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VIII.

Lirat! … Ach, endlich, endlich sind Sie da! … Seit acht Tagen suche ich Sie, schreibe ich an Sie, rufe ich Sie, erwarte ich Sie … Lirat, mein lieber Lirat. retten Sie mich!«

»Um Gotteswillen! Was ist denn?«

»Ich will mich töten.«

»Sie wollen sich töten! … Ich kenne das … S' ist nicht gefährlich.«

»Ich will mich töten … Ich will mich töten!«

Lirat blickte mich an, zwinkerte mit den Augen und ging mit großen Schritten in meinem Arbeitszimmer auf und nieder.

»Mein armer Mintié!« sagte er. »Wenn Sie Minister wären, Wechselmakler … oder Gewürzkrämer, Kunstkritiker, Journalist … was weiß ich … würde ich zu Ihnen sagen:

»Sie sind unglücklich mein Freund, und haben genug vom Leben … Gut, töten Sie sich! …« Und darauf würde ich meiner Wege gehen … Aber Sie, Sie haben das seltene Glück, ein Künstler zu sein, Sie besitzen die göttliche Gabe, sehen, verstehen und fühlen zu können, was die Anderen nicht sehen, verstehen und fühlen … In der Natur giebt es Harmonien, die nur für Sie geschaffen sind, die die Anderen nie vernehmen werden … Die einzigen Freuden des Lebens, die edlen, großen und reinen, welche Sie mit den Menschen aussöhnen und Sie Gott ähnlich machen, die besitzen Sie … Und weil eine Frau Sie betrogen hat, wollen Sie das Alles aufgeben? … Sie hat Sie betrogen, gewiß … Was soll sie denn auch anderes thun? … Und was in aller Welt kann es Ihnen anhaben?«

»Ich bitte Sie, scherzen Sie nicht, Lirat! … Sie wissen nicht, was geschehen ist … Sie haben keine Ahnung davon … Ich bin verloren, entehrt!«

»Entehrt, mein Freund? … Sind Sie dessen sicher? … Sie haben unehrenhafte Schulden? … Gut, so bezahlen Sie sie!«

