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VI.

Es dauerte nicht lange, so fing Juliette an sich in ihrer schönen Wohnung, von der sie sich so viel Ruhe, so viel Glück versprochen hatte, zu langweilen. Als ihre Schränke eingekramt und ihre kleinen Nippssachen arrangiert waren, wußte sie nicht, was sie beginnen sollte und war etwas verwundert darüber. Die Stickerei machte sie nervös, das Lesen verschaffte ihr keine Zerstreuung. Sie ging gähnend vom einen Zimmer ins andere, ohne zu wissen, womit sie ihre Hände oder ihren Geist beschäftigen sollte. Schließlich flüchtete sie sich in ihr Toilettenkabinett wo sie Stunden damit verbrachte sich anzukleiden, neue Frisuren vor dem Spiegel auszuprobieren und die Hähne an der Badewanne umzudrehen, was ihr für einen Augenblick Spaß machte; sie fing dem Spy seine Flöhe weg, und machte ihm feine Schleifen aus den alten Bändern ihrer Hüte. Die Aufgabe, ihr Haus in Ordnung zu halten, hätte wohl die Leere ihrer Tage ausfüllen können; indessen gewahrte ich bald, zu meinem Kummer, daß Juliette nicht die gute Hausfrau war, die sie sich gerühmt hatte zu sein. Sie verwendete nur Sorgfalt, hatte nur Geschmack und Interesse für ihre eigene Leibwäsche und ihren Hund; um das Übrige kümmerte sie sich nicht, sondern ließ Alles gehen, wie es wollte, oder vielmehr, wie die Dienstboten wollten. Unser neues Dienstpersonal bestand aus einer Köchin, einem schmutzigen, gefräßigen und mürrischen alten Mädchen, deren Küchentalente nicht über die Zubereitung eines Kalbfleischragouts, eines Salates und eines Tapiokapuddings hinausgingen; ferner aus einer Kammerzofe, Célestine, die frech und lasterhaft war und vor Nichts solchen Respekt hatte als vor Menschen, die viel Geld ausgaben, und endlich aus einer Aufwärterin, Mutter Sochard, die unaufhörlich schnupfte und sich gräßlich betrank um, wie sie sagte, ihr Unglück zu vergessen, das heißt ihren Mann, der sie prügelte und ihr das Geld abnahm, und ihre Tochter, die schlecht geraten war. So ging denn auch alles drunter und drüber in unserem Haushalt; das Essen war sehr schlecht, das Übrige dementsprechend. Wenn wir zufälligerweise mal Besuch hatten, bestellte Juliette gleich sehr kostspielige und sehr großartige Gerichte bei Bignon. Ich sah mit Unwillen, wie sich zwischen Juliette und Célestine eine unpassende Vertraulichkeit, eine Art von freundschaftlichem Verhältnis herausbildete. Wenn sie ihrer Herrin beim Ankleiden half, erzählte sie ihr Geschichten, worüber diese sich amüsierte, gab die schmutzigen Intimitäten der Häuser, in denen sie gedient hatte, zum Besten und erteilte Ratschläge … Bei Mme. K… hatte man es so gemacht; bei Mme. B… wieder so. Aber es waren auch »fesche« Stellungen gewesen, »das muß man sagen.« Oft begab sich Juliette in die Wäschekammer, wo Célestine nähte und blieb dort stundenlang auf einem Stoß von Betttüchern sitzen, um die Klatschereien der unerschöpflichen Kammerzofe anzuhören … Ab und zu kam es zwischen ihnen zu Streitigkeiten wegen irgend eines verschwundenen Gegenstandes, oder irgend eines Versäumnisses im Dienst. Célestine konnte dann furchtbar heftig werden, stieß die gröbsten Beleidigungen aus, schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie mit ihrer kreischenden Stimme: »Ne, ich danke … So'ne Dreckbude! So'ne ausgehaltenes Frauenzimmer! Und das erlaubt sich, einen anzuklagen? … He, Du weißt, Kleine … was mach' ich mir aus Dir und Deinem albernen Tropf da drinnen, der wie eine Melone ausschaut …«

Juliette entließ sie sofort aus ihrem Dienst, wollte nicht einmal, daß sie die acht Tage zu Ende bliebe.

»Ja, ja! … auf der Stelle einpacken, abscheuliche Person … auf der Stelle, sage ich!«

Sie kam zu mir herein, kauerte sich an mich und zitterte, bleich vor Aufregung, am ganzen Körper.

»Ach Liebster! Diese nichtswürdige Person, dieses abscheuliche Geschöpf und ich, die so gut gegen sie gewesen bin!«

Am selben Abend noch war Alles vergessen, Alles beim Alten. Und in das Gelächter, das von neuem so lustig wie je erscholl, tönte Célestines gellende Stimme:

»Ja, das muß man sagen, die Frau Gräfin war eine rüde Frauensperson, eine liederliche Frauensperson!«

Eines Tages sagte Juliette zu mir:

»Deine kleine Frau hat Nichts mehr anzuziehen … Sie ist nackend wie ein Wurm, Deine arme kleine Frau!«

Nun folgten neue Gänge zur Schneiderin, zur Putzmacherin und zur Wäschenäherin; und Juliette wurde wieder vergnügt und lebhaft, und liebevoller gegen mich. Der Schatten von Langeweile, der ihr Gesicht verdüstert hatte, schwand … Zwischen den Stoffen und den Spitzen, den Federn und dem Putz war sie in ihrem wahren Elemente; sie strahlte und blühte zusehends auf. Ihre leidenschaftlichen Finger empfanden einen physischen Genuß über die Atlasstoffe hinzugleiten, den Krepp zu betasten, den Sammet zu liebkosen und sich in die milchweißen Fluten der feinen Battiste zu verlieren. Das kleinste Stückchen Seidenzeug nahm sofort unter ihren Fingern, in der Art und Weise wie sie es zurechtsteckte, das niedliche Aussehen einer lebendigen Sache an; aus den Litzenbesätzen und Posamentierwaren wußte sie die entzückendsten Harmonien herzustellen. Obgleich ich mich nicht wenig über diese kostspieligen Phantasien beunruhigte, konnte ich Julietten Nichts abschlagen, und ich überließ mich dem Glücke sie so froh zu wissen, dem Reiz sie so bezaubernd zu sehen, sie, deren Schönheit die leblosen Dinge um sie her verschönerte, die Allem was sie berührte, anmutiges Leben erteilte!

Während eines ganzen Monats wurden jeden Abend Packete, Kartons und allerlei seltsame Futterale zu uns ins Haus gebracht. Und Kleider folgten auf Kleider, Hüte auf Mäntel. Sonnenschirme, gestickte Hemden, die extravagantesten Unterröcke häuften sich an, türmten sich auf und flossen über aus den Schubladen, den Kommoden und Kleiderschränken.

»Weißt Du, Schatz,« erklärte mir Juliette, die meinen erstaunten Blick auffing, »weißt Du … ich hatte gar nichts mehr … Und das da ist nun ein Fond, weißt Du … von dem ich nehmen kann … In Zukunft brauche ich ihn nur zu erhalten … Oh! hab' keine Furcht! Glaub' mir, ich bin sehr sparsam! … So habe ich mir nun zum Beispiel zu allen Kleidern eine hohe Taille zum Ausgehen vormittags machen lassen, und eine ausgeschnittene für den Abend, wenn wir in die Oper gehen! … Rechne nur mal nach, was mir das an Toiletten erspart … Eins … zwei … drei … vier … fünf … fünf Kostüme, Schatz! … Da sieh' nur selbst!«

Sie trug bald darauf im Theater eins von den Kleidern, das Sensation machte. Während dieses entsetzlichen Abends war ich der unglücklichste aller Menschen … Ich fühlte, wie sich alle diese lüsternen Blicke auf Juliette richteten, wie sie sie durchforschten und entkleideten, diese Blicke, die mit so viel Unreinheit an die Frau herantreten, welche bewundert wird. Ich hätte Juliette tief im Hintergrunde der Loge verbergen und ein Tuch aus grober und dunkler Wolle über sie werfen mögen. Mit haßerfülltem Herzen hegte ich den Wunsch, daß das Theater plötzlich, von einer Sündflut untergraben, einstürzen möchte, daß der von der Decke herabfallende Kronleuchter alle diese Menschen zermalmen möchte, die mir, ein jeder etwas von Juliettens Keuschheit entwendeten, etwas von ihrer Liebe raubten. Sie hingegen schien triumphierend zu sagen: »Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, meine Herren, mich so schön zu finden, und Sie sind brave, vortreffliche Menschen.«

Kaum waren wir heimgekehrt, so schloß ich Juliette in meine Arme und hielt sie lange, lange fest an mein Herz gedrückt, indem ich unaufhörlich wiederholte: »Du liebst mich doch, nicht wahr, meine Juliette? …« Aber schon hörte Juliettens Herz mich nicht mehr. Als sie mich traurig sah und an meinen Wimpern Thränen erblickte, bereit sich über meine Wangen zu ergießen, löste sie sich aus meinen Armen los und sagte in pikiertem Ton:

»Was! Ich bin die Schönste von allen gewesen, ja von allen! … Und Du bist nicht zufrieden? … Und Du weinst? … Das ist nicht hübsch von Dir! … Sage, was willst Du denn eigentlich?«

Die Veranlassung zu unserem ersten Streit waren Juliettens Freunde. Gabrielle Bernier, Jesselin und einige andere, die Malterre ehemals nach der Rue de Saint-Pétersbourg mitgebracht hatte, ließen uns keine Ruhe sondern kamen, ohne daß ich sie dazu aufgefordert, uns in der Rue de Balzac zu besuchen … und das paßte mir durchaus nicht, da ich meine Geliebte von ihrer ganzen Vorzeit zu trennen wünschte. Ich erklärte das Julietten rein heraus, die zuerst sehr erstaunt darüber war.

»Was hast Du gegen Herrn Jesselin?« fragte sie. Sie nannte die anderen bei ihren Vornamen … Aber sie sagte Herr Jesselin, mit großem Respekt.

»Ich habe gerade nichts Positives gegen ihn, Liebste … Aber er mißfällt mir, er ärgert mich … er ist lächerlich … Das sind doch Gründe genug diesen Schafskopf nicht mehr sehen zu wollen.«

Juliette wurde sehr entrüstet. Daß ich einen Mann, von der Bedeutung und dem Ansehen eines Herrn Jesselin »Schafskopf« nennen konnte, das wollte ihr nicht in den Sinn. Sie sah mich erschrocken an, als hätte ich eben eine abscheuliche Blasphemie ausgesprochen:

»Ein Schafskopf, Herr Jesselin! … Er, der so comme il faut, so ernst ist! … der in Indien gewesen ist! … Du weißt vielleicht nicht, daß er Mitglied der Geographischen Gesellschaft ist?«

»Und Gabrielle Bernier? … Ist sie auch Mitglied der Geographischen Gesellschaft?«

Juliette wurde nie heftig. Aber wenn sie sich erzürnte, bekamen ihre Augen plötzlich einen harten Ausdruck, die Falte in ihrer Stirn grub sich tiefer ein, und ihre Stimme verlor etwas von ihrer sanften Klangschönheit. Sie antwortete einfach:

»Gabrielle ist meine Freundin.«

»Das mache ich ihr ja gerade zum Vorwurf!«

Ein kurzes Schweigen folgte.

