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III.

Tok, Tok, Tok.«

Und im selben Augenblick zeigte sich in der halbgeöffneten Thür ein kleines Barett aus Otterfell, dann, hinter einem Schleier, zwei lachende Augen, und schließlich ein langer Pelzmantel, der sich um einen zarten Frauenkörper schmiegte.

»Ich störe doch nicht? … Darf man eintreten?«

Der Maler Lirat erhob den Kopf.

»Ach, Sie sind's, gnädige Frau,« sagte er in einem kurzen, fast gereizten Ton, indem er seine von Pastellfarben beschmutzten Hände schüttelte … »gewiß, bitte, treten Sie nur ein!«

Er verließ seine Staffelei und bot der Dame einen Stuhl.

»Und wie geht es Charles?« fragte er.

»Sehr gut, danke schön.«

Sie nahm, immer noch lächelnd, Platz, und ihr Lächeln war wirklich entzückend, so sanft und traurig. Obgleich der Gazeschleier ihre Augen bedeckte, schienen sie mir groß, klar, von einem rosigen Blau, und leuchtend wie sie waren, von einer unendlichen Milde zu sein … Sie war mit großer, aber keineswegs gesuchter Eleganz gekleidet. Vielleicht ein bischen zu stark parfümiert … Es folgte ein kurzes Schweigen.

Das Atelier des Malers Lirat, das in einem ruhigen Häuserkomplex, la cité Rodrigues, in der faubourg Saint-Honoré lag, bestand aus einem großen, kahlen, unmöblierten Raum mit grauen Mauern und sichtbarem Gebälk. Lirat nannte es vertraulich »seinen Schuppen.« Es war auch wirklich ein Schuppen, durch den der Nordwind pfiff, und in den der Regen durch kleine Ritzen im Dache hineinströmte. Zwei lange Tische aus weißem Holz trugen Kasten mit Pastellfarben, Zeichenhefte, Blok's, Gipsabgüsse, Fächergriffe, japanische Albums und eine Menge von kleinen unnützen und bizarren Gegenständen. Neben einem Bücherschrank, der mit alten Zeitungen bedeckt war, standen in einer Ecke unzählige Kartons, Ölbilder und Studien in Blendrahmen. Ein sehr zerfetztes Schlafsopha, das sonderbare, disharmonische Laute von sich gab, sobald man sich darauf niederlassen wollte, zwei krummbeinige Lehnstühle und ein Spiegel ohne Rahmen, machten den ganzen Luxus des Ateliers aus, das von einem scharfen Tageslicht erhellt wurde. Wenn Lirat im Winter Modell hatte, zündete er seinen kleinen gußeisernen Ofen an, dessen rostige Röhre, von eisernen Drähten zusammengehalten, in scharfen Winkeln gebrochen, mitten im Atelier in einer Zickzacklinie an der Wand hinaufkroch, ehe sie sich durch ein viel zu großes Loch oben im Dache verlor. An den übrigen Tagen, und wäre die Kälte auch noch so groß gewesen, ersetzte er das Feuer durch einen alten, von Haaren entblößten, schäbigen Astrakanpelz, den er jedesmal mit sichtlicher Wichtigkeit anzog. Lirat war eitel – in kindlicher Weise eitel – auf sein dürftiges Atelier, und er schmückte sich mit dessen Kahlheit, wie die anderen Maler es mit ihren gestickten Plüschen und unvermeidlichen historischen Wanddecken thun. Ja, er hätte es sich noch ärmlicher gewünscht; er nahm es seinem Fußboden fast übel, daß er nicht aus gebranntem Lehm war. »Durch mein Atelier erkenne ich meine wahren Freunde,« sagte er oft. »Sie kommen wieder, die anderen kommen nicht wieder. Das ist sehr bequem.« Es kamen ihrer nur wenige wieder.

Die junge Dame saß anmutig da auf ihrem Stuhl, den Oberkörper ein wenig vornüber geneigt, die Hände im Muff; von Zeit zu Zeit zog sie daraus ein gesticktes Taschentuch hervor, das sie mit langsamer Bewegung an den Mund hinaufführte, den ich wegen der dichten Schleierkante, die ihn ganz bedeckte, nicht sehen konnte, den ich mir aber sehr schön, sehr rot und wundervoll geschwungen dachte. Von ihrer ganzen Gestalt, über der, trotz des Lächelns, das sie so verführerisch machte, ein gewisses sittsames, ja fast stolzes Wesen lag, unterschied ich nur die herrlichen Augen deutlich, die sich wie strahlende Sterne auf ihren Gegenstand richteten, und ich folgte entzückt diesem Blick, der sich vom Fußboden zur Balkendecke emporhob und voller Klarheit und Zärtlichkeit war. Das Schweigen wurde drückend. Ich dachte, ich allein wäre die Ursache dieses Zwanges und wollte mich eben verabschieden, als Lirat rief:

»Ach, bitte um Verzeihung! … Ich hatte ganz vergessen … Gnädige Frau, erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Freund, Herrn Jean Mintié vorstelle.«

Sie begrüßte mich mit einer anmutigen und einschmeichelnden Bewegung des Kopfes und sagte mit sanfter Stimme, die eine süße Erregung in mir hervorrief:

»Sehr angenehm, mein Herr! … aber Sie sind mir durchaus nicht unbekannt.«

Während ich mit rotem Kopfe einige verworrene und dumme Worte hervorstammelte, fuhr Lirat dazwischen:

»Aha! Sie wollen ihm doch nicht etwa weis machen, Sie hätten sein Buch gelesen?«

»Verzeihen Sie, Herr Lirat … Ich habe es gelesen … Es ist sehr schön.«

»Ja, wie mein Atelier und meine Malerei, nicht wahr?«

»Ums Himmels willen, Nein

Sie sagte das offen heraus, mit einem Lachen, das wie ein Vogelgezwitscher durch den weiten Raum drang.

Dies Lachen mißfiel mir. Obgleich es kräftig und kühn war, klang es falsch. Ich fand es nicht in Übereinstimmung mit dem sanft-traurigen Ausdruck ihres Gesichts, und dann verwundete es mich, weil ich es als eine Beleidigung gegen das Genie Lirats empfand. Ich weiß nicht weshalb, aber es wäre mir außerordentlich lieb gewesen, wenn sie sich für den großen, verkannten Künstler hätte begeistern können, wenn sie in dem Augenblick ein vornehmes Urteil und Gefühle, die denen der anderen Frauen überlegen waren, gezeigt hätte. Aber die verächtlichen Manieren des Malers, sein bitterer, feindlicher Ton, ärgerten mich ebenfalls; ich war böse auf ihn wegen dieser absichtlichen Unhöflichkeit, dieser gewollten, straßenjungenhaften Grobheit, die ihn, so schien es mir, in meinen Augen herabsetzen mußte. Ich war unzufrieden und sehr verlegen und suchte das Gespräch auf gleichgiltige Dinge zu bringen. Es wollte mir aber kein einziges passendes Thema einfallen.

Die junge Frau war aufgestanden. Sie machte einige Schritte im Atelier und stand vor den Studien still, die aufgehäuft über einander auf dem Boden lagen. Mit einer Miene des Abscheus betrachtete sie einige davon.

»Mein Gott, Herr Lirat,« sagte sie, »weshalb wollen Sie durchaus solche häßliche und wunderlich gewachsene Weiber malen?«

»Wenn ich es Ihnen sagte, gnädige Frau,« antwortete Lirat, »würden Sie es doch nicht verstehen.«

»Sehr verbunden! … Und wann wollen Sie mein Porträt malen?«

»Darum müssen Sie Herrn Jacquet bitten, oder … einen Photographen.«

»Herr Lirat!«

»Gnädige Frau!«

»Wissen Sie, weshalb ich gekommen bin?«

»Um mir Schmeicheleien zu sagen, vermute ich.«

»Zuerst, ja! … Und dann?«

»Dann – spielen wir unschuldige kleine Spiele miteinander. Das kann sehr spannend werden.«

»Um Sie zu bitten am Freitag bei uns zu Mittag zu essen. Wollen Sie?«

»Sie sind sehr liebenswürdig, gnädige Frau. Aber am Freitag gerade ist es mir ganz unmöglich … Es ist mein Akademietag.«

»Sie sind schlagfertig, Herr Lirat, das muß man Ihnen lassen! … Es wird Charles sehr leid thun …«

»Sie werden die Güte haben, ihm meine Entschuldigung zu übermitteln, gnädige Frau?«

»Dann leben Sie wohl, Herr Lirat! … Man friert hier bei Ihnen.«

Als sie an mir vorüberkam, reichte sie mir die Hand.