»Es handelt sich nicht darum! … Ich bin entehrt, entehrt, verstehen Sie? … Hören Sie: vier Monate sind's her, daß ich Julietten kein Geld gegeben habe … vier Monate! … Und ich lebe bei ihr, ich esse bei ihr, ich werde von ihr ausgehalten! … Jeden Abend … vor dem Diner … spät … kehrt Juliette heim … Sie ist bleich, wie gerädert, erschöpft, mit wirren Haaren … Aus welchen Schmutzlöchern, aus welchen Armen kommt sie? … Auf welchen Kissen hat sie ihren Kopf herumgewälzt? … Zuweilen sehe ich leinene Fäserchen und Bettdaunen frech an den Spitzen ihrer Haare tanzen! … Sie geniert sich nicht mehr, giebt sich nicht einmal mehr die Mühe zu lügen … Man möchte fast sagen, es sei abgemachte Sache zwischen uns beiden … Sie entkleidet sich, und ich glaube, sie empfindet eine dämonische Freude, mir ihre eilig und schlecht festgehakten Röcke zu zeigen, ihr losgeschnürtes Korset, die ganze Unordnung ihrer gestörten Toilette, ihres Unterzeuges, das von ihrem Körper herunterfällt und sich so meinen Blicken darbietet! … Ich habe dann Wutanfälle und möchte sie beißen. Der Zorn bemächtigt sich meiner, ich will sie töten – und sage ihr kein Wort darüber! Oft nähere ich mich ihr sogar, um sie zu umarmen … aber sie stößt mich zurück: »Nein, laß mich, ich bin abgehetzt!« In der ersten Zeit dieses verabscheuungswürdigen Daseins habe ich sie geprügelt … Ja, Lirat, nichts ist mir erspart geblieben, nichts. Ich habe jede Gemeinheit durchgekostet … geprügelt habe ich sie! … Sie beugte still den Rücken … kaum daß sie eine Klage ausstieß … Eines Abends packte ich sie an die Kehle, ich warf sie um und stürzte mich auf sie … Ich war fest entschlossen, ein Ende zu machen! … Während ich mit meinen Fingern ihren Hals umklammerte, wandte ich den Kopf ab, aus Furcht gerührt zu werden, starrte unverwandt eine Blume im Teppich an, und um nichts zu hören, kein Stöhnen, kein Röcheln, brüllte ich, wie ein Rasender, unaufhörlich irre Worte ins Zimmer hinein … Wie lange ich wohl so gelegen bin? … Bald kämpfte sie nicht mehr gegen mich an … Ihre gespannten Muskeln erschlafften … ich spürte, wie ihr Leben unter meinen Fingern erlosch … Noch einmal durchlief sie ein Zittern … und es wurde still … Sie regte sich nicht mehr … Aber plötzlich gewahrte ich ihr dunkelviolettes Gesicht, ihre krampfhaft verdrehten Augen, ihren weit aufgesperrten Mund, ihren steifen Körper, ihre leblosen Arme … Wie ein Wahnsinniger stürzte ich in allen Zimmern der Wohnung umher und rief die Dienstboten, indem ich schrie: »Kommt, kommt, ich habe meine Frau getötet!« Ich stürzte die Treppe hinunter, trat in das Portierstübchen und rief den Pförtnersleuten zu: »Gehen Sie sofort hinauf, ich habe meine Frau getötet!« Darauf floh ich verstört, ohne Hut, auf die Straße hinaus … Die ganze Nacht verbrachte ich damit umher zu laufen, ohne zu wissen, wo ich mich befand; ich durchstreifte Boulevards, die nicht enden wollten, schritt über unzählige Brücken und warf mich erschöpft auf die Bänke in den Gartenanlagen; immer kehrte ich aber mechanisch zurück vor unser Haus … Es war mir, als sähe ich zwischen den geschlossenen Läden hindurch Wachskerzen hervorschimmern; als gingen bestürzte Priester, in Chorhemden, die Hostie tragend, an mir vorüber; als hörte ich feierlichen Gesang und Orgeltöne, untermischt mit einem Geräusch, wie von Stricken, die gegen das Holz eines Sarges schlugen. Ich stellte mir Juliette vor, wie sie im weißen Kleide, mit gefalteten Händen, ein Kruzifiks auf der Brust und ganz von Blumen bedeckt, auf ihrem Bette ausgestreckt lag … Und ich war erstaunt, daß nicht schon vor der Pforte schwarze Draperien hingen und nicht auf dem Hausflur ein Katafalk stand mit Kränzen und Blumen, von einer Trauerschar umgeben, die sich um den Weihwedel stritten … Ach! Lirat, welche Nacht! … Daß ich mich nicht unter die Wagen gestürzt habe, mir nicht den Schädel an den Häusermauern zerspaltet, mich nicht in die Seine gestürzt habe! … Ich begreife es nicht! … Der Tag brach an … Da kam mir der Gedanke, mich der Polizei auszuliefern; ich spürte ein heftiges Verlangen, zu einem Schutzmanne zu gehen und zu ihm zu sagen: »Ich habe Juliette getötet … Nehmen Sie mich fest!« Ja, die überspanntesten Ideen wurden in meinem Hirn geboren, kämpften mit anderen und wurden von ihnen verdrängt … Und ich lief, lief, als verfolgte mich eine kläffende Hundemeute … Es war an einem Sonntag, erinnere ich mich … auf den sonnenbeschienenen Straßen waren viel Menschen … Ich fühlte mich überzeugt, daß die Blicke aller sich auf mich hefteten, daß alle Leute, die mich laufen sahen, schaudernd ausriefen: »Das ist Juliettens Mörder!« Gegen Abend, als ich aufgerieben, entkräftet, dem Umsinken nahe war, begegnete ich Jesselin: »Heh! Sie! Hören Sie mal!« rief er mir entgegen, »was machen Sie für Geschichten!« »Sie wissen schon?« fragte ich zitternd … Jesselin lachte und antwortete: »Ob ich's weiß? … Ganz Paris weiß es, lieber Freund … Vor kurzem hat Juliette uns draußen beim Rennen ihren Hals gezeigt und die Spuren, die Ihre Finger darauf hinterlassen haben … Sie sagte: »Das hat Jean gethan …« Donnerwetter! Sie machen's gründlich, Freund! …« Und indem er mich verließ, fügte er hinzu: »Übrigens ist sie nie reizender gewesen als gerade heute … Und einen Erfolg hat sie gehabt!« … Ich hatte sie tot geglaubt, und sie stolzierte beim Rennen umher! … Ich war fortgestürzt, – sie hatte Ursache anzunehmen, daß ich nie zurückkehren würde, und sie war zum Rennen gefahren! … Nie reizender! …«