Juliette saß in einem Fauteuil, und während sie die Spitzen an ihrem Hauskleide zwischen den Fingern hin und her drehte, überlegte sie. Ein ironisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Also soll ich überhaupt niemanden sehen? … Das ist es, was Du willst, nicht wahr? … Schön, es wird heiter werden! … Wir gehen so schon niemals aus! … Wir leben so schon wie die Einsiedler! …«

»Davon ist ja gar nicht die Rede, Liebste … Ich habe Freunde … ich werde sie bitten uns zu besuchen …«

»Ja, Deine Freunde, die kenne ich! … Ich sehe sie schon hier! … Schriftsteller, Künstler! … Leute, die man nicht versteht, wenn sie zu einem sprechen … und die nur kommen, um Geld zu borgen! … Ich danke schön! …«

Gekränkt antwortete ich darauf:

»Meine Freunde sind anständige Burschen, die Talent haben, verstehst Du, … während dieser Kretin, und diese schmutzige Dirne! …«

»Genug davon!« sagte Juliette in befehlendem Tone … Du willst es? Schön, ich werde ihnen meine Thüre verschließen … Nur hättest Du, als Du verlangtest mit mir zusammen zu leben, mir damals gleich sagen sollen, daß Du mich lebendig zu begraben beabsichtigtest … Ich hätte dann gewußt, wo ich dran war …«

Sie erhob sich … Es fiel mir nicht ein ihr zu entgegnen, daß sie es ja gerade gewesen, die dieses Zusammenleben zu zweien gewünscht, denn ich wußte zu gut, daß dies die Situation nur unnützerweise verschlimmern würde. Ich ergriff ihre Hand.

»Juliette!« flehte ich.

»Nun, was ist?«

»Du bist böse?«

»Ich? Im Gegenteil, ich bin sehr vergnügt.«

»Juliette!«

»Laß mich, bitte … Du thust mir weh.« Juliette grollte mir während des ganzen Tages; wenn ich das Wort an sie richtete, antwortete sie mir nicht oder begnügte sich damit mit trockener Stimme einsilbige, spitze Worte hervorzustoßen. Ich war unglücklich und erzürnt; ich hätte sie umarmen und prügeln, sie mit Küssen und mit Faustschlägen bedecken mögen. Beim Mittagessen erschien sie mit der Würde einer beleidigten Frau, mit zusammengekniffenen Lippen und Augen voller Verachtung. Vergebens suchte ich sie durch ein demütiges Benehmen, durch reuevolle und schmerzliche Blicke zu rühren; ihre Maske blieb unerbittlich, auf ihrer Stirn lagerte fortwährend der schwarze Schatten, der mich ängstigte. Als sie sich Abends ins Bett gelegt hatte, nahm sie ein Buch und wandte mir den Rücken zu. Und ihr Nacken, ihr duftender Nacken, auf dem meine Lippen so gern weilten, schien mir widerspenstiger zu sein als eine steinerne Mauer … In mir stieg eine dumpfe Ungeduld auf, aber ich bemühte mich sie zu unterdrücken. Je mehr der Zorn sich meiner bemächtigte, je liebevoller, je sanfter und flehender wurde meine Stimme.

»Juliette! meine Juliette! … Sprich zu mir, ich bitte Dich drum! … Sprich zu mir! … Ich habe Dir wehe gethan, ich bin zu hart gewesen … ja … und ich bereue es, ich bitte Dich um Verzeihung … Aber sprich wieder zu mir.«

Es war, als hörte Juliette mich nicht. Sie schnitt ruhig die Blätter in ihrem Buche auf, und das Geräusch des Messers gegen das Papier erregte meine Nerven in abscheulicher Weise.

»Meine Juliette! … Versteh' mich doch … Ich habe Dir das vorhin nur gesagt, weil ich Dich liebe … Weil ich Dich geachtet sehen möchte! … Und weil es mir scheint, daß diese Leute Deiner unwürdig sind … Wenn ich Dich nicht liebte, könnte es mir ja ganz gleichgültig sein, nicht wahr? … Glaube auch nicht, daß es mir unangenehm wäre, daß Du ausgingest … Nein, durchaus nicht! … Wir wollen oft ausgehen, alle Abende … Sei doch nicht so, bitte, Juliette! … Ich habe Unrecht gehabt! … Schelte mich, schlage mich … Aber sprich zu mir, sprich wieder zu mir! …«

Sie fuhr ruhig fort die Seiten in ihrem Buche umzublättern … Die Worte blieben mir fast in der Kehle stecken:

»Juliette, was Du jetzt thust, ist schlecht von Dir … Ich versichere Dich, Du handelst schlecht gegen mich … Sieh, ich bereue ja! … Welche Freude kann es Dir denn machen, mich so zu quälen? … Ich wiederhole es: ich bereue! … Juliette, ich bereue, was ich vorhin sagte! …«

Keine Muskel ihres Körpers zitterte bei meinem Flehen. Besonders ihr Nacken versetzte mich in Wut. Mir war, als sähe ich in diesem Augenblick, in dem wirren Gelock der Haare einen ironischen Tierkopf vor mir, mit Augen, die mich höhnisch anstarrten und einem Munde, aus dem sich die Zunge nach mir ausstreckte. Und ich spürte die Versuchung Hand daran zu legen, ihn mit meinen Fingern zu bearbeiten, bis das Blut herausquellen würde.

»Juliette!« schrie ich.

Und meine zuckenden, auseinander gespreizten Finger, die wie Krallen umgebogen waren, gerieten wider meinen Willen in Bewegung, bereit auf diesen Nacken niederzuschlagen, ungeduldig danach ihn zu zerfleischen.

»Juliette!«

Juliette drehte leicht den Kopf um und blickte mich furchtlos und verächtlich an.

»Was willst Du?« sagte sie.

»Was ich will? … Was ich will? …«

Ich war im Begriff Drohungen gegen sie auszustoßen … Ich hatte mich im Bette aufgerichtet und gestikulierte … Und ganz plötzlich schwand mein Zorn … Ich näherte mich ihr, drückte mich an sie heran, und indem ich ihren schönen, duftenden Nacken küßte, sagte ich ganz beschämt:

»Ich will, daß Du glücklich sein sollst, Liebste … Daß Du Deine Freunde empfangen sollst … Was ich vorhin von Dir verlangte, war zu dumm! … Bist Du nicht die beste der Frauen? … Liebst Du mich nicht? … Ich verspreche Dir, künftig keinen anderen Willen zu haben als den Deinen … Und Du wirst sehen, wie liebenswürdig ich gegen sie alle sein werde … Es könnte Dir vielleicht Spaß machen, Gabrielle zu Mittag einzuladen, bitte thue es … Und Jesselin ebenfalls, wenn Du meinst? …«

»Nein, nein! … Das sagst Du jetzt, und morgen machst Du es mir zum Vorwurf … Nein, nein! … Ich will Dir keine Leute aufzwingen, die Du verabscheust … Schmutzige Dirnen und Kretins! …«

»Ich wußte nicht, wo mir der Kopf stand, als ich das sagte … Ich verabscheue sie nicht, im Gegenteil, sie gefallen mir sehr … Lade sie nur ein, alle beide … Ich werde hingehen und eine Loge fürs Vaudeville nehmen, wenn Du meinst.«

»Nein!«

»Ich beschwöre Dich, willige ein!«

Ihre Stimme wurde wieder milde. Sie schloß das Buch.

»Nun, wir wollen sehen, morgen.«

In dieser Minute liebte ich Gabrielle, Jesselin, Célestine aufrichtig … Ja, ich glaube, ich liebte auch Malterre.

Ich arbeitete nicht mehr. Zwar hatte die Liebe zur Arbeit mich keinen Augenblick verlassen, aber ich besaß keine schöpferische Kraft mehr. Jeden Tag setzte ich mich an meinen Schreibtisch, vor das weiße Papier und suchte nach Ideen, die ich aber nicht fand, weil ich unrettbar, immer wieder von neuem, in die Unruhe der Gegenwart zurückglitt, die Juliette war, in die Furcht vor der Zukunft, die abermals Juliette war! … Wie ein Betrunkener, der immer wieder an der leeren Flasche drückt, um daraus einen letzten Tropfen von Alkohol herauszupressen, so quälte ich mein Hirn, um nur eine Spur von einer Idee herauszuquetschen! … Aber ach! mein Hirn war leer! … Es war und blieb leer und lastete auf meinen Schultern wie eine ungeheure, bleierne Kugel! … Meine Intelligenz war stets sehr langsam in Bewegung gekommen; sie bedurfte der Anregung eines Spornes, eines Peitschenhiebes. Infolge meiner schlecht geregelten Sensibilität, meiner Passivität, unterlag ich leicht moralischen und intellektuellen Einflüssen, sowohl guten wie schlechten. Deshalb war mir Lirats Freundschaft vordem sehr nützlich gewesen. Meine Ideen wurden flüssig bei der Wärme seines Geistes; seine Unterhaltung eröffnte mir neue und ungeahnte Ausblicke; was sich verworren in mir regte, nahm eine weniger unbestimmte Gestalt an, die ich zu umschreiben mich bemühte: er gewöhnte mich daran zu sehen, zu verstehen, ließ mich mit ihm in die Tiefen des geheimnisvollen Lebens hinabsteigen … Jetzt hingegen zog sich mit jedem Tage, ja mit jeder Stunde der Lichthorizont, auf den ich mein Streben gerichtet hatte, enger zusammen, und die Nacht kam, eine finstere, dichte Nacht, die nicht allein sichtbar war, sondern auch greifbar, denn ich fühlte sie wirklich, diese furchtbare Nacht. Ich fühlte ihren Nebel meine Haare durchdringen, sich an meine Finger festheften und sich beklemmend um meinen Körper legen …