»Herr Mintié, ich bin jeden Tag von fünf bis sieben zu Hause … Es wird mir eine große Freude sein, Sie wiederzusehen … eine große Freude …«

Ich verbeugte mich dankend, und sie schied, in meinen Ohren etwas von der Musik ihrer Stimme zurücklassend, in meinen Augen etwas von der Sanftheit ihres Blicks, und im Atelier den starken Parfüm ihrer Haare, ihres Mantels, ihres Muffs und ihres Taschentuchs.

Lirat hatte sich wieder zu seiner Arbeit gesetzt, ohne ein Wort zu sprechen; ich blätterte in einem Buch, das ich nicht las und auf dessen aufgeschlagenen Blättern das Bild der jungen Besucherin unaufhörlich kam und ging. Ich fragte mich durchaus nicht, welchen Eindruck sie auf mich gemacht hatte, oder ob sie überhaupt Eindruck auf mich gemacht hatte; aber, trotzdem sie fortgegangen war, schien sie mir doch nicht ganz entschwunden zu sein. Von dieser kurzen Erscheinung war mir ein unbestimmtes Etwas geblieben, wie ein Nebel etwa, der ihre Gestalt angenommen, und in dem ich die Zeichnung ihres Kopfes, die Neigung ihres Nackens, die Bewegung ihrer Schultern und die Wellenlinien ihres schlanken Körpers wiederfand. Und dieses Etwas verfolgte mich … Auf dem Stuhl, den sie eben verlassen, sah ich sie wieder, in unsicheren Umrissen, noch bezaubernder als vorhin, mit ihrem zärtlichen, leuchtenden Lächeln, das sie umstrahlte und sie mit einem Glorienschein der Liebe zu umgeben schien.

»Wer ist diese Frau eigentlich?« sagte ich plötzlich, in einem Ton, den ich mich bestrebte gleichgiltig zu machen.

»Welche Frau?« fragte Lirat.

»Die welche eben fortging, zum Teufel!«

»Ach die! … Du lieber Himmel, das ist eine Frau wie die anderen auch!«

»Ohne Zweifel … Das sagt mir aber weder wie sie heißt, noch wer sie ist …«

Lirat suchte ein Weilchen zwischen seinen Pastellfarben herum … dann antwortete er nachlässig:

»Es interessiert Sie also, zu wissen, wie eine Frau heißt? … Sonderbare Neugierde! … Sie heißt Juliette Roux … Was die biographischen Notizen betrifft, so wird die Sittenpolizei Ihnen darüber genügend Aufschluß geben können, denke ich … Ich nehme an, daß Fräulein Juliette Roux spät aufsteht, daß sie sich aus den Karten wahrsagen läßt, und daß sie den armen Charles Malterre, einen braven Jungen, den Sie hier zuweilen getroffen haben und dessen Maitresse sie augenblicklich ist, betrügt und zu Grunde richtet … Eine Frau, wie alle die anderen, nur wird in diesem Falle die Sache dadurch verschlimmert, daß sie schöner ist wie manche andere, folglich auch dümmer und schädlicher … Sehen Sie, das Schlafsopha, auf dem Sie da sitzen, das hat Charles so zugerichtet, weil er sich darauf herumgewälzt und ganze Vormittage darauf geweint hat, während er mir von seinem Unglück erzählte, verstehen Sie wohl? Eines Tages hatte er sie mit einem Krupier vom Klub überrascht; ein ander Mal mit einem Schauspieler vom Bouffes … Es spielte dann auch noch eine Geschichte mit einem Cirkus-Athleten aus Neuilly, dem sie zwanzig Franken und die alten Hosen von Charles gab … Lauter Idylle, wie Sie sehen … Ich habe Malterre sehr lieb, weil er gut ist, und seine Dummheit mich betrübt … Er that mir wirklich furchtbar leid, der arme Kerl … Aber was soll man solchen Menschen sagen, denen die Liebe Lebensbedürfnis ist, die keinen Frauenrücken sehen können, ohne ihm Flügel anzuhängen und ihn in den Himmel emporzuheben … Nicht wahr, da ist Nichts zu machen? Um so weniger, als der Unglückliche, trotz seiner Wutausbrüche und seiner Thränen stolz darauf war, daß Juliette eine gute Erziehung genossen hatte … Er rühmte sich dessen, indem er vor Kummer seine Hände rang, daß sie nicht aus dem Schenkel eines Pförtners, sondern aus demjenigen eines Arztes hervorgegangen sei … Und er zeigte mir Briefe von ihr, in denen er mir gegenüber die Richtigkeit der Orthographie und die eleganten Wendungen der Sprache betonte … Es war, als ob er gesagt hatte:

»Wie ich leide, aber wie gut es doch geschrieben ist.« Welch ein Jammer!«

»Aha! Sie lieben die Frauen, Sie lieben sie!« rief ich, als er seine Tirade beendigt hatte. Und unvorsichtig fügte ich hinzu:

»Es kommt mir vor, als ob Sie viel durch sie gelitten hätten!«

Lirat zuckte die Achseln und lächelte:

»Sie sprechen wie Herr Delaunay vom Theatre-Français … Nein, lieber Freund, ich habe nicht durch sie gelitten. Ich habe die anderen leiden sehen, und das hat mir genügt … Verstehen Sie?«

Plötzlich aber leuchteten seine Augen mit fast wildem Glanze auf, und er sprach mit erhobener Stimme:

»Man setzt Leuten, armen Teufeln wie Charles Malterre, den Fuß auf die Brust, und sie gehen unter in Blut, in Schmutz, in diesem grauenvollen Schmutz, der von Frauenhänden geknetet ist. Es ist ein Unglück allerdings … Aber trotzalledem, die Menschheit machte keine Ansprüche auf sie, sie hat nichts an ihnen verloren … Sie verschwinden, und damit ist alles gesagt … Aber Künstler, Menschen von unserer Rasse, große Herzen und große Geister, verloren, ausgesogen, erwürgt, getötet! … Verstehen Sie? …«

Seine Hand zitterte, und er zerdrückte seinen Stift gegen die Leinwand.

»Ich habe ihrer drei gekannt, die bewunderungswürdig, nein göttlich, begabt waren; zwei davon haben sich erhängt; der dritte, mein Lehrer, ist in Bicêtre, in einer Zelle! … Von diesem klaren Genie ist nur ein Klumpen blassen Fleisches übrig, eine Art von halluziniertem Tier, das Fratzen schneidet und mit schaumbedecktem Munde brüllt! … Und unter der großen Heerde der Erfolglosen, wie viele junge Hoffnungen erlagen nicht unter den Klauen des Raubtieres! Seht Euch doch nur um unter diesen Bedauernswerten, Verirrten und Verkümmerten, die Flügel besaßen und sich jetzt auf ihren elenden Stümpfen vorwärts schleppen, die in der Erde herumwühlen und ihren eigenen Kot fressen! Sie selbst haben noch vor kurzem … die Juliette Roux mit förmlicher Ekstase angesehen … Für einen Kuß von ihr wären Sie zu allem bereit … Sagen Sie nicht nein, ich habe Sie beobachtet … Ach ja, so ist es, aber lassen Sie uns lieber ausgehen. Es ist vorbei, ich kann nicht mehr arbeiten.«

Er stand auf und ging, heftig bewegt, im Atelier auf und nieder. Gestikulierend und aufgeregt stieß er die Stühle hin und her, warf die Kartons über einander und versetzte den Studien Fußtritte; ich dachte, er würde verrückt werden. Seine Augen waren mit Blut unterlaufen und irrten wild umher; er war leichenblaß und die Worte kamen stoßweise, zischend aus seinem Munde hervor, das ganze Gesicht war verzogen.

»Daß Männer von einem Weibe geboren werden! … welche Verrücktheit! Daß Männer in diesem unreinen Leibe zur Welt kommen müssen! … Daß Männer mit den Lastern der Frau, ihrer thörichten Nervosität, ihrer unersättlichen Begierde aufgepäppelt werden, den Lebenssaft an ihren verbrecherischen Brüsten einsaugen! … Die Mutter! … Ach ja, die Mutter! … Die vergöttlichte Mutter, nicht wahr? … Die Mutter, die uns zu diesem Geschlecht von Kranken und Erschöpften gemacht, das wir sind, die den Mann im Knaben erwürgt und uns ohne Nägel und Zähne, vertiert und zahm, auf das Kanapee der Maitresse oder das Bett der Gattin wirft …«

Lirat hielt einen Augenblick inne; er erstickte fast. Darauf faltete er seine Hände und schrie, indem er mit krampfhaftem Griff seine Finger wie ein Wahnsinniger im leeren Raume zusammenpreßte, als ob er sie erdrosselnd um einen Hals legte.

»Sehet, so sollte man es mit ihnen machen, mit ihnen allen, allen! … Verstehen Sie? … Heh! … was sagen Sie! … mit ihnen allen!«

Und laut fluchend, mit den Füßen auf den Boden stampfend, fing er von neuem an im Atelier hin und her zu rennen. Doch hatte der letzte Zornesausbruch ihm sichtbar Erleichterung verschafft.