Lirat hörte ernst und schweigend zu … Er schritt nicht mehr auf und ab; er setzte sich nieder und wiegte seinen Kopf leise … Er murmelte:

»Was wollen Sie, daß ich Ihnen sage? … Sie müssen fort …«

»Fort?« erwiderte ich … »fort? Nein, nein das will ich nicht! … Ein Leim, der mit jedem Tage zäher wird, klebt mich an diesen Teppich fest; eine Kette, die mit jedem Tage schwerer wird, kettet mich an diese Mauern … Ich kann nicht … Sehen Sie, in diesem Augenblick träume ich von den wahnsinnigsten Heldenthaten … Um mich von meinen feigen Handlungen rein zu waschen, möchte ich mich vor die Mündungen feuerspeiender Kanonen stürzen. Ich traue mir die Kraft zu, mit meinen Fäusten allein, mächtige Armeen zu zertrümmern … Wenn ich in den Straßen gehe, suche ich Pferde, die durchgehen, eine Feuersbrunst, oder sonst irgend etwas Furchtbares, um mich aufzuopfern … es giebt keine gefährliche und übermenschliche Handlung, die ich nicht den Mut hätte, auszuführen … Nur das eine, sie verlassen! … Das kann ich nicht! … Zuerst habe ich mich vor mir selber mit den lächerlichsten Ausflüchten, den unhaltbarsten Gründen entschuldigt … Ich habe mir gesagt, daß, wenn ich fortginge, Juliette noch tiefer sinken würde, daß meine Liebe in gewisser Weise ihre letzte Keuschheit sei, daß es mir doch noch zu guterletzt gelingen würde, sie aus dem Schmutz, in dem sie sich wälzt, zu erretten … Wahrhaftig ich habe mir den Luxus des Mitleides und der Aufopferung im vollen Maße gegönnt … Aber ich log! … Ich kann nicht! … Ich kann nicht, weil ich sie liebe, weil ich sie nur noch mehr liebe, je infamer sie sich benimmt … Weil ich sie begehre, verstehen Sie, Lirat? … Und wenn Sie wüßten, aus welchen Wutanfällen, aus welchen Schändlichkeiten, aus welchen Qualen eine solche Liebe zusammengesetzt ist? … Wenn Sie es in Wirklichkeit wüßten, zu welchen Höllen die Leidenschaft herabsteigen kann – Sie würden sich entsetzen! … Abends, wenn sie sich hingelegt hat, schleiche ich im Toilettenkabinett umher, öffne die Schubladen, durchwühle die Asche im Kamin, sammle die Papierfetzen der zerrissenen Briefe, berieche die Wäsche, die sie eben abgelegt hat und gebe mich zu der abscheulichsten Spionage, zu den gemeinsten Untersuchungen her! … Es ist mir nicht genug, daß ich's weiß, ich will's auch sehen! … Kurzum, ich habe kein Hirn, kein Herz, nichts mehr! … Ich bin nur das Geschlecht, das aus den Fugen geraten, das toll geworden ist, das gierige, hungrige Geschlecht, das seinen Teil lebenden Fleisches verlangt, wie die reißenden Tiere, die in der Brunst der bluterfüllten Nächte brüllen.«

Ich war ermattet … Die Worte kamen zischend aus meiner Kehle … trotzdem fuhr ich fort:

