na, ich mache, daß ich wegkomme! … Lassen Sie sich nicht stören … Adieu, mein Herr, adieu, Kleine …«

Diese Gabrielle Bernier ärgerte mich sehr.

»Weshalb empfangen Sie eigentlich derartige Frauen?« sagte ich zu Juliette.

»Was schadet's, mein Freund? … Sie amüsiert mich.«

Die Freunde von Malterre unterhielten sich gegenseitig vom Rennen, von der eleganten Welt, hatten immer Klub- und Weibergeschichten zu erzählen und wurden nicht müde von Theaterangelegenheiten zu plaudern. Es schien mir, als mache es Juliette ein unvernünftiges Vergnügen an diesen Gesprächen teil zu nehmen; aber ich entschuldigte sie und schrieb ihr entgegenkommendes Wesen auf Rechnung der Höflichkeit. Jesselin, ein sehr reicher, junger Mann, war der Anführer dieser »Bande«, und alle beugten sich vor seiner augenscheinlichen Überlegenheit: »Wie denkt Jesselin drüber? Man muß Jesselin fragen … Jesselin ist aber nicht der Meinung …« Man machte ihm sehr den Hof. Jesselin war viel gereist und kannte die vorzüglichsten Hotels in der ganzen Welt, besser als irgend jemand sonst. Er war in Afghanistan gewesen und hatte von seiner Reise durch ganz Centralafrika nur diese Einzelheit behalten, daß der Emir von Caboul, mit dem er eines Tages die Ehre gehabt hatte eine Partie Schach zu spielen, ebenso schnell wie die Franzosen spielte. »Nein, dieser Emir, es war wirklich verblüffend!« Er wiederholte auch gern: »Sie wissen ja, daß ich mir etliche Reisen spendiert habe … Nun, das kann ich Ihnen sagen … sei es im Sleepingcar, in der Kahytte, in der Telega, einerlei wo und einerlei wie, von halb acht Uhr an, jeden einzigen Abend … im Frack!«

Malterre hatte mich nicht gern, trotzdem wir jetzt Freunde geworden. Von sanftem und schüchternem Charakter, wagte er es nicht mir seinen Widerwillen zu zeigen, da er Julietten zu mißfallen fürchtete, aber ich sah, wie er in seinem Lächeln – dem erstaunten Lächeln eines Hundes – zu Tage trat, und ich fühlte ihn in seinem Händedruck.

Ich war nur glücklich, wenn ich mit Juliette allein war. Dort, im roten Salon, unter der Ägide der Liebesgöttin, saßen wir uns oft lange gegenüber, ohne ein Wort zu sprechen. Ich betrachtete sie; sie senkte den Kopf und spielte in Gedanken mit den Fransen ihres Kleides oder den Spitzen ihrer Taille. Dann stiegen mir die Thränen in die Augen, ohne daß ich wußte weshalb: sanfte Thränen, die über mich hinrieselten wie ein süßes Parfüm und mir die Seele weiteten wie ein magischer Trank. Und ich spürte in meinem ganzen Wesen ein wunderbares Gefühl von Überfülle und köstlicher Betäubung.

»Ach Juliette! Juliette!«

»Mein lieber Freund, beruhigen Sie sich, seien Sie vernünftig!«

Das waren die einzigen Liebesworte, die uns entschlüpften …

Kurze Zeit darauf gab Juliette ein großes Mittagessen, um Charles' Geburtstag zu feiern. Während des ganzen Abends war sie nervös und gereizt. Sie antwortete Charles, wenn er irgend eine schüchterne Bemerkung an sie richtete, in einem kurzen Ton, der mir an ihr fremd war.

Gegen zwei Uhr morgens brach die Gesellschaft auf. Ich war allein im Salon zurückgeblieben. Neben der Thür stand Malterre, der mir den Rücken zudrehte und mit Jesselin sprach, welcher draußen im Vorzimmer seinen Pelz anzog. Da sah ich plötzlich wie Juliette, die am Klavier saß, den Kopf in die Hand gestützt, mich unverwandt anstarrte. In ihren Augen, die ernst geworden waren und einen fast grausamen Ausdruck hatten, kam und ging ein Leuchten wildester Leidenschaft, so daß sie gleichsam mit einer neuen Flamme zu brennen schienen. Die Falte in ihrer Stirn grub sich tiefer ein, ihre schwellenden und aufgeblähten Nasenflügel zitterten; und ein sonderbares, unkeusches Lächeln umspielte ihre Lippen. Ich stürzte auf sie zu. Meine Knie suchten ihre Knie, mein Leib preßte sich an ihren Leib, mein Mund hing sich an ihren Mund, und ich umschlang sie mit stürmischer Glut.

Sie überließ sich meinen Liebkosungen und sagte mit leiser, erstickter Stimme:

»Komme morgen zu mir.«


 << zurück weiter >>