»Aber, mein lieber Lirat,« sagte ich zu ihm, »beruhigen Sie sich doch … es ist dumm, sich so aufzuregen, und worüber denn in aller Welt? … ich bitte Sie? … Sie sind doch keine Frau …«

»Sie haben recht. Aber Sie haben mich mit Ihrer Juliette gereizt … Was ging Sie das Weibsbild überhaupt an …?«

»War es denn nicht natürlich, daß ich den Namen einer Frau zu wissen wünschte, der Sie mich vorgestellt haben … Und offen gestanden, so lange man kein anderes Werkzeug erfunden hat, als die Frau, zum Fabrizieren der Kinder …«

»Solange bin ich ein Esel,« unterbrach mich Lirat, der sich, etwas beschämt, an seine Staffelei setzte und mich dann mit völlig ruhiger Stimme fragte:

»Mein kleiner Mintié, wollen Sie mir einen Augenblick zu meinem Burschen hier stehen? … Es wird Sie hoffentlich nicht zu sehr langweilen? … Nur zehn Minuten.«

Joseph Lirat war zweiundvierzig Jahre alt. Ich hatte ihn eines Abends zufällig kennen gelernt, ich weiß nicht mehr wo; und obgleich er im allgemeinen nicht mitteilsam war, obgleich er in dem Rufe stand, menschenscheu, ungesellig und grob zu sein, gewann er mich augenblicklich lieb. Ist es nicht sonderbar, wenn man bedenkt, daß unsere besten Freundschaften, die das Resultat einer vorsichtigen, lange überlegten Wahl sein müßten, daß die folgenschwersten, wichtigsten Begebenheiten unseres Lebens, die durch logische Verkettung der Ursachen herbeigeführt sein müßten, meistens das augenblickliche Produkt eines Zufalls sind? Wir sitzen zum Beispiel eines Tages ruhig zu Hause mit einem Buche in der Hand: es regnet, der Wind stürmt, die Straße ist melancholisch und schmutzig; folglich haben wir alle mögliche Ursache in unserem Lehnstuhl daheim zu bleiben … Trotzdem aber gehen wir aus, getrieben von Langeweile, von Mangel an Beschäftigung, wovon, – wir wissen es selber nicht … Und siehe, wir haben kaum hundert Schritte gethan, da ist uns auch schon der Mann, die Frau, der Fiaker, der Stein, die Apfelsinenschale, die Wasserpfütze, eben das begegnet, was unsere Existenz von oben bis unten umkehren wird. In den schmerzlichsten Augenblicken meines Märtyrertums habe ich oft an diese Sachen gedacht und wie oft habe ich mir mit bitterem Bedauern gesagt: »Wenn ich an dem Abend, als ich Lirat begegnete, an jenem entlegenen Orte, wo ich sicher nichts zu thun hatte, zu Hause geblieben wäre und gearbeitet, geträumt und geschlafen hätte – ich wäre jetzt vielleicht der glücklichste Mensch auf Erden, und nichts von dem, was mir geschehen ist, wäre geschehen.« Und jene Minute banalen Zauderns, jene Minute, in der ich mich wahrscheinlich ganz gleichgiltig gefragt habe: »Na, gehe ich aus, oder gehe ich nicht,« enthielt die schwerwiegendste, bedeutsamste Handlung meines Lebens; mein ganzes Schicksal ist in jener kurzen Minute abgemacht, die in meiner Erinnerung keine tieferen Spuren hinterlassen hat, als am Himmel der Windstoß hinterläßt, der das Haus umstürzt und die Eiche entwurzelt! Ich erinnere mich sonst der unbedeutendsten Einzelheiten meines Daseins … So zum Beispiel entsinne ich mich ganz genau des blauen Sammetanzugs, den ich als kleiner Junge, Sonntags trug; ich könnte – ja, ich versichere Euch, ich könnte es! – die Fettflecken am Predigerrock des Pfarrers Blanchetière zählen, oder die Tabakskörner, die er, wenn er seine Prise schnupfte, fallen ließ. Und es ist Thatsache, so verrückt und unlogisch es auch klingt, daß ich sehr oft, selbst wenn ich weine, selbst wenn ich das Meer oder die über den schlummernden Fluren untergehende Sonne betrachte, wie durch einen häßlichen Rückschlag jener Ironie, welche im tiefsten Grunde aller unserer Ideale, unserer Träume und Leiden enthalten ist, auf der Nase eines alten Wächters daheim, des Vaters Léjars, eine große, komische Warze wiederzusehen glaube, mitsamt ihren vier Haaren, die den Fliegen als Ruhepunkt dienten … Jene Minute aber, die über mein Leben entschieden hat, die mich meine Ruhe, meine Ehre gekostet und mich zu einem räudigen Hund gemacht hat – die bemühe ich mich vergebens wieder hervorzurufen, wieder herauf zu beschwören, ich kann sie nicht wiederfinden! Es ist also im Verlaufe meines Daseins ein ungeheures Ereignis geschehen, nein, überhaupt nur ein einziges, da sich alle anderen aus ihm herleiten lassen, und das gerade ist mir völlig aus dem Gedächtnis entschwunden! … Ich weiß den Moment, den Ort nicht mehr, nicht die Umstände und nicht den bestimmenden Grund … Was weiß ich denn überhaupt von mir? … Was können die Menschen in ihrer Ohnmacht, auch wenn sie bis zu den Quellen ihrer Handlungen zurückkehren, von sich selber wissen? Nichts, nichts, nichts! Und muß man denn wirklich die Rätsel dieser Erscheinungen und der sogenannten Willensäußerungen, durch das Walten einer blinden geheimnisvollen Kraft erklären, der Fatalität, durch die das menschliche Schicksal bestimmt wird? … Aber das gehört nicht hierher.

Ich habe bereits erzählt, daß ich Lirat eines Abends ganz zufällig traf, ich weiß nicht mehr wo, und daß er mich sofort lieb gewann … Er war ein vollkommenes Original. Durch seine strenge Haltung, die etwas pedantisch Steifes, etwas Schulmeisterliches an sich hatte, und durch sein ganzes Benehmen, das von einem gewissen offiziellen Ton beherrscht war, machte er beim ersten Begegnen den Eindruck des ausgesprochenen Beamtentypus, einer orléanistischen Gliederpuppe, so wie sie in Coterien für die Hanswürste der Parlamente und der Akademien hergerichtet werden. Oberflächlich betrachtet, hatte er ganz das Aussehen eines Menschen, der Orden, Tabaksläden und Tugendpreise austeilt. Dieser erste Eindruck verschwand aber schnell. Dazu brauchte man nur fünf Minuten seiner klaren und farbenreichen Rede, in der es von seltenen, seinen Gedanken wimmelte, zugehört, vor allem aber den Einfluß seines Blickes empfunden zu haben, eines außerordentlichen Blickes, trunken und kalt zugleich, der alles wußte, alles in sich aufgenommen hatte und tief wie ein Bohrer in den Menschen drang, auf den er sich richtete.

Ich hatte ihn auch sehr lieb. Es mischte sich aber in meine Freundschaft für ihn keinerlei Zärtlichkeit; ich liebte ihn mit Furcht, mit Zwang, mit dem peinlichen Gefühl, daß ich neben ihm ganz klein wurde, sozusagen zermalmt von der Größe seines Genies … Ich liebte ihn, wie man das Meer, den Sturm, wie man eine gewaltige Naturkraft liebt. Lirat schüchterte mich ein; seine Nähe lähmte meine wenigen intellektuellen Hilfsmittel, so sehr fürchtete ich irgend eine Dummheit zu sagen, über die er sich hätte lustig machen können. Er war so hart, so schonungslos gegen alle; er verstand so gut bei Künstlern, bei Schriftstellern, die ich als mir unendlich überlegen anerkannte, das Lächerliche zu entdecken und es in wenigen, unvergeßlichen und unbarmherzig treffenden Zügen zu fixieren, daß ich mich ihm gegenüber in einem immerwährenden Zustande von Mißtrauen und Unruhe befand. Ich fragte mich beständig: »Was denkt er von mir? Zu welchen Sarkasmen biete ich ihm jetzt Gelegenheit?« Ich empfand eine weibliche Neugierde, die mich zuweilen geradezu peinigte, seine Meinung über mich zu wissen; ich versuchte durch entfernte Andeutungen, durch lächerliche Koketterien, auf allerlei heuchlerischen Umwegen, sie herauszulocken und ich litt, wenn Lirat schwieg, litt noch mehr, wenn er mir ein kurzes Kompliment hinwarf, wie man dem Bettler, dessen man sich zu entledigen wünscht, zwei Sous hinwirft. Oder wenigstens bildete ich mir dieses ein. Mit einem Worte: ich liebte ihn sehr, ich war ihm aufrichtig und treu ergeben, aber in dieser Liebe und in dieser Hingebung lag eine Unsicherheit, die ihren Zauber brach. Es lag aber auch ein gewisser Groll darin, der sie mir beinahe schmerzlich machte: der Groll über meine eigene Inferiorität. Niemals habe ich, selbst in den besten Zeiten unserer Freundschaft, dies Gefühl von niedrigem und furchtsamem Dünkel überwinden können, niemals habe ich in Frieden ein Verhältnis genießen können, dessen hohen Wert ich doch schätzte. Indessen war Lirat immer einfach und freundlich gegen mich, oft liebevoll, zuweilen väterlich, und von seinen wenigen Freunden war ich der einzige, dessen Gesellschaft er aufsuchte.