»Ach, es ist nicht zu begreifen! … Ab und zu erkrankt Juliette … ihre Glieder, die vom ausschweifenden Leben angestrengt sind, wollen ihr nicht mehr gehorchen; ihr Organismus, den die nervösen Überreizungen erschüttert haben, lehnt sich dagegen auf … Dann legt sie sich ins Bett … Wenn Sie sie in den Tagen sähen? … Wie ein Kind, Lirat, so rührend und sanft! Sie träumt nur von Ausflügen auf das Land hinaus, von kleinen Flüssen, von grünen Wiesen, von einfältigen, unschuldigen Freuden: Oh, mein Liebling!« ruft sie, »wie könnten wir mit zehntausend Franken glücklich sein!« … Sie macht köstliche, eines Virgils würdige Pläne für den Sommer … Wir sollen weit wegziehen, aufs Land hinaus, in ein kleines Haus, das von hohen Bäumen umgeben ist … sie will Hühner halten, die Eier legen, die sie selbst jeden Morgen aus den Nestern holen will; sie will weißen Käse machen und Eingemachtes zubereiten … und sie will Heu wenden, und die Armen besuchen; sie wird Schürzen von dieser Façon und Strohhüte von jener Façon tragen und die Umgegend auf einem Esel, den sie Joseph nennen will, durchstreifen … »Hott! Joseph, hott! … Ach! wie reizend wird das werden!« Ich höre ihr zu; bei ihrem Geplauder fühle ich neue Hoffnung in mir emporkeimen und ich gebe mich unmöglichen Träumen hin von einem ländlichen Dasein mit Juliette zusammen, die als Schäferin verkleidet ist. Landschaften, die so beruhigend wirken wie ein stiller Zufluchtsort, so bezaubernd wie ein Paradies, gleiten an uns vorüber … Und wir geraten beide in Aufregung, in Ekstase … Juliette weint: »Mein armes Herz, ich habe Dir viel Kummer gemacht, aber jetzt soll's für immer vorbei sein; ich verspreche es Dir … Und dann bekomme ich ein zahmes Lämmchen, nicht! … Ein schönes, großes, weißes Lämmchen, dem ich ein rotseidenes Band um den Hals binde, nicht! … das mir überall nachläuft, mit Spy, nicht? …« Sie verlangt, daß ich dicht neben ihrem Bette an einem kleinen Tische zu Mittag esse; sie verhätschelt mich wie die Amme ihren Säugling und sorgt für mich wie eine Mutter … sie läßt mich essen, als sei ich ein Kind, und wiederholt unaufhörlich mit bewegter Stimme: »Armes Herzchen! … Armes Herzchen! In anderen Augenblicken ist sie ernst und sinnend: »Mein Liebling, ich möchte Dich um eine Sache fragen, die mich schon lange quält … schwöre, daß Du es mir sagen willst …« »Ich schwöre es Dir« … »Schön … wenn man tot ist und im Sarge liegt, stützt man dann die Füße gegen das Brett? … »Welche Idee! … Weshalb von solchen Sachen reden?« … »Sag', sag' es mir, bitte, sag' es mir!« … »Aber ich weiß es nicht, meine kleine Juliette.« … »Du weißt es nicht? … Nein, es ist wahr, Du weißt ja nie etwas, wenn ich im Ernst rede … Aber siehst Du … ich möchte nicht, daß meine Füße an die Bretter stoßen … Wenn ich tot bin … sollst Du mir ein Kissen unter den Kopf legen … und mir ein weißes Kleid anziehen … weißt Du … mit rosenroten Blüten … mein Kleid vom großen Rennen! … Du wirst furchtbar traurig sein, armer Kleiner! … Gieb mir einen Kuß … komm hierher, hier, dicht neben mich … noch dichter … ich bete Dich an! …« Und ich wünsche, Juliette möchte immer krank sein! … Sobald sie wieder hergestellt ist, weiß sie von Nichts mehr; ihre Gelübde, ihre Vorsätze verschwinden, und das Höllenleben fängt von neuem an, nur noch maßloser, noch toller … Und ich stürze aus der kleinen Himmelsecke, in der ich aufzuleben begann, wieder in den blutigen Schmutz dieser furchtbaren Liebe zurück! … Ach, und das ist nicht alles, Lirat … Ich müßte doch den Stolz haben, mich wenigstens in der Wohnung zu verbergen, um dort über meine Schmach nachzusinnen, nicht wahr? … Ich müßte mich so tief im Schatten halten, meinen Namen mit so viel Schweigen umgeben, daß man mich tot glaubte? … Aber nein, nein! … Gehen Sie ins Bois, so werden Sie mich dort jeden Tag treffen … im Theater ebenfalls. In einer Prosceniumsloge sitze ich, im korrekten Frack, eine Blume im Knopfloch … Überall treffen Sie mich! … Juliette strahlt neben mir, zwischen Blumen, Federn und Juwelen … Sie ist entzückend; sie trägt ein neues Kleid, das man bewundert und das Perlenkollier, das ich nicht bezahlt habe; sie lächelt mit einem Lächeln, das immer jungfräulicher wird, während ihre Fingerspitzen anmutig und sorglos mit den Perlen an ihrem Halse spielen … Und ich besitze keinen Sou mehr, keinen! … Und mit dem Schuldenmachen, mit den Prellereien und Betrügereien gehts nicht mehr! … Oft befällt mich ein Schaudern … Es ist mir, als lege sich die schwere Hand eines Gendarmen auf meine Schulter … Schon höre ich ein peinliches Murmeln um mich her; ich fange Blicke auf, die mich verächtlich von der Seite ansehen … nach und nach wird die Leere um mich herum größer, man zieht sich von mir zurück, wie von einem Pestbehafteten … Ehemalige Freunde gehen an mir vorüber, wenden den Kopf ab und vermeiden es, mich zu begrüßen … Und wider Willen nehme ich die geduckte und servile Haltung der zweifelhaften Leute an, die mit schielenden Blicken und furchtsam gekrümmtem Rücken nach einer ausgestreckten Hand spähen! … Und was die Sache so furchtbar macht: ich bin mir ganz klar darüber, daß es einzig und allein Juliettens Schönheit ist, die mich beschützt. Es sind die Begierden, die sie erweckt, es ist ihr Mund, es ist das entschleierte und profanierte Geheimnis ihres Körpers, welches mich, in dieser Welt der Freuden, mit einer falschen Achtung belehnt, mit einem lügnerischen Schein von Ansehen … Ein Händedruck, ein wohlwollender Blick, will sagen: »Ich habe mit Deiner Juliette geschlafen und bin in Deiner Schuld … Möchtest Du vielleicht lieber Geld? … Wie viel willst Du haben? … »Ja, in dem Augenblick, wo ich Juliette verließe, würde man mich mit einem Fußtritte selbst aus diesem leichtlebigen, nachsichtigen und verderbten Milieu hinauswerfen, und ich wäre auf die verhängnisvolle Freundschaft von Krupiers und Zuhältern angewiesen! …«