Mein Arbeitskabinett ging nach einem Hofe hinaus, oder besser nach einem Garten, in dem zwei große Platanen standen und der von einer Mauer begrenzt wurde, die ein über und über mit Epheu beranktes Gitterwerk trug. Über dieser Mauer, im Hintergrunde eines zweiten Gartens, erhob sich eine graue und sehr hohe Häuserfaçade, die mich mit ihren fünf Reihen Fenstern anstarrte, und wo ich im dritten Stock einen alten Mann sah, der im Fensterrahmen wie ein altes Bild erschien. Er trug ein Käppchen von schwarzem Sammet, einen karrierten Schlafrock, und rührte sich niemals von der Stelle. In sich zusammengesunken, das Haupt auf die Brust geneigt, schien er zu schlafen. Sein Gesicht war gelb und runzlig, mit tiefen Schatten darin und umgeben von einem schmutziggrauen, unordentlichen Bart, der bizarren Vegetation vergleichbar, die auf den Stämmen erstorbener Bäume wuchert. Dann und wann neigte sich ein Frauenprofil unheilverkündend über ihn – es sah aus, als hätte sich eine Eule auf die Schulter des Greises gesetzt; ich unterschied deutlich den gekrümmten Schnabel und die runden, grausamen, gierigen und blutdürstigen Augen. Wenn die Sonne in den Garten schien, öffnete sich das Fenster und ich hörte eine mürrische, scharfe und keifende Stimme, die dem Alten unaufhörlich Vorwürfe machte. Dann sank er noch tiefer in sich zusammen; der Kopf wackelte einen kurzen Augenblick hin und her, aber bald saß der alte Mann ebenso unbeweglich wieder da wie vorher, nur etwas mehr in die Falten seines Schlafrocks zusammengedrückt, nur etwas tiefer in seinen Lehnsessel gekauert. Ich konnte den Unglücklichen stundenlang betrachten und phantasierte mir furchtbare Dramen zusammen: eine tragische Intimität, eine edle Existenz, die durch die Frau mit dem Eulengesicht verloren und gebrochen war. Diesen lebenden Leichnam stellte ich mir jung, schön und kräftig vor … Vielleicht war's ein Künstler, ein Mann der Wissenschaft, oder auch einfach ein glücklicher und guter Mensch … Und mit gehobenem Haupte, die Augen voller Vertrauen, schritt er dem Ruhme oder dem Glücke entgegen … Eines Tages war er dieser Frau, bei einem Freunde, begegnet; diese Frau hatte auch einen parfümierten Schleier gehabt, einen kleinen Muff, ein Barett aus Otterfell, ein himmlisches Lächeln und eine Miene von engelhafter Sanftheit … Und sofort hatte er sie geliebt … Ich folgte ihm Schritt für Schritt in seiner Leidenschaft, ich rechnete ihm alle seine Schwächen, seine Feigheiten nach, seinen immer tieferen Sturz, bis zum letzten Verschwinden in diesem Lehnsessel des Paralytikers, des Stumpfsinnigen … Und was ich mir von ihm vorphantasierte, das war mein eigenes Leben: das waren meine eigenen Gefühle, meine Furcht vor der Zukunft, meine tausend Ängste … Nach und nach nahmen meine Hallucinationen einen ausschließlich physischen Charakter an, und ich war es, den ich da drüben, unter dem schwarzen Sammetkäppchen, in dem karrierten Schlafrock, mit zerrüttetem Körper und schmutzigem Bart erblickte, und es war Juliette, die sich mir wie eine Eule auf die Schulter setzte.

Juliette! … Sie schlich in meinem Arbeitszimmer herum mit schlaffem Körper und gelangweiltem Gesicht, gähnte und seufzte laut. Sie wußte nicht mehr, was sie ersinnen sollte, um sich zu zerstreuen. Am häufigsten stellte sie einen Spieltisch dicht neben mich hin und vertiefte sich in die verwickelten Probleme einer Patience, oder auch sie streckte sich auf dem Divan aus, breitete ein Handtuch über sich, nahm darauf kleine Instrumente von Schildpatt, mikroskopische Salben-Töpfchen, und rieb sich die Nägel mit Ausdauer und Eifer, feilte sie ab, bis sie erreichte, daß sie glänzender als Achat wurden. Alle fünf Minuten unterwarf sie sie einer genauen Prüfung und suchte wie in einem Spiegel auf den polierten Oberflächen ihr Bild zu sehen.

»Sieh mal her, Schatz! … sind schön, nicht wahr? Du auch, Spy, sieh Dir die niedlichen Nägelchen Deiner Herrin an.«

Das leichte Reiben der ledernen Bürste, das kaum merkbare Knacken des Divans, Juliettens Reflexionen, ihre Unterhaltung mit Spy – das alles war genug, um die wenigen Ideen, die ich zu sammeln mich bemühte, in die Flucht zu schlagen. Meine Gedanken kehrten sofort auf die täglichen, gewohnten Wege zurück, und ich träumte qualvolle Träume, ich durchlebte schmerzliche Schicksale … Juliette! … Liebte ich sie? … Wie oft stieg diese Frage voll bangen Zweifels in mir auf! War ich nicht das Opfer einer Verblendung, eines noch nicht gekosteten Vergnügens gewesen? … Juliette! … Gewiß, ich liebte sie … Aber die Juliette, welche ich liebte, war das nicht jene, die ich selber geschaffen, die von meiner Einbildungskraft geboren, aus meinem Hirn entstanden, eine Seele, eine göttliche Flamme von mir erhalten hatte, jene Juliette, die ich in unmöglicher Weise mit dem idealen Körper der Engel belehnt hatte? … Und außerdem, liebte ich sie nicht, wie man ein schönes Buch, einen schönen Vers, eine schöne Statue liebt, wie die sichtbare und mit Händen greifbare Verwirklichung eines Künstlertraumes! … Aber die andere Juliette? … Die, welche hier neben mir saß? … Dieses hübsche, unbewußte Tierchen, diese Nippsache, dieses Endchen Stoff, dieses Nichts? … Ich betrachtete sie aufmerksam, während sie sich die Nägel glättete … Ach, ich hätte ihr den Schädel auseinander nehmen und seine Leerheit untersuchen mögen, ihr das Herz öffnen und seine Nichtigkeit ermessen mögen! … Und ich sagte mir: »Was für ein Schicksal wartet meiner an der Seite dieser Frau, die nur für das Vergnügen lebt, die nur im Flitterstaat glücklich ist, die zur Erfüllung eines jeden Wunsches ein Vermögen braucht, die trotz ihres keuschen Äußeres instinktiv dem Laster entgegen schreitet; die von einem Tag zum anderen, ohne ein Bedauern, ohne ein Zurückdenken, den unglücklichen Malterre verlassen hat, die vielleicht morgen auch mich verlassen wird? Diese Frau, die die leibhaftige Verleugnung alles dessen ist, wonach ich gestrebt, was ich bewundert habe, die nie, niemals an meinem intellektuellen Leben teilnehmen wird. Diese Frau, die jetzt schon auf meiner Intelligenz lastet wie eine Verrücktheit, auf meinem Herzen wie eine Reue und auf mein ganzes Ich, wie ein Verbrechen? … Es überkam mich eine Lust, davon zu laufen, zu Juliette zu sagen: »Ich gehe aus, aber ich werde in einer Stunde wieder da sein,« und nicht mehr in dies Haus zurückzukehren, wo die Decke der Zimmer nur erdrückender vorkam, als der Deckel eines Sarges, wo die Luft mir den Atem raubte, wo selbst die leblosen Gegenstände mir zu sagen schienen: »Geh' fort.« Aber trotzalledem und trotzalledem – Nein! … Denn ich liebte sie! … Und es war diese Juliette da neben mir, die ich liebte, und nicht die andere, die dorthin gewandert war, wohin die Chimären wandern! … Ich liebte sie wegen der Leiden, die sie mir verursachte, wegen ihrer Unbewußtheit, ihrer Oberflächlichkeit und wegen des Schlechten, das ich in ihr ahnte. Ich liebte sie mit jener qualvollen Liebe der Mütter für ihre kranken Kinder, für ihre verkrüppelten Kinder … Seid Ihr je an einem eiskalten Wintertage einem armen Wesen begegnet, das in einem Thorwinkel zusammengekauert lag, dessen Lippen von Kälte gesprungen waren, dem die Zähne im Munde zusammenschlugen, dessen Haut unter den zerfetzten Lumpen zitterte? … Und wenn Ihr ihm begegnet seid, habt Ihr Euch nicht dann von einem durchbohrenden Mitleiden hingerissen gefühlt, ist Euch nicht der Gedanke gekommen, es an Eure Brust zu nehmen, es zu erwärmen, ihm zu essen zu geben und seine zitternden Glieder mit warmen Kleidern zu bedecken? So liebte ich Juliette; ich liebte sie mit einem ungeheuren Mitleiden (ach! lacht nicht) mit mütterlichem, unendlichem Mitleiden! …

»Wollen wir nicht ein wenig ausgehen, Schatz? … Es wäre so schön eine Spazierfahrt im Bois zu machen.« …

Und indem sie die Augen auf das Papier vor mir warf, auf dem ich noch keine Zeile geschrieben hatte:

»Ist das alles? … Wahrhaftig, Du nimmst Dir Zeit … Und ich bin doch zu Hause geblieben, damit Du arbeiten könntest! … Na, ich weiß ja übrigens recht gut, daß Du es nie zu etwas bringen wirst … Du bist ein viel zu weicher Mensch …«

Bald gingen wir jeden Vormittag und jeden Abend aus. Ich leistete keinen Widerstand. Ich war fast glücklich, vor dem tötlichen Widerwillen, den verzweifelten Überlegungen, die unsere Wohnung in mir hervorriefen, vor der symbolistischen Vision des alten Mannes, ja vor mir selber, fliehen zu können … Ach! hauptsächlich vor mir selber! …

Im Menschengewimmel, im Lärm, in jener fieberhaften Eile einer Existenz, die nur das Vergnügen aufsucht, hoffte ich Vergessen, Betäubung zu finden, den Aufruhr meiner Seele niederzuzwingen und die Stimme der Vergangenheit, die ich unaufhörlich in meinem Innern klagen und seufzen hörte, zum Schweigen zu bringen. Und, da es mir unmöglich gewesen Juliette zu mir zu erheben, mußte ich mich fortan zu ihr erniedrigen. Die friedlichen, von der Sonne beschienenen Höhen, die ich langsam und mit welchen Anstrengungen, emporgeklommen, mußte ich jetzt auf ein Mal, in einem plötzlichen, unaufhaltsamen Fallen herabstürzen – und sollte ich mir dort unten den Kopf an den Steinen zerschellen oder im tiefen Schmutz versinken. Es war keine Rede mehr vom Davonlaufen. Wenn dieser Gedanke zufällig noch durch den Nebel meines Gehirns drang, wenn ich, inmitten der Verirrungen meines Willens, zuweilen noch einen Weg der Errettung erblickte, der sich freilich mit jedem Tage weiter von mir entfernte, auf den mich aber jetzt noch die Stimme der Pflicht rief, so klammerte ich mich an falsche Ehrenvorstellungen, um mich diesem Gedanken zu entziehen, um mich nicht auf diesen Weg zu stürzen … Konnte ich Juliette verlassen! Ich, der ich von ihr verlangt hatte, daß sie Malterre verließ? Wenn ich nun abreiste, was würde dann aus ihr? … Nein! Nein! Und tausendmal Nein! Ich log … Ich wollte sie nicht verlassen, weil ich sie liebte, weil ich Mitleid mit ihr fühlte, weil ich … War ich es denn nicht selber, den ich liebte, war ich es denn nicht, mit dem ich Mitleid fühlte? … Ach, ich weiß es nicht! Ich weiß ja nichts mehr! … Aber glaubt deshalb nicht, daß mich der Abgrund, in den ich hinabgestürzt, überrascht hat, daß ich ihn plötzlich erblickte … nein, glaubt es nicht! Ich habe ihn von weitem gesehen, habe sein schwarzes, gähnendes Loch entsetzlich klar gesehen und bin zu ihm hingelaufen … Ich habe mich über seinen Rand gebeugt, um den schauderhaften Geruch seines Schlammes einzuatmen und habe nur gesagt: »Dort hinein stürzen sie, in diesem Abgrunde vergehen sie, alle die verirrten Existenzen, alle die verlorenen Leben; von dort steigt man nie, nie wieder empor!«