Wie alle Verächter des Hergebrachten, wie alle, die sich wider die Vorurteile einer konventionellen Erziehung, wider die verdummenden Formeln der Schule auflehnen, wurde Lirat sehr verschieden beurteilt – ja sogar sehr verurteilt. Allerdings muß man zugestehen, daß seine Auffassung der Kunst, die eine sehr freie und stolze war, jede öffentlich gelehrte Konvention, jede überlieferte Idee vor den Kopf stieß. Ebenfalls war seine Ausführung, durch ihre kraftvolle Synthese, durch das ungeheure Wissen, welches über jede Spur von Handwerk erhaben war, sehr dazu geeignet, die Liebhaber des Niedlichen – denen die Anmut über alles geht – und der eiskalten Korrektheit des akademischen Ensembles zu verwirren und außer sich zu bringen. Was man ihm nicht verzieh, war eben die Rückkehr der modernen Malerei zur großen, gotischen Kunst. Er hatte aus dem Menschen unserer Zeit, mit seiner überstürzten Genußsucht, einen in furchtbarer Weise Verdammten gemacht, dessen Körper von Nervenkrankheiten untergraben ist, dessen Fleisch von Begierden gemartert wird, der unaufhörlich unter der Leidenschaft keucht, die ihn erdrückt und ihm die Klauen in die Brust schlägt. In seinen Anatomien, mit den wunderlichen Stellungen, in denen die rächende Natur sich offenbarte, mit den ungeheuerlichen Auswüchsen, die man unter den Kleidern erriet, lag ein solcher Ausdruck menschlichen Jammers, ein solches Klagelied höllischer Wollust, ein so tragisches Hingerissensein, daß man bei ihrem Anblick vor Entsetzen schauderte. Das war nicht mehr die frisierte, pomadisierte, bändergeschmückte Liebe, die in den schönen Mondscheinnächten, eine Rose im Munde, mit schwärmerischen Geberden die Guitarre unter dem Balkone klimpert – nein, es war die mit Blut besudelte, die von Wollust trunkene Liebe, die Liebe der onanistischen Raserei, die fluchbeladene Liebe, die ihren Mund in Gestalt eines Schröpfkopfes auf das Gesicht des Mannes setzt, ihm die Adern auspumpt, das Mark aussaugt und ihm das Fleisch von den Knochen zehrt. Um seinen Figuren eine noch größere Intensität des Furchtbaren zu geben, um ihnen einen noch unerbittlicheren Fluch aufzuladen, stellte er sie in friedliche, lächelnde Umgebungen hinein, von hoheitsvoller Klarheit, in rosigblaue Landschaften mit wehmütigen Fernen, strahlenden Sonnenuntergängen, leuchtenden Meerestiefen. Rings um sie her glänzte die Natur im Zauber all ihrer zarten, wechselvollen Farben … Als er sich das erste Mal entschloß, mit einer Gruppe von Freunden in einer freien Ausstellung zu erscheinen, stieß die Kritik und die Menge, die sich nach der Kritik richtet, einen Schrei der Entrüstung aus. Aber der Zorn war nur von kurzer Dauer – denn im Zorn liegt immer ein gewisser Adel, ein gewisser Edelmut – und man begnügte sich bald mit dem Lachen. An die Stelle der drohenden Fäuste trat die »Blague«, welche immer das Urteil der Mittelmässigkeit enthält, mit dem Auswurf ihres unsaubersten Speichels. Und nun wollte man sich bei den großartigen Bildern Lirats vor Lachen ausschütten, man hielt sich mit beiden Händen die Seiten. Geistreiche und witzige Leute legten Sousstücke auf die Randleisten der Rahmen, wie man es wohl einem Krüppel gegenüber zu thun pflegt, und diesen Sport – denn es war für Menschen aus der besten Gesellschaft, vom besten Geschmack, ein Sport geworden – fand man sehr lustig. In den Zeitungen, in den Ateliers, in den Salons, in den Klubs und Cafés diente Lirats Name als Maßstab der Vergleichung, als Richtschnur, sobald es galt eine verrückte oder eine schmutzige Handlung zu bezeichnen; es schien als könnten selbst die Frauen, ja selbst die Dirnen, diesen ruchlosen Namen nicht aussprechen, ohne zu erröten. Die Theaterrevuen zogen ihn am Schluß des Jahres durch den Kot ihrer Couplets; in den Café-chantants machte man Spottlieder auf ihn. Dann stieg er von diesen »Centren der pariser Intelligenz« in die Straßen hinab, wo man ihn, als Blume des Pöbels, auf den unsauberen Lippen der Kutscher und den verzogenen der Straßenjungen wieder aufblühen sah: »Heh! Hören Sie mal, Lirat!« Der arme Lirat erfreute sich während einiger Jahre einer wahrhaft skandalösen Popularität … Man wird alles müde, auch das Schimpfen. Paris giebt die phantastischen Bühnengestalten, die es zu den höchsten Ehren hebt, ebenso schnell wieder auf, wie die Märtyrer, die es aufs bitterste verhöhnt. In der launischen Begierde nach neuem Spielzeuge kümmert man sich nicht lange mehr um den Glanz seiner Helden, und ebensowenig um das Blut seiner Opfer. Bald wurde es stille um Lirats Namen. Nur dann und wann spürte man in einigen Zeitungen ein Echo des Vorhergegangenen, in der Gestalt irgend einer häßlichen Anekdote. Übrigens hatte er selber den Entschluß gefaßt, nicht mehr auszustellen. Er pflegte zu sagen:

»Ach, laßt mich in Frieden … Ist denn die Malerei dazu da, daß sie angegafft werden soll? Was? … Die Malerei? … Na, sagt selber mal? … Man arbeitet für sich, für zwei bis drei lebende Freunde, und für andere, die tot sind, die man nicht einmal gekannt hat, denen man sich aber geistesverwandt fühlt … Poë, Baudelaire, Dostojewsky, Shakespeare … Shakespeare! … versteht Ihr? … Der Rest! … Der Rest? … Na, der gehört dem Bouguereau.«

Er hatte seine Bedürfnisse auf das Notwendigste beschränken müssen und lebte mit einer bewunderungswerten und rührenden Würde, von sehr wenigem. Wenn er nur so viel verdiente, daß er sich Pinsel, Farben und Leinewand kaufen, seine Modelle und seinen Hauswirt bezahlen und jedes Jahr eine Studienreise machen konnte, verlangte er nicht mehr. Das Geld als solches lockte ihn nicht, und ich bin überzeugt, daß er nie den Erfolg gesucht hat; wäre aber der Erfolg zu ihm gekommen, so bin ich ebenso überzeugt davon, daß Lirat der so menschlichen Versuchung nicht widerstanden hätte, seinen schädlichen Genüssen sich ganz hinzugeben. Obgleich er es nicht eingestehen wollte, obgleich er der Ungerechtigkeit zu trotzen vorgab, empfand er sie tiefer als mancher andere, ja, litt er in grausamer Weise darunter. Wie er vordem unter der Beschimpfung gelitten hatte, litt er jetzt unter dem Schweigen. Ein einziges Mal geschah es, daß ein junger Kritiker in einer vielgelesenen Zeitung einen hochtrabenden, begeisterten Artikel über ihn veröffentlichte. Der Artikel war voller guten Absichten, voller Banalitäten und Irrtümer; man sah, daß sein Verfasser in Sachen der Kunst nicht sehr bewandert war, und daß er nichts von dem Talent des großen Künstlers verstand.