Ich brach in Schluchzen aus … Lirat regte sich nicht … hob nicht den Kopf in die Höhe … Unbeweglich, mit ineinander gefalteten Händen, betrachtete er, ich weiß nicht was … nichts ohne Zweifel … Nach einer kurzen Pause fing ich wieder an:

»Mein guter Lirat, gedenken Sie noch unserer einstigen Gespräche, in Ihrem Atelier? … Ich lauschte Ihren Worten, und was Sie sagten, war so herrlich! … Damals haben Sie, vielleicht ohne es zu ahnen, ein edles, hochfliegendes Streben, eine hehre Begeisterung in mir entfacht! … Sie hauchten mir etwas von dem Glauben, von dem Ehrgeiz und stolzen Aufschwung Ihrer Seele ein … Sie lehrten mich in der Natur lesen, ihre leidenschaftliche Sprache verstehen, die Seele, die den Dingen innewohnt, empfinden … Sie brachten mich der unsterblichen Schönheit nahe! … Sie sagten zu mir: »Die Liebe! Sie steckt ja im irdenen Topf, in den wurmzerfressenen Lumpen, die ich male … Ein Gefühl, eine Wonne oder einen Schmerz, irgend ein pochendes Leben, einen Lichtstrahl, ein Zittern und Beben, einerlei wie flüchtig und vergänglich es gewesen, wenn es nur gelebt hat – es wiedergeben, in Farben, Worten oder Tönen festhalten, das ist ja lieben! … Die Liebe ist das Verlangen des Menschen schöpferisch zu werden! … Und ich träumte davon, ein großer Künstler zu sein! … Ach! Meine Träume, mein berauschendes Lebensgefühl, meine Zweifel, meine heilige Angst, entsinnen Sie sich ihrer noch, Lirat? … Und was habe ich aus alledem gemacht? … Ich habe die Liebe gewollt und bin zum Weibe gegangen, zur Mörderin der Liebe … Mit einer Seele, die von Schwingen getragen wurde, die trunken war von der Unendlichkeit des Raumes, vom blauen Äther, von Himmelsklarheit, zog ich aus! … Und jetzt, was bin ich jetzt? … Ein schmutziges Tier, das sich gefräßig in seinem Kote wälzt, dessen Flanken eine tierische Brunst schüttelt! … Nun verstehen Sie, Lirat, daß ich verloren bin, verloren, verloren! … Und daß ich mich töten muß!! …«

Da näherte Lirat sich mir und legte seine beiden Hände auf meine Schultern.