Und ich habe mich hineingestürzt …

Trotz des drohenden Himmels und der tief herabhängenden, schwarzen Wolken, war die Terrasse des Cafés von Menschen angefüllt. Nicht ein unbesetzter Tisch; das Publikum der Café-Chantants, der Zirkusse, der Theater, war in Massen dorthin geströmt. Überall helle Toiletten und schwarze Röcke; Frauen, die wie ausgeputzte Pferde mit Federbüschen ausstaffiert sind und die bleich, ungesund und gelangweilt aussehen; idiotische Stutzer, die ihren Kopf über dem Knopfloch mit der verwelkten Blume hängen lassen und am Griff ihres Spazierstocks mit fratzenhaften Meerkatzen-Geberden herumbeißen. Einige von ihnen strecken ihre Beine aus, um die schwarzseidenen, mit roten Blümchen gestickten Socken zu zeigen, schieben den Hut leicht in den Nacken und pfeifen nachlässig eine moderne Melodie – den Refrain, den sie eben in den » Ambassadeurs« gesungen und sich dazu mit Tellern, Gläsern und Karaffen begleitet haben … Vor der Façade der Großen Oper ist das letzte Licht erloschen. Aber ringsum flammen die Fenster der Klubs und Schenklokale auf, wie Höllenmäuler. Auf dem weiten Platze halten dicht am Trottoir entlang, in dreifacher Reihe, die Mietequipagen, erbärmliche Kutschen. Die Kutscher kauern entweder schlafend auf dem Bock, oder sie stehen in Gruppen plaudernd da. In ihren komischen, zusammengewürfelten Livree-Röcken und mit dem Zigarrenstummel im Munde erzählen sie sich unter lautem Gelächter ulkige Geschichten von ihren Fahrgästen. Man hört unausgesetzt die gellende Stimme der Zeitungsverkäufer, die immer wieder an einem vorbeilaufen und zwischen marktschreierischen Prahlereien den Namen einer bekannten Frau, die Neuigkeit des letzten Skandals hinwerfen. Heimtückisch aussehende Straßenjungen, die wie Katzen zwischen die Tische hineingleiten, bieten unzüchtige Photographien an, die sie halbaufdecken, um die schlummernden Begierden zu entflammen und die schwindende Neugier wieder aufzustacheln. Und kleine Mädchen, denen ein frühzeitiges Laster bereits das magere Kindergesicht brandmarkt, bieten mit zweideutigem Lächeln Blumen an und legen dabei in ihre Blicke die erfahrene und häßliche Unkeuschheit der alten Prostituierten. Im Innern des Cafés ist jeder Tisch besetzt … Kein leerer Platz … Man trinkt mit zugespitzten Lippen ein Glas Champagner, man vertilgt, eifrig kauend, belegte Butterbrötchen. Alle Augenblicke treten Neugierige ein, die, ehe sie in den Klub gehen oder sich schlafen legen, aus Gewohnheit oder aus »chic« herkommen, oder auch um zu sehen, ob nicht irgend etwas »los sei.« Langsam schlendern sie an den einzelnen Gruppen vorbei, bleiben dann und wann stehen, um mit Freunden zu plaudern, werfen hie und da einen raschen Guten Tag hin, besehen sich in den Spiegeln und bringen ihre weiße Kravatte, die sich über den hellen Überzieher geschoben hat, in Ordnung. Darauf entfernen sie sich wieder, den Geist durch einen neuen Ausdruck aus der Cocottensprache und durch eine Klatschgeschichte bereichert, die sie im Vorbeigehen aufgegriffen haben, und von der sie einen ganzen müssigen Taglang zehren können. Frauen, die mit den Ellbogen auf dem Tische vor einem Sodawasser sitzen, das schlaffe Gesicht in die mit langen Handschuhen bekleidete Hand gestützt, tragen die erschöpfte Haltung, die leidenden und träumerischen Mienen von Brustkranken zur Schau. Sie tauschen Freimaurerzeichen mit den Nachbartischen aus, zwinkern mit den Augen und lächeln unmerklich dazu, während der Herr, der sie begleitet, schweigsam und andächtig die Spitze seines Schuhes mit kleinen Schlägen seines Spazierstockes bearbeitet. Es ist eine glänzende Versammlung, reich geschmückt mit Seide und Spitzen, mit Pompons und Flitterkram, mit farbigen Federn und schillernden Blumen, mit blonden Locken, braunen Flechten und Diamantengefunkel. Und alle stehen kampfbereit auf ihrem Posten, Junge und Alte, Anfänger mit bartlosem Gesichte, rückfällige Verbrecher mit weißen Haaren, naive Betrogene und dreiste Betrüger; soziale Unregelmäßigkeiten, falsche Situationen, ausschweifende Laster, gemeine Habsucht, infame Handelsabschlüsse – alle jene Giftpflanzen, die in der Wärme des Pariser Düngers entstehen, in einander übergehen, wachsen und gedeihen.

In dieser mit Rastlosigkeit, mit Langeweile und schweren Parfüms erfüllten Atmosphäre, verbrachten wir künftig alle unsere Abende. Während des Tages hielten wir uns bei den Schneiderinnen auf, im Bois oder beim Rennen; Nachts in den Restaurants, in den Theatern, in den Versammlungen der galanten Welt. Überall wo diese spezielle Welt sich ein Rendez-vous gab, war man auch sicher uns zu treffen; ja, wir wurden sogar mit großer Aufmerksamkeit beehrt, Juliettens Schönheit wegen, von der man zu reden begann, und ihrer Toiletten wegen, die den Neid und den Wetteifer der anderen Frauen erregten. Wir speisten nie mehr in unserem eigenen Hause zu Mittag. Unsere Wohnung diente uns eigentlich nur als Toilettenkabinett. Während Juliette sich ankleidete, wurde sie hart ja fast roh. Die Falte in ihrer Stirn schnitt wie eine Narbe in die Haut hinein. Sie sprach in abgerissenen Worten, geriet in Zorn und schien manchmal einer Zerstörungswut anheim zu fallen. Um sie herum lag alles drunter und drüber: offene Schubladen, Röcke, die auf den Teppich hingeworfen waren, Fächer, die aus dem Etui herausgerissen und auf den Stühlen verstreut lagen, Lorgnetten, die man irgendwo vergessen hatte, bauschige Mousseline, die man in die Ecke geworfen und hingefallene Blumen, die man hatte liegen lassen, Handtücher mit roter Schminke dran, Handschuhe, Strümpfe, Schleier, die an den Armleuchtern herumhingen. Und zwischen diesem Wirrwarr hindurch sprang, glitt und wand sich die behende, freche und cynische Célestine; sie kniete vor den Füßen ihrer Herrin nieder; steckte hier eine Nadel fest, ordnete dort etwas an einer Falte und band schnell und geschickt eine Schleife. Ihre weichen, faden Hände, die wie dazu gemacht schienen mit schmutzigen Sachen zu hantieren, beeiferten sich mit Liebe um Juliettens Körper. Dann war sie ganz glücklich, antwortete nicht auf die heftigen Bemerkungen, auf die kränkenden Vorwürfe ihrer Herrin und richtete ihre Augen, die boshaft leuchteten und blitzten, mit ironischer Hartnäckigkeit auf mich. Erst in der Öffentlichkeit, im Glanze der vielen Lichter, unter dem Kreuzfeuer der Männerblicke, fand Juliette ihr Lächeln, den etwas erstaunten und aufrichtigen Ausdruck der Freude wieder, den sie sich bis in die abstoßendsten Umgebungen der Ausschweifung und Lasterhaftigkeit bewahrte. Und wir besuchten die Cafés, in Begleitung von Gabrielle und Jesselin, in Begleitung von Menschen, die wir irgendwo getroffen, die uns irgendwer vorgestellt hatte: Idioten, Gauner, Fürsten, einer ganzen internationalen Gesellschaft, die uns auf den Fersen folgte. Man sagte allgemein:

»Die Bande Mintié.«

»Was haben Sie heute Abend vor?«

»Ich gehe mit der Bande Mintié.«

Jesselin gab uns Aufschlüsse über das Personal des Ortes, an dem wir uns befanden; er kannte alle Kehrseiten des galanten Lebens. Übrigens sprach er mit einer Art von Bewunderung davon, trotz der schmachvollen und tragischen Einzelheiten, die er uns mitteilte.

»Der Mensch da, der so gesucht ist und dem man so ehrerbietig zuhört? … Er ist Kammerdiener gewesen. Sein Herr hat ihn wegen Diebstahls fortgejagt. Er wurde dann Krupier, beutete alle heimlichen Schmutzlöcher in Paris aus, wurde Kassierer in einem Klub und verschwand während einiger Jahre sehr geschickt von der Bildfläche. Heute ist er Mitbesitzer von Spielhäusern, von Ställen mit Rennpferden, besitzt großen Kredit bei den Wechselmaklern, Luxuspferde und ein schönes Haus, in dem er empfangt. Er borgt heimlich Geld zu hundert Prozent an Fräuleins, die in Verlegenheit sind, und deren Talent und Schlauheit er dabei zu seinem Vorteil ausnutzt. Freigebig, wenn es gilt seinen Namen berühmt zu machen, kauft er teure Gemälde an und gilt für einen ehrenwerten Menschen, für einen Beschützer der Kunst. In den Zeitungen wird sein Name mit Hochachtung genannt.

»Und der Andere da, der Dicke, Bausbäckige, mit dem fetten Gesicht, das von einem beständigen, idiotischen Lächeln verzerrt wird? … Ein Kind! … Kaum achtzehn Jahre alt. Er hat eine Aufsehen erregende Maitresse, mit der er sich Montags im Bois zeigt und einen Professor-Abbé, den er Dienstags im selben Wagen nach dem See hinunterfährt. So versteht seine Mutter die Erziehung ihres Sohnes; sie will, daß er der Welt seine heiligen Überzeugungen und seine galanten Abenteuer mit offener Stirn zeige. Im übrigen ist er jeden Abend betrunken und prügelt seine alte verrückte Mutter. »Ein wahrer Typus!« resumierte Jesselin.