»Haben Sie gelesen?« … schrie Lirat. »Was sagen Sie dazu – nicht wahr? … Diese Kritiker! Die reinen Idioten! … Sie werden mich noch dazu zwingen, in einer Höhle zu arbeiten … Was! Halten sie mich etwa für einen Popularisierer der Kunst … Was geht sie das überhaupt an, ob ich Bilder male, ob ich Stiefel mache oder Schuhe auf meinem Leisten? Das ist doch völlig Privatsache!«

Gleichwohl hatte er den Artikel sorgfältig in einer Schublade aufgehoben, und ich ertappte ihn mehrere Male darauf, wie er ihn von neuem durchlas. Es war umsonst, daß er, wenn wir über die Dummheit des Publikums loszogen, mit erhabener Überlegenheit antwortete: »Was denn? … Wollt Ihr vielleicht, daß das Volk eine Revolution mache, weil ich hell male? …« seine Verachtung des Ruhmes, seine scheinbare Resignation, verdeckte in Wirklichkeit einen dumpfen Groll. Tief im Grunde dieser überaus zärtlichen, überaus edelmütigen Seele, hatte sich ein gewaltiger Haß angesammelt, der sich mit furchtbarer und boshaft schwungvoller Begeisterung über alle Welt ergoß. Hatte sein Talent dadurch an Kraft, an Wahrheit gewonnen, so hatte sein Charakter im Gegenteil etwas von seiner ursprünglichen Vornehmheit, sein kritischer Geist etwas von seiner Schärfe und Klarheit eingebüßt. Er konnte, was sogenannte »Klatschereien« betraf, geradezu ausschweifend sein und riskierte widerlich zu werden; zuweilen gab er sich solchen kindischen Übertreibungen hin, daß er einen leisen Anflug von Lächerlichkeit bekam. Die großen Geister haben fast alle kleine Schwächen, das ist ein geheimnisvolles Naturgesetz, und Lirat entging diesem Gesetze nicht. Er hielt große Stücke auf seinen wohlgegründeten Ruf als boshaften Menschen. Er vertrug es ganz gut, daß man ihm Talent absprach; aber hätte man ihm die Fähigkeit abgestritten, mit seiner Zungenfertigkeit die ganze Menschheit erzittern zu machen, das hätte er nie ertragen. Um sich an ihm für die heftigen Worte zu rächen, mit denen er sie brandmarkte, legten Lirats Feinde ihm allerlei widernatürliche Laster bei. Einige sagten ganz einfach, er sei Epileptiker, und diese groben und feigen Verleumdungen, die täglich durch erdichtete Kommentare verstärkt, durch »gewisse« Geschichten, die man sich in den Ateliers erzählte, unterhalten wurden, fanden einen dankbaren und gut vorbereiteten Boden, ebensowohl wegen ihrer eigenen Böswilligkeit, als auch deshalb, weil Lirat durch die inkonsequente Art und Weise seiner Rede, sie selber aufnahm und verbreitete.

»Haben Sie's gehört? … Lirat hat gestern wieder mal einen Anfall gehabt, dieses Mal auf der Straße.«

Und man zitierte die Namen von glaubwürdigen Personen, von Mitgliedern des Instituts, die dem Auftritt beigewohnt und ihn gesehen hätten, wie er bellend, mit schaumbedecktem Munde, sich im Schmutze der Straße herumwälzte.

Was mich betrifft, so muß ich gestehen, daß mich diese Erzählungen zu Anfang, als meine Beziehungen zu ihm noch neu waren, nicht wenig beunruhigten. Ich konnte Lirat nicht ansehen, ohne mir sofort die entsetzlichen Krisen vorzustellen, unter denen er, wie man erzählte, zu leiden hatte. Als Opfer einer Einbildung, die ja leicht entsteht, wenn man von einer fixen Idee besessen ist, meinte ich öfters Spuren der furchtbaren Krankheit an ihm zu entdecken. Es schien mir, als würde er plötzlich leichenblaß, als zuckten seine Lippen und zöge sich sein Körper unter den schrecklichen Krämpfen zusammen; als ob seine blutunterlaufenen, angstvollen Augen das Licht flöhen, als ob sie, gleich wie die Augen der verfolgten, sterbenden Tiere, den Schatten der tiefen Höhlen aufsuchten. Und ich bedauerte es, ihn in seinem Atelier nicht hinschlagen, heulen und sich winden zu sehen, in diesem Atelier, das doch von seinem Genie erfüllt war, unter meinen wißbegierigen Augen, die ihn belauerten, die darauf hofften! … Armer Lirat! … Und dennoch liebte ich ihn! …

Der Tag ging zu Ende … Ringsum in der cité Rodrigues hörte man das Schlagen der Thüren und Schritte, die sich eilig auf der Straße entfernten; in den Werkstätten erhoben sich überall Stimmen, die Vollendung des Tagewerks verkündend. Seitdem sich Lirat wieder an seine Arbeit gemacht hatte, war er schweigsam geworden und richtete nur das Wort an mich, um etwas an meiner Stellung zu verbessern, die ich ihm nicht ruhig genug einhielt.

»Das Bein etwas mehr nach rechts … noch mehr, bitte! … Die Brust besser heraus! … Pardon! aber Sie stehen wie ein Esel, mein lieber Mintié!«

Er arbeitete fast fieberhaft, atemlos; kaute unaufhörlich an seinem Schnurrbart und stieß dann und wann einen Fluch aus. Sein Farbenstift fuhr über die Leinwand mit einer gewissen unruhigen Hast und zornigen Nervosität.

»Zum Teufel!« schrie er, indem er seine Staffelei mit einem Fußtritt von sich stieß … »Was habe ich heute mal wieder für Deckzeug zustande gebracht … Es sieht ja rein aus, als wollte ich für die Ehrenmedaille konkurieren! …«

Indem er seinen Stuhl zurückschob, betrachtete er seine Zeichnung mit gereizter, unzufriedener Miene und brummte:

»Wenn Frauen hier gewesen sind, ist es allemal dieselbe Geschichte … Ich glaube wahrhaftig, daß die Frauen einem im Fortgehen die Seele von Boulanger, eingewickelt in ein schönes Sammetpfötchen von Henner, hinterlassen … von Henner, verstehen Sie? … Gehen wir!«

Als wir draußen waren, sagte ich:

»Lirat, speisen Sie doch heute mit mir zu Mittag?«

»Nein,« antwortete er im trockenen Ton, indem er mir die Hand reichte.

Und er entfernte sich, steif, gemessen und feierlich, mit der würdevollen Haltung eines Deputierten, der soeben das Budget diskutiert hat.

An dem Abend ging ich nicht mehr aus, sondern blieb zu Hause allein, um zu träumen. Ich liebte es, ausgestreckt auf einem Diwan zu liegen und mit halboffenen Augen und von der Hitze erschlafftem Körper, beinahe schlafend, in die Vergangenheit zurückzukehren, die toten Sachen wieder ins Leben, die entschwundenen Erinnerungen wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Fünf Jahre waren seit dem Kriege verflossen, diesem Kriege, in dem ich zum erstenmal, durch das trostlose Handwerk eines Menschentöters, in das Leben eingeweiht wurde … Fünf Jahre schon! … Und doch sehe ich alles wieder, als wäre es gestern, den Pulverdampf, die mit gerötetem Schnee und Ruinen bedeckten Fluren, wo wir als Schatten von Soldaten, mit zerschlagenen Gliedern, jämmerlich zugerichtet, umherirrten … Nur fünf Jahre! … Und als ich in die Priorei zurückgekehrt war, war mein Vater tot! …

Er bekam meine Briefe nur selten, in langen Zwischenräumen, und jedesmal waren es nur kurze, trockene Briefe, die eilig, auf einer Ecke des Tornisters, niedergekritzelt waren. Ein einziges Mal war ich, nach einer furchtbaren, angstvoll zugebrachten Nacht, weich und zärtlich gewesen; ein einziges Mal hatte ich ihm mein ganzes Herz ausgeschüttet, und diesen Brief, der ihm Trost gebracht hätte und Beruhigung – den hatte er nicht erhalten! … Jeden Morgen war er, so erzählte mir Marie, eine Stunde vor Ankunft des Briefboten, an das eiserne Gitterthor gegangen; dort hatte er wartend, um die Biegung des Weges herumspähend, in tötlicher Angst gestanden. Alte Holzhauer gingen auf ihrem Wege nach dem Walde an ihm vorüber. Mein Vater rief sie an:

»Heh, Vater Ribot, sind Sie nicht zufälligerweise dem Briefboten begegnet?«

»Ne, den hebbe ik nich seien, Herr Mintié. Et is abers jo noch fräuh am Dage.«

»Nein, nein, Vater Ribot … Er muß sich verspätet haben …«

»Dat kann wohl möglich sein, Herr Mintié, wohl möglich sein.«

Wenn er dann die Mütze und den roten Kragen des Briefboten erblickte, wurde er blaß vor Aufregung und Angst, daß er eine schlimme Nachricht brächte. Und in dem Augenblick, wo er sie empfangen sollte, pochte ihm das Herz in der Brust, als müsse es zerspringen.

»Es sind heute nur Zeitungen, Herr Mintié.«

»Was! … Wieder keine Briefe? … Du irrst dich gewiß, mein Junge … Suche mal nach … Suche genau nach …«

Er zwang den Briefboten seine Tasche zu durchwühlen, die Pakete aufzubinden und sie durchzusehen …

Nichts! … das ist ja aber ganz unbegreiflich!«

»Dann ging er in die Küche zurück, wo er sich mit einem tiefen Seufzer in seinen Lehnstuhl warf.