»Sie sagen, daß Sie verloren sind! … Nein, mein Freund, wenn man ihrer Rasse angehört, geht man nie ganz verloren! … Sie wollen sich töten? … Spricht denn ein Kranker, der das Typhusfieber hat: »Ich muß mich töten.« … Er sagt: »Ich muß geheilt werden.« … Mein armes Kind, Sie sind ein Typhuskranker … suchen Sie geheilt zu werden … Verloren! … Es existiert ja kein Verbrechen, das beherzigen Sie nur, nicht ein Verbrechen, es sei noch so ungeheuerlich, noch so gemein, daß nicht durch die Vergebung ausgesühnt würde, nicht Gottes Vergebung, nicht der Menschen Vergebung, sondern die eigene, die weit schwerer, aber auch nützlicher zu erringen ist … Verloren! … Wissen Sie mein lieber Mintié, was ich soeben dachte, während ich Ihnen zuhörte? … Ich dachte, daß Sie die schönste und edelste Seele hätten, die ich gekannt! … Nein, nein … ein Mensch, der sich anklagt, wie Sie es soeben gethan … ein Mensch, der in die Beichte seiner Verirrungen einen solchen zerrissenen Ton hineinlegt … nein, das ist nimmermehr ein verlorener Mensch! … Im Gegenteil, er wird sich wiederfinden, er ist der Erlösung nahe … Die Liebe ist über Ihrem Haupte dahingegangen und hat um so mehr Schmutz zurückgelassen, je edelmütiger, je empfänglicher Ihre Natur war … Gut, reinigen Sie sich von diesem Schmutz! … Ich weiß auch, wo das Wasser zu finden ist, das ihn hinwegspült … Sie müssen fort von hier … Sie müssen Paris verlassen …«

»Lirat!« flehte ich … »verlangen Sie nicht von mir, daß ich fortgehen soll! Ich habe es zwanzig Mal versucht und habe es nicht gekonnt!«

»Sie verlassen Paris!« wiederholte Lirat, dessen Gesicht sich plötzlich verfinsterte … »Oder ich habe mich geirrt, und Sie sind ein Schuft!«

Er fing wieder an:

»An der Küste der Bretagne liegt ein Fischerdorf, das den Namen Le Ploc'h führt … Die Luft ist rein dort, die Natur herrlich, der Mensch rauh und gut … Dort sollen Sie eine Zeitlang leben … drei Monate, sechs Monate, ein Jahr, wenn es sein muß … Sie werden am Meeresstrande entlang wandern, Felsen erklimmen, Heidekraut und Föhrenwälder durchstreifen; Sie werden die Erde umgraben, Tang fischen, Felsblöcke ausheben und in den Wind hinausschreien … Kurzum, mein Freund, den Körper, den die Liebe vergiftet und geschwächt, stärken und bändigen lernen … Zu Anfang wird es Ihnen schwer werden, und Sie werden wahrscheinlich ein qualvolles Heimweh empfinden, sich gegen den Zwang empören und eine wütende Lust verspüren, zurückzukehren … Aber ich bitte Sie inständig: lassen Sie sich nicht irre machen … An den Tagen der schlimmsten Not marschieren Sie um so eifriger … bringen Sie Nächte auf dem Meere zu, in Begleitung der beherzten Leute dort … Und wenn Ihnen das Herz schwer wird, so weinen Sie, weinen Sie … Vor allem: keine Weichheit, keine Träumereien, keine Lektüre, kein Name in die Felswand hineingeritzt und in den Sand geschrieben … Denken Sie an nichts, denken Sie überhaupt nicht! … In solchen Fällen sind die Litteratur und die Kunst schlechte Ratgeber; sie hätten nichts Eiligeres zu thun, als Sie sofort zur Liebe zurückzuführen … Eine unausgesetzte Aktivität der Glieder, ein Arbeitertagewerk, ein von Muskelanstrengung erschöpfter Körper, ein regengepeitschtes, sturmbetäubtes Hirn … Ich sage Ihnen, Sie werden von dort zurückkehren, nicht allein geheilt, sondern stärker als je, besser für den Kampf gewappnet … Und Sie werden dem Ungeheuer Ihren Tribut bezahlt haben … Mit Ihrem Vermögen? … Bah! was will das sagen! … Ah, wirklich, ich beneide Sie darum, ich möchte mit Ihnen gehen … Fassen Sie Mut, mein lieber Mintié, fassen Sie Mut! … Und kommen Sie!«