»Ein Herzog, der dort drüben, ein Herzog! Der Träger eines großen französischen Namens! … Wahrhaftig! Ein netter Herzog! Der König der Teller-Lecker! Schüchtern tritt er ein, wie ein furchtsamer Hund, schaut sich durch sein Monocle um, riecht ein Souper, stellt sich selber vor und schlingt Schinken und Gänseleberpastete hinunter. Vielleicht hat der Herzog nicht zu Mittag gegessen; vielleicht ist er unverrichteter Sache heimgekehrt von seinem täglichen Rundgang bei Bignon, im Maison Dorée, im Café Anglais, auf der Suche nach einem Freunde, einem Menu. Er steht sich gut mit den kleinen Frauenzimmern und mit den Pferdeverkäufern; er besorgt die Aufträge der ersteren und besteigt die Pferde der letzteren. Überall wo er hinkommt, sagt er nur: »Äh! Welch' scharmante Frau! … Ah! Welch wundervolles Tier!« Zum Dank für diese Dienstleistungen erhält er einige Louisdor, mit denen er seinen Kammerdiener bezahlt.

»Da wieder ein großer Name, der nach und nach unwiederbringlich in den Schmutz der unsauberen Geschäfte, der versteckten Kuppeleien, gesunken ist. Dieser war früher eine glänzende Erscheinung; über seiner Haltung, seinem Benehmen liegt jetzt noch, trotz des aufgedunsenen Fleisches, trotz seiner Korpulenz, etwas Elegantes, ein Duft von guter Gesellschaft. An den berüchtigten Orten und in den bizarren Gesellschaften, wo er seine Geschäfte treibt, spielt er die dankbare Rolle, die vor fünfzig Jahren die Table-d'hôte-Majore spielten. Seine Höflichkeit und seine gute Erziehung sind ihm ein Kapital geworden, das er vollkommen auszunutzen versteht. Er ist ebenso geschickt darin, aus der Schande der anderen Vorteil zu ziehen, wie aus seiner eigenen, denn niemand versteht es besser als er, sein eheliches Unglück zur Gelderpressung zu benutzen.«

»Das bleifarbige Gesicht dort hinten, mit dem ergrauenden Backenbart, mit den dünnen Lippen und den erloschenen Augen? … Man weiß es nicht recht … Eine Zeitlang war viel die Rede von ihm. Man erzählte sich allerlei Mord- und Blutgeschichten … Zu Anfang fürchtete man sich und ging ihm aus dem Wege … Aber schließlich, eine alte Geschichte, pah! … Außerdem gab er viel Geld aus … Was wollen einige Tropfen Blut sagen, wenn sie an Haufen von Goldstücken kleben! … Die Weiber besonders sind wie verrückt hinter ihm her …«

»Der hübsche junge Mann da, mit dem keck in die Höhe gedrehten Schnurrbart? … Ja, der hatte eines Tages keinen Sou mehr, und da seine Familie ihm die Subsistenzmittel verweigerte, hatte er die pfiffige Idee, ihr weis zu machen, daß er sein Leben bereue. Er verließ mit großem Eclat eine alte Maitresse, mit der er lebte und kehrte in das väterliche Haus zurück. Ein junges Mädchen, eine Spielgefährtin, liebte ihn sehr. Sie war reich, und er heiratete sie. Aber noch am Hochzeitsabend verschwand er, nahm die Mitgift mit und suchte seine alte Maitresse wieder auf. »Die Geschichte ist übrigens gut,« fügte Jesselin hinzu, »ja wahrhaftig! … Sie ist sehr gut!«

Und die Nachsichtigen, und die aus dem Klub Hinausgeworfenen, und die vom Rennen Ausgeschlossenen, und die auf der Börse Hingerichteten. Und die Fremden, die der Teufel weiß woher gekommen sind, die ein Skandal herführt, und ein anderer wieder fort. Und alle die, die außerhalb der Gesetze und der bürgerlichen Achtung leben, die aber zu den Pariser Größen gehören, vor denen man sich verneigt. Alle wimmelten da umher, hochmütig, ungestraft und anrüchig!

Juliette horchte, belustigt durch diese Erzählungen, angezogen durch den Schmutz und das Blut, geschmeichelt von den unedlen Huldigungen, die ihr in den Blicken dieser Kretins, dieser Banditen dargebracht wurden. Aber sie bewahrte ihre sittsame Haltung, ihren jungfräulichen Reiz, ihr zugleich stolzes und nachlässiges Auftreten, für das ich mich eines Tages bei Lirat der ewigen Verdammnis übergeben hatte! …

Die Gesichter fangen an bleich zu werden, die Züge abgespannt … Die Müdigkeit läßt die Augenlider anschwellen und rot werden …

Einer nach dem anderen verläßt das Café, erschöpft und rastlos … Wissen sie, was der morgige Tag ihnen bringt, was ihrer zu Hause wartet? Welcher Ruin ihnen bevorsteht? In welchem Abgrund des Elends, der Infamie sie enden werden, die armen Teufel? … Ab und zu reißt ein Pistolenschuß eine Lücke in die Bande … Wird morgen vielleicht die Reihe an ihnen sein? … Morgen! … Oder an mir? Ach ja, morgen! … stets das drohende: Morgen! … Und wir kehren heim, ohne miteinander zu sprechen, stumpfsinnig und müde.

Der Boulevard lag verlassen da. Ein großes Schweigen hatte sich über die Stadt gebreitet. Nur die Fenster der Spelunken glühten, wie Augen von Riesentieren, die, in der tiefen Nacht zusammengekauert, auf der Lauer liegen.

Ohne genau über meine Vermögensverhältnisse klar zu sein, fühlte ich, daß der Ruin nahe war. Ich hatte beträchtliche Summen verausgabt. Schulden häuften sich auf Schulden, und weit entfernt davon abzunehmen wurden Juliettens Ansprüche nur um so größer und übertriebener: das Gold rieselte in einem ununterbrochenen Strom durch ihre Finger, wie das Wasser aus dem Springquell. »Sie hält mich für reicher als ich bin,« dachte ich, indem ich mich selber zu täuschen suchte, »ich werde sie darüber aufklären, vielleicht wird sie dann bescheidener in ihren Wünschen sein.« In Wahrheit aber entfernte ich jeden derartigen Gedanken systematisch von mir, da ich die möglichen Folgen einer solchen Aufklärung mehr als irgend ein anderes Unglück auf der Welt fürchtete. In den seltenen Augenblicken der Klarheit und Aufrichtigkeit gegen mich selber, verstand ich nämlich sehr wohl, daß Juliette unter ihrem sanften Äußeren, unter der Naivität des verzogenen Kindes und der robusten und vibrierenden Leidenschaft ihres Körpers, einen furchtbaren Willen, immer schön, immer angebetet und umschmeichelt zu sein, versteckte, einen erschreckenden Egoismus, der vor keiner Grausamkeit, keinem moralischen Verbrechen zurückschreckte … Ich gewahrte, daß sie mich weniger liebte, als den kleinsten ihrer Lappen, daß sie mich für einen Mantel, für eine Schleife, für ein Paar Handschuhe hinopfern würde … Einmal in diese Existenz hineingezogen, konnte und wollte sie nicht mehr Halt machen … Und dann? … Ein eisiges Frösteln schüttelte mich von Kopf bis zu Fuß … Daß sie mich verlassen sollte, nein, nein, das war es ja gerade, was ich um keinen Preis wollte! … Der peinlichste Augenblick für mich war morgens, beim Erwachen. Mit geschlossenen Augen, die Decke hoch über meinen Kopf emporziehend, rollte ich mich zu einer Kugel zusammen und dachte mit qualvoller Angst über meine Lage nach … Je gefährlicher sie mir schien, je verzweifelter klammerte ich mich an Juliette. Was half es mir, daß ich es mir klar machte: plötzlich würde mir das Geld ausgehen und der Kredit, mit dem ich unehrlicherweise den Todeskampf meiner Hoffnungen um eine Woche oder zwei zu verlängern gedachte, würde mir entzogen werden – ich versuchte nur noch hartnäckiger, nur noch eigensinniger, unmögliche Kombinationen zu erfinden … Ich sah mich im Geiste ungeheure Leistungen in acht Tagen vollbringen … Ich träumte davon Millionen auf der Straße zu finden … Großartige Erbschaften fielen mir vom Himmel herab … Der Gedanke an Diebstahl stieg in mir auf … Nach und nach nahmen alle diese Verrücktheiten in meinem kranken Hirn eine feste Gestalt an … Ich verschenkte im Geiste Paläste und Schlösser an Juliette; ich zermalmte sie unter dem Gewicht von Perlen und Diamanten; rings um sie her strömte und leuchtete das Gold; und über die Erde empor hob ich sie auf schwindelnde Purpurhöhen … Aber mit einem harten Ruck fiel ich plötzlich in die Wirklichkeit zurück … Ich bohrte mich tiefer in das Bett hinein … Ich suchte die Zustände des Nichtseins auf, um darin zu verschwinden … Ich strengte mich an um zu schlafen … Und plötzlich drückte ich mich stöhnend, mit schweißbedeckter Stirn und wildblickenden Augen, an Juliette, die ich laut aufschluchzend umschlang.

»Du wirst mich nie verlassen, meine Juliette! … Sag, sag, daß Du mich nie verlassen wirst … Denn siehst Du, ich würde daran sterben … ich würde verrückt werden … ich würde mich töten! … Juliette, ich schwöre es Dir, ich würde mich töten!«

»Aber was ist Dir nur … Weshalb zitterst Du so? Nein, Schatz, ich werde Dich nicht verlassen … Sind wir nicht glücklich so? … Und ich habe Dich ja so lieb! … wenn Du hübsch freundlich bist, wie jetzt!«

»Ja, ja, ich würde mich töten! … ich würde mich töten! …«

»Wie komisch Du bist, Schatz! … Weshalb sagst Du mir das? …«

»Weil …«

Ich wollte ihr alles erzählen, alles offenbaren … Aber ich wagte es nicht. Und ich fuhr fort:

»Weil ich Dich liebe! … weil ich nicht will, daß Du mich verlassen sollst … weil ich es nicht will! …«

Und doch mußte die Stunde ja bald kommen, wo ich zu einer Beichte gezwungen wurde … Juliette hatte im Fenster eines Juweliers in der Rue de la Paix ein Perlenhalsband gesehen, von dem sie unablässig sprach. Eines Tages, als wir uns in der Nähe befanden, sagte sie zu mir.