»Denke mal,« sagte er zu Marie, die ihm eine Schale mit Milch brachte, »denke mal, wenn seine Mutter das erlebt hätte!«

Wenn er tagsüber die Leute im Orte besuchte, deren Söhne den Krieg mit machten, so verlief das Gespräch stets in derselben Weise.

»Na, haben Sie Nachrichten von Ihrem Jungen?«

»Nein, Herr Mintié … Und Sie, haben Sie welche vom Herrn Jean?«

»Nein, ich habe auch keine.«

»Das ist aber doch sonderbar … Wie geht das zu, sagen Sie mal? … Können Sie es begreifen? …«

Daß sie selber keine Nachrichten bekommen hatten, verwunderte sie nur halb: daß aber Herr Mintié, ihr Bürgermeister, ebenfalls keine bekommen, versetzte sie in höchstes Erstaunen. Man stellte die wunderbarsten Vermutungen an, man begleitete die Berichte der Zeitungen mit erstaunlichen Bemerkungen; man befragte die ehemaligen Soldaten, die nun ihrerseits von ihren Feldzügen zu erzählen anfingen und dabei die übertriebendsten und ungeheuerlichsten Einzelheiten zu Tage förderten, und nach zwei Stunden trennte man sich mit etwas beruhigtem Gemüte.

»Quälen Sie sich nicht, Herr Bürgermeister … Ihr Sohn wird sicher als Oberst zurückkehren.«

»Oberst, Oberst!« sagte mein Vater und schüttelte seinen Kopf … »Das verlange ich nicht … nur daß er überhaupt wiederkehrt! …«

Eines Tages – wie es eigentlich zugegangen, hat man nie erfahren – wurde Saint-Michel von preußischen Soldaten überschwemmt. Die Priorei wurde besetzt, durch unsere alte Wohnung klirrten die großen Schleppsäbel. Von dem Augenblick an wurde mein Vater leidend; er bekam Fieberanfälle und mußte sich ins Bett legen. In seinen Phantasien wiederholte er unaufhörlich: »Spanne an, Felix, spanne an, ich muß nach Alençon, um Nachrichten von Jean zu holen.« Er bildete sich ein unterwegs zu sein: »Vorwärts, Bichette, vorwärts, pst! … Heute abend haben wir Nachrichten von Jean … Vorwärts, vorwärts! …« Und mein armer Vater verschied sanft in den Armen des Pfarrers Blanchetière, umgeben von den beiden Getreuen, der schluchzenden Marie und dem weinenden Felix! …

Nachdem ich sechs Monate in der Priorei, die öder als je war, verbracht hatte, langweilte ich mich zum Sterben … Die alte Marie, die es gewohnt war, das Haus nach ihren Launen zu führen, war mir, trotz ihrer Ergebenheit, unausstehlich geworden. Ihre Albernheiten brachten mich zur Verzweiflung, und alle Augenblicke fanden zwischen uns Streitigkeiten statt, in denen ich nicht immer das letzte Wort behielt. Als einzige Gesellschaft den guten Pfarrer, der kein besseres Gesprächsthema kannte, als das Notariat, und dessen Gefasel mich ärgerte und reizte. Von Morgen bis zum Abend hielt er mir folgende Predigt:

»Dein Großvater war Notar, Dein Vater, Dein Onkel, Deine Vettern und Deine ganze Familie … Du bist es ihr schuldig, diesen Posten nicht zu verlassen, mein liebes Kind … Du wirst Bürgermeister von Saint-Michel werden, Du hast gegründete Hoffnung in einigen Jahren Deinen Vater in den Provinzialständen ersetzen zu dürfen … Donnerwetter! Das ist doch etwas! Und ich kann Dir die Versicherung geben: es werden schlimme Zeiten kommen für die guten Menschen, welche ihren Gott aufrichtig und von Herzen lieben … Du weißt, sie haben diesen Schurken, den Lebecq in den Magistrat gewählt … Er träumt nur davon zu plündern und zu morden, der Spitzbube! … Wir brauchen zum Oberhaupt unserer Gemeinde einen ehrlich denkenden Mann, der die Religion stützt und die guten Grundsätze verteidigt … Paris! Paris! … Ach, diese jungen Männer mit ihren überspannten Ideen! … Sag' mir doch bloß, was hast Du denn in Paris für Gutes gewirkt? … Die Luft da ist ungesund, mein Sohn! … Sieh nur mal den großen Mougé an … Und dabei ist er doch aus guter Familie … Aber glaubst Du, daß es ihn verhindert hätte, mit einem roten Frauenzimmerbarett zurückzukehren … Na, das wird eine schöne Geschichte abgeben! …«

Und so fuhr er fort, stundenlang; indem er behaglich seine Prise schnupfte, hielt er mir das rote Gespenst vor Augen vom Frauenbarett des großen Mougés, das ihm furchtbarer erschien, als die Hörner des Teufels.

Was sollte ich in Saint-Michel anfangen? … Ich hatte dort niemanden, dem ich meine Ideen und Träume mitteilen konnte, keinen einzigen Zufluchtsort, wo warmes Leben pulsierte, wo ich meine intellektuellen Kräfte hätte bethätigen, meinen heißen Drang nach Wissen und Schaffen hätte befriedigen können, den der Krieg dadurch, daß er mir die Muskeln entwickelt und den Körper gekräftigt, in mir erweckt hatte, und den ein leidenschaftliches Lesen mit jedem Tage noch mehr überreizte.

Ich verstand, daß Paris allein, über das ich mich ehemals so entsetzt hatte, dem unklaren Streben, das mich quälte, Auswege bieten konnte, und als die Erbschaftsangelegenheiten geordnet waren und das Geschäft verkauft, schied ich, die Priorei in der Hut von Felix und Marie lassend … So war ich denn wieder in Paris! …

Was habe ich nun hier seit fünf Jahren, um mit dem Pfarrer zu reden, für Gutes gewirkt? … Von vager Begeisterung, von verworrener Exaltation getrieben, die eine völlig chimärische Kunst einem völlig unmöglichen Apostelamte beigesellte, wohin bin ich gelangt? … Freilich bin ich nicht mehr das blöde Kind, das sich vor den Dienern in der festlich erleuchteten Vorhalle flüchtete. Wenn ich mir auch keine große Sicherheit erworben habe, so weiß ich doch wenigstens in der Welt aufzutreten, ohne mich lächerlich zu machen. Ich gehe fast unbemerkt vorüber, und das ist das Beste für einen Menschen meines Schlages, der keinerlei jener Vorzüge und äußeren Eigenschaften besitzt, deren man bedarf, um darin zu glänzen. Sehr oft frage ich mich, was ich eigentlich dort thue, in diesem Milieu, das nicht das meine ist, wo man nur Achtung hegt vor dem Erfolge, er mag noch so schwindelhaft sein; vor dem Gelde allein, aus welchem Pfuhl es auch kommen mag; wo jedes Wort, das gesprochen wird, mich in dem verwundet, was ich am meisten liebe, am meisten verehre … Und außerdem, bleibt nicht der Mensch derselbe überall, liegt nicht der Unterschied nur in der Erziehung, die sich in den Bewegungen, in der Art und Weise zu grüßen, in einem mehr oder weniger freien Auftreten kund thut! … Das also waren jene stolzen Künstler, jene bewunderungswürdigen Schriftsteller, deren Ruhm man besingt, deren Genie man feiert … Das waren sie also, diese kleinlichen, gewöhnlichen und pedantischen Menschen, die die Manieren der großen Welt nachäfften, trotzdem sie sich darüber lustig machten, und die von einer burlesken Eitelkeit, einer rasenden Eifersucht erfüllt waren. Sie krochen ja ebensogut wie die anderen auf allen Vieren vor dem Gelde und bewunderten, im Staube niederknieend, die Reklame, jene alte Vettel, die sie in Sammet und Seide kleideten … Nein! Da liebe ich mir die Ochsenhirten und ihre Ochsen, die Schweinehüter und ihre Schweine, ja, die runden, rosigen Schweine, die ruhig ihrer Wege dahin gehen, und mit der Schnauze die Erde aufwühlen – auf deren fetten und glatten Rücken die eilende Wolke ihren Schatten wirft! … Ich habe ungeheuer viel gelesen, ohne Auswahl, ohne Methode, und von dieser ungleichartigen Lektüre ist meinem Geiste nur ein Chaos von verstümmelten Thatsachen und unvollkommenen Ideen geblieben, in denen ich mich nicht zurechtfinden kann … Ich habe versucht, mich nach allen Richtungen hin aufzuklären, und ich bemerke, daß ich heute noch ebenso unwissend bin wie vordem … Ich habe Maitressen gehabt, die ich acht Tage geliebt habe, sentimentale und romantische Blondinen, und feurige, ungeduldig nach Küssen verlangende Brünetten, und die Liebe hat mich nichts gelehrt als die erschreckende Leere im Herzen des Mannes, die Täuschungen in den Liebkosungen, die Falschheit der Ideale, die Nichtigkeit der Lust … Als ich schließlich dachte, die endgültige Formel der Kunst gefunden zu haben, durch die ich meinem Trachten und Sehnen Ausdruck geben, meine pulsenden, lebenden Träume auf die Nadelspitze der Worte spießen und fixieren könnte, habe ich ein Buch veröffentlich, das man lobend erwähnt hat, und das sich gut verkauft hat.