»Ja, Lirat, Sie haben Recht … ich muß fort …«

»Gut, kommen Sie!«

»Ich werde morgen abreisen, ich schwöre es Ihnen.«

»Morgen? … Ah, morgen! Damit Sie sie heute Abend wiedersehen, nicht wahr? … Damit Sie sich wieder in ihre Arme werfen … Nein, kommen Sie!«

»So lassen Sie mich wenigstens an sie schreiben! … Ich kann sie doch nicht so verlassen, ohne ein Wort, ohne ein Lebewohl … Lirat, bedenken Sie das! … Trotz der Leiden, trotz der Schmach, haben wir doch auch glückliche Erinnerungen, haben wir gesegnete Stunden zusammen verbracht … Sie ist ja nicht boshaft … Sie hat nur kein Urteil, daher kommts … aber sie liebt mich … Ich werde sie verlassen, ich verspreche es Ihnen, daß ich sie verlassen werde … Nur geben Sie mir einen Tag Frist … einen einzigen Tag! … Das ist nicht viel, ein Tag, ich soll sie ja nie wiedersehen! Ach, ein einziger Tag!«

»Nein, kommen Sie!«

»Lirat! … mein guter Lirat!«

»Nein! …«

»Aber ich habe kein Geld! … Wie können Sie verlangen, daß ich ohne Geld reisen soll?«

»Ich habe genug für Ihre Reise … Und ich werde Ihnen später nachschicken … Kommen Sie!«

»Lassen Sie mich wenigstens eine Reisetasche packen!«

»Ich habe wollenes Unterzeug, Reisemütze, alles was Sie gebrauchen … Kommen Sie!«

Er zog mich mit sich fort. Betäubt, ohne die Dinge um mich her zu sehen, fast ohne klares Bewußtsein, schritt ich, mich an den Möbeln stoßend, durch die Wohnung … Ich litt nicht; ich ging mit schweren Schritten hinter Lirat her und mit der passiven Haltung eines Tieres, das man zum Schlachthause führt.

»Schön, wo haben Sie Ihren Hut?«

Richtig … ich hatte keinen Hut aufgesetzt … Es schien mir nicht, als ließe ich einen Teil meiner selbst hinter mir, als nähme ich davon Abschied, indem ich ging. Es war mir, als stürbe Alles langsam ab, Alles was ich um mich sah und die ganze Umgebung, in der ich bisher gelebt …

Der Zug ging acht Uhr Abends … Lirat verließ mich nicht mehr während der übrigen Zeit des Tages. Da er ohne Zweifel meinen Geist beschäftigen wollte und meinen Willen in Atem halten, sprach er unaufhörlich, mit großen Gesten, auf mich ein; ich aber hörte nichts, als ein verworrenes, unausstehliches Geräusch, das mir wie ein Fliegenschwarm um die Ohren summte … Wir aßen in einem Restaurant zu Mittag, in der Nähe des Bahnhofs Montparnasse; Lirat fuhr fort zu sprechen, indem er mich mit seinen Worten und Gesten fast idiotisch machte und zeichnete mit seinem Messer phantastische geographische Linien auf den Tisch.

»Da ist's, verstehen Sie wohl! … Sie werden von hier längs der Küste fahren und …«

Er gab mir, glaube ich, Ratschläge wegen meiner Reise und meines Aufenthaltes dort unten … er nannte die Namen einiger Dörfer und Personen … Ein Wort: das Meer, kehrte unaufhörlich in seiner Rede wieder, begleitet von dem Geräusch von rollendem Kiesgestein, das die Woge mit sich führt.

»Sie werden sich doch erinnern?«

Und ohne genau zu wissen, um was es sich handelte, antwortete ich:

»Ja, ja, ich werde mich erinnern.«

Erst auf dem Bahnhof selbst, diesem ungeheuren Bahnhof, in dem sich eine Menschenmasse drängte, wurde ich mir über meine Situation völlig klar … Und ich empfand einen furchtbaren Schmerz … Ich sollte Paris verlassen! … Es war vorbei für immer! … Nie sollte ich Juliette wiedersehen, niemals … In dem Moment vergaß ich meine Leiden, meine Schande, meinen Ruin, Juliettens unverbesserliches Benehmen, alles und gedachte nur der kurzen Augenblicke des Glücks, die ich mit ihr verlebt. Ich lehnte mich gegen die Ungerechtigkeit auf, die mich von meiner Heißgeliebten trennen wollte.