»Komm mit und sieh Dir den schönen Schmuck an.«

Und, die Nase an das Fensterglas gedrückt, betrachtete sie das Halsband, dessen drei Reihen zartschimmernder Perlen auf dem granatroten Sammet des Etuis leuchteten, lange mit begehrlichen Augen. Ich gewahrte, wie ein leises Zittern sie überlief.

»Nicht wahr, wunderschön! … Und gar nicht teuer! Ich habe nach dem Preis gefragt … Fünfzigtausend Franken … Es ist eine seltene Gelegenheit.«

Ich suchte sie vom Fenster weg zu ziehen. Aber schmeichelnd, sich an meinen Arm hängend, hielt sie mich zurück. Und sie seufzte:

»Ach, wie die sich auf dem Halse Deiner kleinen Frau machen würden!«

Darauf fügte sie mit trostloser Miene hinzu:

»Aber es ist auch wahr! … Alle Frauen haben einen Haufen von Schmucksachen … Ich habe gar nichts … Wenn Du sehr, sehr lieb wärest, würdest Du es Deiner armen kleinen Juliette schenken! …«

Ich stammelte:

»Gewiß, ich werde es thun … aber später, in acht Tagen …«

Juliettens Gesicht verdüsterte sich.

»Weshalb in acht Tagen erst? … Ich bitte Dich, gleich, gleich!«

»Weil ich … siehst Du, ich bin augenblicklich in Verlegenheit … in großer Verlegenheit …«

»Was? schon? … Du hast keinen Heller mehr? … Das muß ich sagen! … Wo ist denn all Dein Geld geblieben? … Hast Du gar nichts mehr? …«

»Aber ja! … ja! Ich bin nur augenblicklich in Verlegenheit, verstehst Du.«

»Na, also? Was macht das? … Ich habe auch wegen der Bezahlung gefragt … Man würde sich mit Anweisungen begnügen … Fünf Scheine à zehntausend Franken … Das ist doch nicht alle Welt!«

»Ohne Zweifel … Später! Ich verspreche es Dir … Komm' jetzt!«

»So!« kam es hart von Juliettens Lippen.

Ich blickte sie an – die Falte in ihrer Stirn jagte mir Furcht ein. In ihren Augen sah ich eine düstere Flamme leuchten … Und im Verlauf von einer Sekunde stürmte eine ganze Welt von außerordentlichen Gefühlen, die ich bis jetzt noch nie empfunden hatte, auf mich ein. Mit vollkommener Klarheit, mit grausamer Kaltblütigkeit und blitzschneller Schärfe des Urteils stellte ich mir die doppelte Frage: »Juliette und die Schande, Juliette und das Gefängnis?«

Ich zögerte nicht.

»Gehen wir hinein,« sagte ich.

Sie nahm das Halsband mit.

Am Abend setzte sie sich, strahlend, geschmückt mit ihren Perlen, auf mein Knie, und die Arme um meinen Hals geschlungen, saß sie lange so, mich mit ihrer sanften Stimme einlullend.

»Ach, mein armer Liebling,« sagte sie … Ich bin nicht immer vernünftig gewesen … Nein, ich sehe es recht gut ein … ich bin mitunter ein wenig verrückt … Jetzt aber soll es anders werden! Ich will eine gute, ernste Frau sein … Und Du wirst in Zukunft fleißig arbeiten … Und dann wirst Du einen schönen Roman oder ein schönes Theaterstück schreiben … Und dann werden wir reich, sehr reich werden … Und dann, wenn Du wieder in Verlegenheit gerätst, wollen wir das schöne Halsband verkaufen … Denn siehst Du, Schmucksachen, das ist nicht wie Kleider, Schmucksachen, das ist Geld … Drücke mich fest an Dich, Liebster …«

Ah! Wie schnell verrauschte jene Nacht! Wie die Stunden dahineilten, als stürmten sie davon, gejagt von unserer Liebe, die mit der entsetzlichen Stimme der Verfluchten ihre Lust laut in die Nacht hinausjauchzte.

Unser Mißgeschick verdoppelte sich und traf uns Schlag auf Schlag. Geldanweisungen, auf die Juliettens Lieferanten Anspruch hatten, mußten unbezahlt bleiben, und kaum konnte ich, indem ich überall borgte, das nötige Geld beschaffen, um unsere tägliche Existenz zu bestreiten. Mein Vater hatte in Saint-Michel noch einige Schuldner. Edelmütig und gut wie er war, liebte er es, die kleinen Ackerbauer in ihren Geldverlegenheiten zu unterstützen. Ohne Barmherzigkeit schickte ich diesen Armen den Gerichtsvollzieher auf den Hals und ließ ihre armseligen Hütten und das Stückchen Erde, von dem sie dürftig lebten, verkaufen. In den Geschäften, wo ich noch Kredit besaß, kaufte ich Sachen an, die ich sofort wieder zu einem elenden Preis verkaufte. Ich erniedrigte mich bis zu den unlautersten Trödlergeschäften … Unerhörte Gelderpressungspläne keimten in meinem Hirn, und ich plagte Jesselin mit ewigen Bitten um Geld. Schließlich ging ich auch einmal zu Lirat. Ich brauchte fünfhundert Franken für den Abend, und ohne mich zu besinnen, ging ich keck zu Lirat hinauf. Indessen verlor ich, als ich ins Atelier trat, in seiner Gegenwart etwas von meiner Sicherheit, und eine Art verspäteter Scham hielt mich zurück … Wohl eine Viertelstunde lang war ich bei ihm, drehte mich und wand mich, ohne daß ich wagte ihm zu sagen, was ich von seiner Freundschaft erwartete … Von seiner Freundschaft! … Und ich entschloß mich ihn zu verlassen.

»Na, leben Sie wohl, Lirat.«

»Leben Sie wohl, mein Freund.«

»Ach, ich vergaß … Könnten Sie mir nicht fünfhundert Franken leihen? Ich habe auf meine Pachtgelder gerechnet … Sie sind ausgeblieben.«

Und schnell fügte ich hinzu:

»Ich werde sie Ihnen wiedergeben … morgen früh.«

Lirat richtete seine Augen auf mich während eines Augenblicks … Ich sehe noch immer diesen Blick wieder … er war so schmerzlich.

»Fünfhundert Franken! …« sagte er. »Wo zum Teufel wollen Sie, daß ich die hernehme? … Habe ich denn je fünfhundert Franken besessen?«

Ich fuhr hartnäckig fort zu wiederholen:

»Ich werde sie Ihnen morgen wiederbringen … morgen früh.«

»Aber ich habe sie ja nicht, mein armer Mintié! … Zweihundert Franken besitze ich noch, wenn Ihnen das helfen kann!«

Der Gedanke fuhr mir durch den Kopf, daß diese zweihundert Franken, die er mir anbot, sein Brot für einen ganzen Monat ausmachten. Ich antwortete mit zerrissenem Herzen:

»Jawohl, ja! … Besser als nichts! … Ich werde sie Ihnen morgen wiedergeben … morgen früh.«

»Schön, schön! …«

Ich hätte ihm in diesem Augenblick um den Hals fallen mögen, ihn um Verzeihung bitten und rufen mögen: »Nein, nein, ich will das Geld nicht!« Aber wie ein Dieb stürzte ich damit fort.

Mein ganzes Besitztum, das mit Hypotheken belastet war, ja die Priorei selbst, unser alter Familienbesitz, wurde verkauft! … Ach! Wie tieftraurig war die Reise, die ich bei dieser Veranlassung machte! … Ich war seit langer, langer Zeit wieder in Saint-Michel gewesen, aber trotzdem hatte der Gedanke an den kleinen ruhigen Ort dort unten, inmitten des fieberhaften Pariser Lebens, stets etwas Sanftes, etwas Beruhigendes für mich gehabt. Der reine Hauch, welcher mich von dort anwehte, erfrischte mein überhitztes Gehirn und erleichterte mir die Brust, die von den ätzenden Säuren brannte, die die verpestete Luft der großen Städte mit sich führt, und ich hatte mir oft vorgenommen, wenn ich endlich müde geworden den trügerischen Chimären nachzujagen, mich dort in den Frieden und in die Stille der Heimat zurückzuziehen. Saint-Michel! … Niemals war es mir so lieb gewesen wie jetzt, seitdem ich es verlassen; es schien mir Reichtümer und Schönheiten zu enthalten, die ich bisher noch nicht erkannt hatte, die ich plötzlich jetzt erst entdeckte … Es that mir wohl, mir die Erinnerung daran ins Gedächtnis zurück zu rufen. Vor allem liebte ich es, im Geiste den Wald heraufzubeschwören, den schönen Wald, in dem ich mich so oft, ein unruhiges und verträumtes Kind, verirrt hatte … Wie köstlich war es dann, den kräftigen Duft des frischen Laubes einzuatmen; das Ohr erfüllt von den Harmonien des Windes, der Gesträuch und Bäume wie Harfen und Geigen erzittern ließ, sich in die großen, geraden Alleen zu vertiefen, die mit ihrem rauschenden Laubgewölbe sich weithin erstreckten, plötzlich dort unten aufhörten und sich, wie ein spitzbogiges Kirchenfenster, nach einem lichten und strahlenden Stück Himmel öffneten! … In diesen Träumen sah ich die alten Eichen, ihre grünen Äste mir entgegenstrecken, die jungen Büsche mich mit frohem Rauschen im Vorbeigehen grüßen; sie waren alle glücklich, daß ich zu ihnen zurückgekehrt war und sprachen zu mir: »Betrachte uns, wie wir gewachsen sind, wie unser Stamm schlank und kräftig, wie die Luft gesund ist, in der wir unser feines, schaukelndes Geäst baden, wie die Erde barmherzig ist, in die wir unsere Wurzeln schießen, die unaufhörlich mit lebensfördernden Säften getränkt werden.« Die Moose und Heidekräuter riefen mir zu: »Wir haben Dir ein schönes Lager bereitet. Kleiner, ein schönes, duftendes Lager, ein solches giebt es nicht in den goldgeschmückten, aber doch so armen Häusern der großen Stadt … Strecke Dich aus und erquicke Dich. Wenn es Dir zu heiß wird, wedeln die Farnkräuter mit ihren leichten Fächern Dir Kühlung zu; wenn es Dir zu kalt wird, öffnen die Buchen ihre Zweige und lassen einen Sonnenstrahl durch, damit Dein Herz Freude finde.«

Ach! Seitdem ich Juliette liebte, schwiegen diese lieben Stimmen eine nach der anderen. Jene Erinnerungen kehrten nicht mehr zu mir zurück, um mich wie Schutzengel in den Schlaf zu wiegen, um ihre weißen Flügel, im blauen Äther meiner Träume, über mich zu breiten! … Die Vorzeit entfernte sich von mir; sie schämte sich meiner! …