Gewiß, dieser kleine Erfolg hat meiner Eitelkeit geschmeichelt: da habe auch ich mich hochmütig, wie mit einer seltenen Sache, gebrüstet, da habe auch ich eine überlegene Miene angenommen, um die Anderen besser hinters Licht führen zu können. Und da ich mich selbst hinters Licht führen wollte, habe ich mich oft, bei mir zu Hause, mit schauspielerhaftem Wohlgefallen, im Spiegel betrachtet, um in meinen Augen, auf meiner Stirn, in der königlichen Haltung meines Kopfes, die unumstößlichen Zeichen des Genies zu finden. Ach, der Erfolg hat mir die innerliche Bestätigung meiner Ohnmacht noch peinlicher gemacht. Mein Buch taugt nichts; der Styl ist verschroben, die Konzeption kindlich; eine gewaltsame Deklamation, ein lächerlicher Satzbau, müssen die mangelnden Ideen ersetzen. Zuweilen lese ich mir Auszüge daraus vor, die von der Kritik besonders gelobt wurden, und ich finde von allem etwas wieder, von Herbert Spencer etwas und von Scribe, von Jean-Jacques Rousseau und von Commerson, von Victor Hugo, von Poe und von Eugène Chavette. Von mir, dessen Name vorn auf dem Titelblatte, auf dem gelben Einband, sich breit macht, finde ich nichts darin. Nach den Launen meines Gedächtnisses, nach den Einfällen meiner Erinnerungen denke ich mit den Gedanken des Einen, schreibe ich in der Schreibart des Anderen; ich habe weder Styl noch Gedanken, die mir gehören. Und dennoch haben einflußreiche Leute, deren Geschmack anerkannt, deren Urteil Gesetz ist, meine Persönlichkeit, meine Originalität, das Unerwartete und das Raffinement meiner Empfindungen, gepriesen. Wie traurig ist doch das alles! … Wohin ich gehe? Ich weiß es heute so wenig, wie ich's gestern wußte. Ich habe die Überzeugung, daß ich nicht Schriftsteller werden kann, denn die Anstrengung, deren ich fähig war, die einzige Anstrengung, habe ich in dieses elende, unzusammenhängende Werk gelegt … Hätte ich wenigstens irgend ein sehr niedriges, sehr gemeines Streben, hätte ich unedle Wünsche, die einzigen, die keine Vorwürfe hinterlassen: die Liebe zum Gelde, zu öffentlichen Ehren, zur Ausschweifung! … Aber nein! Eine einzige Sache lockt mich, die ich nie erreichen werde: das Talent … Ach, mir sagen zu können, ja … mir sagen zu können: »Dieses Buch, dieses Sonnett, dieser Satz sind von Dir; Du hast sie Deinem Gehirn entrungen, sie brausen von Deiner Leidenschaft, Deine ganze Seele zittert darin; in diesen schmerzerfüllten Blättern hast Du Fleisch von Deinem Fleisch, Blutstropfen von Deinem Blute gegeben; Deine Nerven tönen darin wie die Saiten einer Violine unter dem Bogenstrich eines göttlichen Musikers. Was Du da geschaffen hast ist schön, ist groß!«

Für diese Minute des höchsten Glücks würde ich mein Vermögen, meine Gesundheit, mein Leben opfern; ja ich würde einen Mord begehen können! … Und niemals werde ich das erreichen, niemals! … Ach, jene leidenschaftslose Gemütsruhe, jene unendliche Selbstzufriedenheit der Mittelmäßigen, wie habe ich sie beneidet! … Es überfallt mich eine heiße Lust nach Saint-Michel zurückzukehren. Ich möchte den Pflug in die braune Ackerfurche senken, mich im jungen Klee wälzen, den schönen Geruch der Ställe einatmen und vor allem, mich in die Tiefe der Wälder verlieren, weit, weit weg – für immer mich verlieren! …

Das Feuer war erloschen und meine Lampe rauchte; ich spürte in den Beinen eine Kälteempfindung, die mich sanft wie eine Liebkosung durchzitterte, und die, von kleinen Wollustschaudern begleitet, mir bis in die Lenden hinaufstieg. Von draußen drang kein Geräusch zu mir herein; die Straße wurde still. Und die Uhr schlug zwei. Aber eine gewisse Trägheit hielt mich noch immer auf dem Divan fest; ausgestreckt daliegend, genoß ich ein großes physisches Behagen mitten in einer großen moralischen Niedergeschlagenheit. Ich mußte ernste Anstrengungen machen, um mich dieser Erschlaffung zu entreißen und mich endlich in mein Schlafzimmer zu begeben. Es war mir unmöglich einzuschlafen. Kaum waren mir die Augenlider zugefallen, so schien es mir, als stürze ich in einen tiefen, schwarzen Abgrund, und ich wachte auf, stöhnend, mit schweißbedeckter Stirn. Ich zündete meine Lampe wieder an und versuchte zu lesen … Es gelang mir aber nicht, meine Aufmerksamkeit auf die Zeilen im Buche zu konzentrieren, die unter meinen Augen wegglitten, sich kreuzten und einen phantastischen Tanz aufführten. »Welch ein Leben ohne Sinn ist doch das meinige!« dachte ich … Junge Leute meines Alters pflegen zu scherzen, zu singen, sind glücklich und sorglos … Weshalb bin ich allein denn so, weshalb bin ich von häßlichen Hirngespinsten gepeinigt? Wer hat in meiner Seele diesen tödlichen Schmerz, diese Langeweile und Mutlosigkeit niedergelegt? Vor den anderen liegt ein weiter Horizont, erhellt von strahlender Sonne! Ich wandle in tiefer Nacht, werde immer und immer wieder von Mauern gehindert, die mir den Weg versperren, und gegen die ich mir vergebens Stirn und Knie blutig stoße … Sie besitzen Liebe – sollte das vielleicht der Grund sein … Lieben! Ach, ja! Wenn ich lieben könnte!«

Und ich sah die schöne Jungfrau von Saint-Michel wieder, wie sie strahlend vom Himmel niederstieg, die liebliche Jungfrau aus Gips, mit ihrem silbergestickten Mantel und goldenem Glorienschein … Rings um sie her drehten und neigten sich die Sterne, gleich wie himmlische Blumen, und weiße Tauben, trunken von Gebeten, umflatterten sie und streiften sie mit ihren Flügeln … Vor meinem Geiste stieg die Ekstase wieder auf, die weltentrückte, mystische Anbetung, zu der sie mich damals hingerissen; alle die sanften Freuden, die ich, allein bei ihrem Anblick, empfunden hatte. Und hatte sie denn nicht auch zu mir gesprochen, dort unten in der Kapelle? Und diese unausgesprochene Sprache, bei der meine Kinderseele von einer unauslöschlichen Zärtlichkeit durchströmt wurde, diese Sprache, die harmonischer war als der Engel Gesang, als die Klänge der goldenen Harfen, duftender als der Duft der Rosen, war das denn nicht die göttliche Sprache der Liebe? Je eifriger ich mich dieser Sprache, die eine Musik war, mit allen meinen Sinnen hingab, je stärker wurde ich in eine unbekannte und wunderbare Welt entrückt; ein feenhaftes, neues Leben keimte, entfaltete sich und blühte auf um mich her. Der Horizont dehnte sich aus bis zur Unendlichkeit des Geheimnisvollen; der Raum strahlte wie ein Sonnenmeer, und ich selbst fühlte mich so groß geworden, so kraftvoll, daß ich in einer einzigen Umarmung alle Wesen, alle Blumen, alles, an meine Brust schloß, alles aus diesem Paradiese, das aus dem Liebesblick geboren, den eine Madonna von Gips und ein kleines Kind ausgetauscht hatten.