Lirat sagte:

»Und wenn Sie wüßten, wie gut es thut, zwischen geringen Leuten zu leben … ihre dürftige aber würdige Existenz zu studieren, ihre Märtyrerresignation, ihre …«

Ich dachte daran, seine Wachsamkeit zu täuschen, unversehens zu entfliehen … Eine wahnsinnige Hoffnung hielt mich zurück … Ich wiederholte mir: »Célestine wird Juliette davon benachrichtigt haben, daß Lirat gekommen ist, daß er mich mit Gewalt entführt hat … sie errät sofort, daß etwas Furchtbares passiert ist, daß ich auf diesem Bahnhofe bin, daß ich abreisen will … und sie wird herbei eilen« … Ich glaubte ganz ernsthaft daran … so ernsthaft, daß ich durch die großen, offenen Fenster eifrig die Leute betrachtete, die eintraten, die Gruppen vor dem Bahnhofe musterte und die dichtgedrängte Menschenreihe vor dem Schalter mit den Blicken durchsuchte … Und wenn eine elegante Dame erschien, zitterte ich, bereit mich auf sie zu stürzen …

Lirat fuhr fort:

»Und zu denken, daß es Leute giebt, die sie Tiere genannt haben, diese Helden! … Ah! Sie werden sie ja bald zu sehen bekommen, diese prächtigen Tiere, mit ihren schwieligen Händen, ihren Augen, die das Unendliche suchen, ihren Rücken, bei denen man weinen muß! …«

Noch auf dem Perron hegte ich die Hoffnung, daß Juliette kommen würde … Sicherlich würde sie im nächsten Augenblicke da sein, bleich, aufgelöst, mir die Arme flehentlich entgegenstreckend: »Mein Jean! Mein Jean! Ich bin eine schlechte Frau gewesen, vergieb mir! … Sei mir nicht böse, verlaß mich nicht! … Was soll aus mir werden ohne Dich! … Oh, kehre zurück, mein Jean, oder nimm mich mit Dir!« Und Silhouetten flogen an mir vorüber, stürzten sich in die Waggons … phantastische Schatten kletterten die Mauern entlang und schwanden; lange grauweiße Dampfwolken zogen sich unter der Wölbung hin …

»Umarmen Sie mich … Mein lieber Mintié, umarmen Sie mich …«

Lirat schloß mich an seine Brust … Er weinte.

»Schreiben Sie mir, sobald Sie angekommen sind … Leben Sie wohl!«

Er stieß mich in einen Waggon hinein und warf die Thüre zu …

»Leben Sie wohl! …«

Ein Pfeifen, darauf ein dumpfes Rollen … eilig aufeinander folgende Lichter und fliehende Umrisse … darauf nichts als tiefschwarze Nacht … Weshalb ist Juliette nicht gekommen? … Weshalb? … Und jählings sehe ich sie deutlich zwischen den auf dem Teppich umhergeworfenen Röcken, in ihrem Toilettenkabinett mit nackten Schultern vor dem Spiegel stehen, und sich das Gesicht mit einem Puderquästchen pudern … Célestine näht mit ihren weichen und schlaffen Händen eine Krepelisse Rüsche in den Kragen einer Kleidertaille, und ein junger Mann, den ich nicht kenne, sitzt mit gekreuzten Beinen, in halbliegender Stellung auf dem Divan und betrachtet Juliette mit lüsternen Augen … Das Gas brennt, es flammen die Lichter, ein Korb mit Rosen, den man soeben gebracht, mischt seinen diskreten Duft in das starke Parfüm der Toilette. Und Juliette entnimmt dem Korbe eine Rose, bricht den Stiel kurz ab, zupft die Blätter zurecht und steckt die Blume in das Knopfloch des jungen Mannes, indem sie ihm dabei zärtlich zulächelt! … Ein kleiner Hut mit langen Bindebändern prangt hoch oben auf einem Kandelaber …

Und der Zug saust dahin, er schnaubt und ächzt … Die Nacht ist noch immer tiefschwarz langsam dämmert meine Seele in die Bewußtlosigkeit hinüber.


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