Der Zug sauste dahin. Er war schon durch die Ebenen von la Beauce gefahren, die mir noch melancholischer vorkamen, als in den herzzerreißenden Tagen des Krieges … Und ich kannte meine kleinen buckligen Felder wieder, mit ihren dichten Hecken, ihren verstreuten Apfelbäumen, meine engen Thäler, meine Pappeln, deren hängende Kronen die Form einer Kapuze hatten, und die in der Landschaft einer sonderbaren Prozession von blauen Bußfertigen glichen – meine Pachthöfe, mit ihren hohen, moosbewachsenen Dächern, meine steinigen, überwucherten Richtwege, mit ihren schrägen Abhängen, auf denen zwischen saftigem Grün, die abgehauenen Weißbuchenstämme stehen! … Es war schon dunkel, als ich in Saint-Michel ankam. Das war mir lieber. Die Straße am hellen Tage zu durchschreiten, von den neugierigen Blicken aller dieser braven Leute begleitet, die mich als Kind gesehen, wäre mir peinlich gewesen … Es schien mir, als käme ich so schuldbeladen heim, daß sie sich von mir, wie von einem tollen Hunde, abwenden mußten … Ich beschleunigte meine Schritte und schlug den Kragen meines Überziehers in die Höhe … Die Frau des Gewürzkrämers, die man Mme. Henriette nannte, und die mir früher manchen Kuchen zugesteckt hatte, stand vor ihrem Laden und unterhielt sich mit einigen Nachbarinnen. Ich zitterte bei dem Gedanken, daß sie meinen Namen nennen würden, verließ das Trottoir und ging mitten auf die Landstraße … Glücklicherweise kam ein Karren vorbei, der mit seinem Gerassel die Worte der Frauen übertönte … Der Predigerhof … Das Schwesternhaus … Die Kirche … Die Priorei! … Zu dieser Stunde war die Priorei nichts als eine ungeheure, schwarze Masse, die sich gegen den Abendhimmel abhob … Und doch wurde mir weich ums Herz … Ich mußte mich an das Gitter lehnen, um Atem zu schöpfen … Einige Schritte von mir erhob der Wald seine mächtige Stimme, die mir wie im Zorn zu schwellen und zu brausen schien, ähnlich wie die entfesselte Stimme der schäumenden Brandung …

Marie und Felix erwarteten mich … Marie um einige Jahre älter und runzliger geworden; Felix, noch gebeugter als früher, mit grauem Kopfe der noch zittriger geworden …

»Ach! Der Herr Jean! Der Herr Jean!«

Und, indem Marie sich sofort meiner Reisetasche bemächtigte, sagte sie:

»Sie müssen ja furchtbar hungrig sein, Herr Jean! … Ich habe Ihnen eine Suppe gemacht, wie Sie sie gern essen, und ein gutes Hühnchen steckt schon auf dem Bratspieß.«

»Ich danke!« sagte ich … »Ich werde nicht essen.«

Ich hätte sie alle beide in meine Arme schließen mögen, ihre alten pergamentenen Gesichter mit Thränen benetzen mögen … aber meine Stimme war hart und schneidend. Ich hatte die Worte »Ich werde nicht essen« im drohenden Ton gesprochen. Sie sahen mich beide ängstlich an und wiederholten in einem fort:

»Ach, Herr Jean! … Wie lange ist es her! Ach, Herr Jean! … Sie sind aber ein schmucker Bursch geworden! …«

Und Marie, die wohl denken mochte, daß es mich interessieren würde, fing an, mir die letzten Neuigkeiten aus dem Orte zu erzählen:

»Wissen Sie denn, daß unser alter Herr Pfarrer gestorben ist? … Mit dem neuen will's nicht recht gehen, der ist viel zu eifrig im Amt … Baptiste ist von einem Baum erschlagen worden …«

Ich unterbrach sie:

»Schön, schön Marie … Das können Sie mir alles morgen erzählen …«

Sie führte mich in mein Zimmer und fragte mich:

»Soll ich Ihnen Ihre Tasse Milch hineinbringen, Herr Jean?«

»Wie Sie wollen!«

Und als sie die Thür hinter sich zugemacht hatte, warf ich mich in einen Lehnstuhl und lag lange, lange schluchzend da.

Am folgenden Tage war ich auf mit dem ersten Sonnenstrahl. Die Priorei war unverändert geblieben; nur war etwas mehr Unkraut in den Alleen, etwas mehr Moos auf dem Altan, und einige Bäume waren ausgegangen. Ich sah das Gitter wieder, die welken Rasenplätze, die kränklichen Vogelbeerbäume und die ehrwürdigen Kastanien. Ich sah das Bassin wieder, in dem die schlammigen Wasserpflanzen schwammen, und wo die kleine Katze getötet wurde, die Tannenwand, die den Viehhof verdeckte, das verlassene Bureau; ich sah den Park wieder mit seinen gewundenen Bäumen und den Steinbänken, die wie alte Grabmäler aussahen … Im Küchengarten grub Felix ein Gartenbeet um … Ach, wie gebrochen er aussah, der alte Mann! Er wies auf einen Weißdornbusch und sagte:

»Dahinten war es, wo Sie mit Ihrem verstorbenen Herren Papa die Amseln jagten … Wissen Sie noch, Herr Jean?«

»Jawohl, ja, Felix.«

»Und dann die Drosseln, Potzblitz, wissen Sie noch?«

»Ja, Felix, ja …

Ich entfernte mich. Ich konnte die Reden dieses Greises, der in der Priorei zu sterben gedachte und den ich fortjagen wollte, – wohin? nicht ertragen … Er hatte uns treu gedient, er gehörte fast zur Familie, war arm und außer Stande künftig seinen Lebensunterhalt zu verdienen … Und ich wollte ihn fortjagen! … Großer Gott, wie konnte ich das thun?

Beim Frühstück schien mir Marie sehr nervös zu sein. Sie ging unablässig um meinen Stuhl herum und war in ungewohnter Aufregung.

»Entschuldigen Sie, Herr Jean,« kam es endlich heraus … »Aber ich muß es vom Herzen runter haben … Ist es wahr, daß Sie die Priorei verkaufen wollen? …«

»Ja, Marie.«

Das alte Mädchen sperrte die Augen weit auf, und indem sie beide Hände auf den Tisch stützte, wiederholte sie bestürzt:

»Sie wollen die Priorei verkaufen?«

»Ja, Marie.«

»Die Priorei, wo Ihre ganze Familie geboren wurde … Die Priorei, wo Ihr Vater und Ihre Mutter gestorben sind? … Die Priorei, Herr Jesus, die Priorei!«

»Ja, Marie.«

Sie fuhr erschrocken zurück.

»Aber dann sind Sie ja ein schlechter Sohn, Herr Jean!«

Ich gab keine Antwort. Marie verließ das Speisezimmer und sprach kein Wort mehr mit mir.

Zwei Tage später, als meine Geschäfte beendet waren und der Kontrakt unterzeichnet, reiste ich ab. Von meinem Vermögen blieb mir nur so viel, daß ich einen Monat davon leben konnte. Es war vorbei, für immer vorbei! …

Enorme Schulden, unehrenhafte Schulden und nichts um sie zu bezahlen! … Ach, daß der Zug mich weit, weit hinwegführte, daß er niemals ankäme! Erst in Paris fiel es mir ein, daß ich die Gräber meiner Eltern nicht aufgesucht hatte.

Juliette empfing mich zärtlich. Sie umarmte mich mit Leidenschaft.

»Ach, mein Liebling, mein Liebling! … Ich dachte, Du würdest nie wieder zurückkehren! Fünf Tage! Denke nur! Übrigens wenn Du nächstes Mal auf Reisen gehst, gehe ich mit Dir …«

Sie zeigte sich so liebevoll gegen mich, so aufrichtig bewegt, ihre Liebkosungen flößten mir so viel Vertrauen ein, und außerdem schien mir das, was ich auf dem Herzen hatte, so schwer zu ertragen, daß ich nicht länger zögerte, sondern ihr alles mitteilte.

Ich schloß sie in meine Arme und setzte sie auf meine Kniee.

»Höre mich, meine Juliette,« sagte ich zu ihr, »höre, was ich Dir sagen will … Ich bin verloren, ruiniert … begreifst Du mich, ruiniert! … Wir haben nur viertausend Franken übrig! …«

»Armer Kleiner!« seufzte Juliette, indem sie ihren Kopf auf meine Schulter legte, »armer Kleiner!«

Ich brach in Schluchzen aus und rief: »Ach, ich muß Dich verlassen! … Und ich werde daran sterben! …«

»Aber bist Du denn toll, so etwas zu sagen … Meinst Du denn, daß ich ohne Dich leben könnte, mein Liebling? … Na, nun weine nicht mehr, sei nicht so trostlos …«

Sie trocknete meine feuchten Augen und sagte mit ihrer sanften Stimme, die immer sanfter wurde:

»Erstens haben wir ja noch viertausend Franken … Davon können wir vier Monate leben … Unterdessen wirst Du fleißig arbeiten … Sieh mal, in vier Monaten hast Du Zeit genug, um ein schönes Buch zu schreiben! … Aber weine jetzt nicht mehr … Denn wenn Du weinst, sage ich Dir mein großes Geheimnis nicht … mein großes, großes, großes Geheimnis … Weißt Du, was Deine kleine Frau, die wohl etwas davon ahnte, wie es um Dich stand – weißt Du, was sie gethan hat? … So höre nur: seit drei Tagen geht sie in die Reitschule, um das Reiten zu erlernen … und nächstes Jahr wird sie Franconi – da sie sehr geschickt sein wird – engagieren … Weißt Du, was eine Kunstreiterin der hohen Schule verdient? … Zweitausend, ja dreitausend Franken im Monat! … Du siehst also, armer Kleiner, daß Du nicht so trostlos zu sein brauchst …«

Jede Unvernunft, jede Verrücktheit war mir willkommen. Ich klammerte mich verzweifelt daran fest, wie der Matrose sich an den unsicheren Balken festklammert, den die Welle auf und niederschaukelt. Wenn sie mich nur einen Augenblick über Wasser hielten, fragte ich nicht, gegen welche noch so gefährlichen Riffe, in welche noch so tiefen Abgründe sie mich schleudern würden. Ich hegte noch immer jene thörichte Hoffnung der zum Tode Verurteilten, die bis zum Blutgerüst, ja selbst noch unter dem Beile des Henkers, irgend ein unmögliches Ereignis erwarten, eine plötzliche Revolution, eine Planetenkatastrophe, die sie vom Tode erretten soll. Ich ließ mich von Juliettens sanftem Geplauder einlullen! … Heroische Vorsätze von anstrengender Arbeit fuhren mir durch den Kopf und stürzten mich in die wildeste Begeisterung … Ich sah im Geiste atemlose Menschenmassen, die über meine Bücher gebeugt dasaßen; Theater, wo ernst aussehende und elegant gekleidete Herren auf der Bühne meinen Namen der wahnsinnigen Begeisterung des Publikums proklamierten. Von Müdigkeit überwältigt, erschöpft von der Aufregung des Tages, schlief ich ein …

Wir haben zu Mittag gespeist … Juliette ist womöglich noch zärtlicher gegen mich als bei meiner Rückkehr. Trotzdem bemerke ich eine Unruhe, eine Befangenheit an ihr. Sie ist zugleich traurig und ausgelassen: was verbirgt sich hinter dieser Stirn, auf der die Wolken kommen und gehen? Wäre sie trotz ihrer Proteste doch entschlossen, mich zu verlassen und will sie mir die Trennung weniger schmerzlich machen, indem sie alle Schätze ihrer Liebkosungen über mich ausschüttet? …

»Wie langweilig, Schatz!« sagte sie … »aber ich muß heute ausgehen.«

»Was? Du mußt ausgehen? … Jetzt? Augenblicklich?«

»Ach ja … Denke nur, die arme Gabrielle ist so krank … Sie ist allein … und ich habe versprochen, sie zu besuchen. Oh, ich werde gleich wieder zurück sein … Höchstens in einer Stunde …«

Juliette spricht ganz natürlich … Aber ich weiß nicht, weshalb mir der Gedanke kommt, daß sie lügt, daß sie nicht zu Gabrielle geht … und ein häßlicher, unbestimmter Verdacht steigt plötzlich in mir auf … Ich sage zu ihr:

»Könntest Du nicht bis morgen warten?«

»Ach nein, unmöglich! … Weißt Du, ich habe es ihr versprochen!«

»Ich bitte Dich darum … morgen …«

»Unmöglich! … Die arme Gabrielle!«

»Schön … Dann gehe ich mit Dir … Ich bleibe draußen stehen und warte auf Dich!«

Heimlich beobachtete ich sie … Sie verzog keine Miene … Nein! Sie hat auch nicht die geringste Überraschung der Nerven verraten. Sie antwortete sanft:

»Das ist nicht vernünftig! … Du bist müde, Schatz … lege Dich schlafen!«

Und schon sehe ich die Schleppe ihres Kleides wie eine Natter hinter der Portière verschwinden … Und ich überlege mir, indem ich die Augen hartnäckig auf das Tischtuch richte, auf dem der rote Wiederschein einer Weinflasche hin und hertanzt, daß, in der letzteren Zeit Frauen in unser Haus gekommen sind, fette, zweideutige Frauen, die das widerliche Aussehen hatten von Hunden, die Schmutz wittern … Ich habe Juliette gefragt:

»Wer sind diese Frauen?« Juliette hat mir einmal geantwortet: »Es ist die Korsetnäherin,« ein ander mal: »Es ist die Stickerin …«

Und ich habe es geglaubt! … Eines Tages hob ich vom Teppich eine Visitenkarte auf, die herumlag … Madame Rabineau 114, Rue de Sèze … »Wer ist das, Mme. Rabineau?« Juliette antwortete mir: »Nichts, gieb her.« Und ich Dummkopf bin nicht einmal in die Rue de Sèze gegangen, um nachzuforschen! … Ich entsinne mich aller dieser Sachen genau … Wie ist es zugegangen, daß ich Nichts davon verstanden habe? Weshalb bin ich ihnen nicht an die Kehle gesprungen, diesen widerlichen Menschen-Verkäuferinnen? … Und es lüftet sich plötzlich ein Schleier, hinter dem ich Juliette erblicke, wie sie sich mit besudeltem Körper, häßlich und erschöpft, alten Böcken hingiebt! … Juliette steht dort vor mir … Sie zieht sich die Handschuhe an … sie hat ein dunkles Kleid angezogen … einen dichten Schleier vorgebunden, der ihr Gesicht verbirgt … Der Schatten ihrer Hand hüpft auf dem Tischtuch herum, er verlängert sich, breitet sich aus, zieht sich zusammen, verschwindet und kommt wieder … Immer werde ich diesen teuflischen Schatten vor mir sehen, immer! …

»Umarme mich, mein Liebling.«

»Geh' nicht aus, Juliette; ich beschwöre Dich, geh' nicht aus!«

»Umarme mich … Drücke mich fester an Dich … noch fester …«

Sie ist traurig … Durch den dichten Schleier hindurch spüre ich auf meiner Wange das Feuchte einer Thräne.

»Weshalb weinst Du, Juliette? Juliette um Gotteswillen, bleibe bei mir!«

»Umarme mich … Ich bete Dich an, mein Jean … Ich bete Dich an, nur Dich allein! …«

Sie ist gegangen … Ich höre Thüren öffnen und zuschlagen … Sie ist fortgegangen … Von draußen her klingt das Geräusch eines rollenden Wagens an mein Ohr … Das Geräusch entfernt sich, entfernt sich immer mehr, und erstirbt endlich … Sie ist gegangen! … Und im Handumdrehen bin ich auch unten auf der Straße … Ein Fiaker fährt vorbei … »– 114 Rue de Sèze!«

Ah! Mein Entschluß war schnell gefaßt! … Ich hatte mir überlegt, daß ich noch vor ihr hinkommen konnte … Denn sie hat sehr wohl verstanden, daß ich mich nicht mit der Geschichte von Gabrielles Krankheit anführen lasse … Meine Traurigkeit, meine dringenden Bitten, haben sicher bei ihr die Furcht erweckt, verfolgt und ausspioniert zu werden, und deshalb wird sie wahrscheinlich einen Umweg gefahren sein … Aber weshalb ist dieser abscheuliche Gedanke wie ein Blitz in meine Seele eingeschlagen, weshalb gerade dieser und kein anderer? Noch hoffe ich, daß ich mich in meinen Befürchtungen getäuscht habe, daß Mme. Rabineau »Nichts« ist, daß Gabrielle krank ist! …

Eine Art von Privathäuschen, zwischen zwei hohen Häusern fast erstickt; eine enge Thür gleichsam in die Mauer hineingehöhlt, mit drei Stufen davor; eine düstere Façade, deren geschlossene Fenster keinen Lichtstrahl einlassen … Dort ist es! … Dorthin wird sie kommen, sie ist vielleicht schon dort! … Und die Wut treibt mich nach dieser Thüre hin, ich möchte das Haus in Brand stecken, ich möchte alle die verruchten Körper, die dort drinnen weilen, in einem Höllenfeuer heulen hören und sich winden sehen … Soeben ging eine Frau in das Haus hinein. Mit abstehenden Ellbogen, die Hände in die Taschen ihres hellen Jaquets vergraben, schlenderte sie nachlässig dahin, eine Melodie trällernd … Weshalb habe ich ihr nicht ins Gesicht gespieen? … Es hält ein Koupee vor der Thür – ein Greis steigt heraus … Er schreitet an mir vorüber, kurzatmig, prustend, auf seinen Kammerdiener gestützt … Seine zitternden Beine können ihn nicht tragen; zwischen seinen geschwollenen, schlaffen Augenlidern leuchtet eine Flamme blutiger Ausschweifung … Weshalb habe ich nicht das häßliche Gesicht dieses alten, schwachsinnigen Fauns in Fetzen zerkratzt? … Vielleicht ist er es, der Juliette erwartet! … Die Pforte zur Hölle hat sich vor ihm aufgethan, und während eines kurzen Augenblicks hat mein Blick in den Abgrund hinein tauchen können … Ich glaubte rote Flammen zu sehen, Rauch, abscheuliche Umarmungen, ein wildes Durcheinander von sich überstürzenden Körpern … Nein, es ist ein trauriger, öder Vorplatz, der vom blassen Schein einer Lampe erleuchtet wird, und im Hintergrunde etwas Schwarzes, wie ein finsteres Schattenloch, bei dem man fühlt, daß unreine Dinge dort vor sich gehen … Und die Wagen halten und speien ihren Vorrat an menschlichem Dünger aus in diesen Schlammpfuhl der Liebe … Ein kleines, kaum zehnjähriges Mädchen verfolgt mich: »Kaufen Sie schöne Veilchen! … Schöne Veilchen! …« Ich gebe ihr ein Goldstück: »Gehe fort. Kleine, gehe fort! Bleibe nicht hier! Sie werden Dich nehmen! …«

Mein Kopf verwirrt sich; am Herzen fühle ich einen Schmerz wie von tausend Krallen, die es durchwühlen, aufreißen und zerfetzen … Ein heißes Verlangen nach Mord, nach Totschlag brennt in mir und zwingt meine Arme zu der Bewegung des Niederhauens … Ja! Könnt ich mich, die Geißel in der Hand, mitten in diese Priapenversammlung hineinstürzen, in ihre Körper unauslöschliche Wunden schlagen und auf die Spiegel, auf die Teppiche, auf die Betten, Ströme warmen Bluts vergießen und Stücke lebenden Fleisches umherstreuen … Und an der Thüre des infamen Hauses die Rabineau selbst nackend, mit aufgeschlitztem Bauche, mit heraushängenden Eingeweiden festnageln, wie man es mit den Eulen, an den Pforten der Scheunen draußen auf dem Lande thut! …

Ein Fiaker hält an: eine Frau steigt heraus; ich habe den Hut, den Schleier, das Kleid wiedererkannt.

»Juliette!«

Als sie mich gewahrt, stößt sie einen Schrei aus … Aber schnell faßt sie sich … Ihre Augen blicken mich trotzig an:

»Laß mich!« schreit sie … »Was machst Du hier? … Laß mich!«

Ich umklammere mit eisernem Griff ihre Handgelenke und sage mit erstickter, röchelnder Stimme:

»Höre mich … Wenn Du einen Schritt thust, wenn Du ein Wort sagst … werfe ich Dich nieder auf das Trottoir und zertrete Dir den Kopf mit den Absätzen meiner Stiefel.«

»Laß mich!«

Mit voller Kraft schleudere ich ihr die Faust ins Gesicht, und mit den Nägeln zerkratzte ich ihr wut- und haßerfüllt die Stirn, die Wangen, aus denen das Blut hervorquillt.

»Jean! oh! Jean! … Hab Mitleid mit mir! Jean! … Gnade! Gnade! … Sei gut! … Du tötest mich! …«

Ich führe sie mit brutalem Griff an den Wagen zurück … und wir fahren heim … In sich zusammengekauert sitzt sie schluchzend neben mir … Was jetzt? … Ich weiß es nicht … Wirklich, ich weiß es nicht … Ich frage mich Nichts, ich denke an Nichts … Es ist mir, als habe sich ein Felsengebirge auf mich niedergestürzt … Ich habe das Gefühl, als läge ich unter Felsblöcken, die mir den Schädel zerschmettert und das Fleisch zerquetscht haben … Weshalb fliehen jene hohen, weißen Mauern, inmitten des furchtbaren Dunkels, das mich umgiebt, vor mir in den Himmel hinein? Weshalb flattern finstere Vögel in einem plötzlichen Lichtschein umher? … Weshalb weint Etwas da neben mir? … Weshalb? Ich weiß es nicht …


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