»Jungfrau, heilige Jungfrau!« rief ich … »Rede zu mir, rede wieder zu mir, wie Du ehemals in der Kapelle zu mir geredet hast … Und schenke mir die Liebe wieder, da die Liebe das Leben ist, und ich daran sterbe nicht mehr lieben zu können.«

Aber die Jungfrau hörte mich nicht mehr. Sie glitt leicht in das Zimmer hinein, verneigte sich, kletterte auf die Stühle hinauf und untersuchte die Möbeln, indem sie sonderbare Weisen sang. Ein Barett aus Otterfell ersetzte jetzt den goldenen Strahlenschein, ihre Augen waren die Augen von Juliette Roux, sehr schöne, sehr sanfte Augen, die mir aus einem Angesicht von Gips, unter einem feinen Gazeschleier, zulächelten. Von Zeit zu Zeit näherte sie sich meinem Bette und winkte darüber mit ihrem gestickten Taschentuche, dem ein starkes Parfüm entströmte.

»Herr Mintié,« sagte sie, »ich bin jeden Tag zu Hause von fünf bis sieben … Es wird mich sehr freuen Sie zu sehen, sehr freuen!«

»Jungfrau, heilige Jungfrau!« flehte ich von neuem, »Rede zu mir, ich bitte Dich darum, rede zu mir, wie ehemals in der Kapelle!«

»Tü, tü, tü, tü!« summte die Jungfrau, deren lila Kleid sich aufbauschte, während sie mit den spitzen und schlanken, mit Ringen bedeckten Fingern, ihren silbergestickten Mantel auseinander hielt und anfing sich langsam im Walzertakt zu drehen, den Kopf hinten übergeworfen.

»Heilige Jungfrau!« rief ich wieder mit gereizter Stimme, »rede doch zu mir!«

Sie hielt inne, stellte sich dicht vor mich hin und ließ, eines nach dem anderen, ihre Gipskleider fallen. Nackend, lüstern und herrlich, stand sie da und sagte, indem ein helles, klangvolles und lustiges Lachen sich ihrer Kehle entrang:

»Herr Mintié, ich bin jeden Tag zu Hause, von sechs bis sieben … Ich werde Ihnen die alten Hosen von Charles schenken.«

Und sie warf mir das Barett aus Otterfell ins Gesicht.

Ich fuhr im Bette in die Höhe … Mit weitaufgerissenen Augen und keuchender Brust, sah ich mich um. Aber das Zimmer war ruhig, die Lampe brannte melancholisch weiter und mein Buch lag auf dem Boden.

Ich erwachte spät am nächsten Morgen mit schwerem Kopfe, aus einem Schlaf, der von Alpdrücken unterbrochen war, verfolgt von dem Gedanken an Juliette. Während dieser gestörten, fieberhaften Nacht, hatte sie mich keinen Augenblick verlassen, hatte die merkwürdigsten Gestalten angenommen und sich zu den bedauernswürdigsten Phantasien hergegeben, und jetzt am Morgen war sie wieder da, dieses Mal aber so, wie ich sie am vorhergehenden Tage bei Lirat gesehen hatte, mit der züchtigen Miene, mit dem bezaubernden und taktvollen Wesen. Ich fühlte ihretwegen eine gewisse Trauer – nein keine Trauer, sondern Bedauern, das Bedauern, welches man beim Anblick eines Rosenstrauches fühlt, dessen Rosen alle verwelkt sind, und dessen Rosenblätter an der schmutzigen Erde umhergestreut liegen – denn ich konnte nicht an Juliette denken, ohne gleichzeitig an die boshaften Worte Lirats zu denken »… Es spielte da auch eine Geschichte von einem Cirkus-Athleten aus Neuilly, dem sie zwanzig Franken gab …« Wie schade! … Als sie ins Atelier trat, hätte ich darauf schwören mögen, daß sie die tugendhafteste aller Frauen sei … Schon die Art und Weise wie sie ging, wie sie grüßte, lächelte, sich hinsetzte, zeigte die gute Erziehung, das ruhige, glückliche Leben, ohne verdächtige Eile, ohne quälende Gewissensbisse. Ihr Hut, ihr Mantel und Kleid, ihre ganze Toilette war von einer feinen, intimen Eleganz, für die Freude eines Einzigen geschaffen, für die Heiterkeit eines Hauses, das gründlich verriegelt war und den Spähern nach unreiner Beute verschlossen blieb … Und ihre Augen, die voll erlaubter Zärtlichkeit waren, ihre Augen, aus denen so viel Treuherzigkeit, so viel Harmlosigkeit strahlte, die von keiner Lüge wußten, ihre Augen, die schöner waren als ein mondbeschienener See! … »Und wie geht es Charles?« hatte Lirat gefragt … Charles? … Nun, ihr Mann, zum Henker auch! … Und mit naiver Sentimentalität machte ich mir die Idee zurecht von einem respektablen Heim mit niedlichen Kindern, die auf dem Teppich herumspielten, einer großen Familienlampe, um deren milde Klarheit sich einfache und gute Menschen scharten, ein keusches Bett, beschützt von einem Kruzifix und einem geweihten Buchsbaumsträußchen … Plötzlich, mitten in diesen Frieden hinein, erblickte ich den Schauspieler vom Bouffes, den Krupier vom Klub, und Charles Malterre, der Lirats Sopha ruinierte, weil er sich weinend vor Zorn darauf herumwälzte! … Ich beschwor die Physiognomie des Komödianten herauf, ein blasses, faltiges Gesicht ohne Bart, cynische, rotumränderte Augen, unedle Lippen, einen sehr offenen Kragen, darunter eine rosenrote Krawatte, einen kurzen Rock mit wüsten Falten … Ich war abgespannt und gereizt … Was ging mich das alles an? … Was brauchte ich mich um das Leben dieser Frau zu kümmern? Was hatte ich mit ihr zu schaffen? … Pflegte ich sonst melancholisch zu werden über das Schicksal der Dirnen, die der Zufall auf meinen Weg führte? … Meinetwegen konnte sie thun und lassen, was sie wollte, das Fräulein Juliette Roux! … Sie war weder meine Schwester noch meine Braut oder Freundin; es knüpfte sie kein Band an mich … Gestern hatte ich sie, wie eine Vorübergehende auf der Straße, flüchtig bemerkt, wie eine der tausenden von Wesen, die man jeden Tag mit dem Ärmel streift, die an einem vorbeigehen und verschwinden, und heute war sie schon in den großen Wirbelstrom der Vergessenheit gesunken … und ich würde sie nie wiedersehen … »Wenn sich aber Lirat nun doch irrte? …« sagte ich mir plötzlich während ich frühstückte … Ich kannte seine Übertreibungen, sein Bedürfnis boshaft zu sein, seinen Haß und seine Verachtung der Frauen … Was er von Juliette erzählte, erzählte er von allen andern auch …

Ja, vielleicht existierte der Komödiant, der Krupier und alle jene Einzelheiten einer ehrlosen Existenz, in deren Aufzählung er sich mit bitterem Groll gefallen hatte, einzig und allein in seiner Einbildung … Und Charles Malterre? … Mir wäre es freilich lieber gewesen, wenn sie verheiratet wären; ich hätte gewünscht, daß sie sich auf den Arm eines Mannes, frei, geachtet, beneidet von den Anständigsten, hätte stützen können! … Aber sie liebte ja diesen Malterre, sie lebte mit ihm, anständig, sie war ihm ergeben: »Es wird Charles sehr leid thun …« Sie ängstigte sich also darum, was dem Malterre gefallen oder mißfallen könnte … Und bei dem Gedanken, daß Lirat, ihre falsche Situation mißbrauchend, sie in abscheulicher Weise verleumdete, krampfte sich mir das Herz zusammen, ein großes Mitleiden überkam mich und ich ertappte mich darauf ganz laut zu sagen: »Armes Mädchen!« … Indessen – Malterre hatte sich auf dem Sopha gewälzt, er hatte geweint, hatte Lirat vertrauliche Mitteilungen gemacht, Briefe gezeigt … Na, und wenn auch! … Was ging's mich an? … Kannte ich sie denn? … Was ging mich diese Frau überhaupt an! Mochte sie doch meinetwegen soviel Sänger, soviel Krupiers, soviel Athleten wie sie wollte haben! … Zum Teufel auch! … Und ich ging auf die Straße hinaus, eine lustige Melodie vor mich hersummend, mit der ungezwungenen Haltung eines Menschen, der sich nicht zu grämen braucht … Und weshalb sollte ich mich denn grämen, wenn ich fragen darf? …

Ich schlenderte die Boulevards hinunter, hie und da vor den Läden verweilend; trotz der Sonne, die ein spärliches und mattes, vom Nebel verhülltes, Dezemberlächeln herabsandte, war die Luft schneidend kalt. Auf dem Trottoir gingen fröstelnde Frauen vorüber, in lange Mäntel von Otterfell eingehüllt, einige davon angethan mit kleinen Pelzbaretts, ähnlich dem das Juliette trug, und jedesmal interessierte ich mich lebhaft für einen solchen Mantel und Hut. Ich betrachtete sie mit wirklichem Vergnügen; ich liebte es sie mit den Augen zu verfolgen, bis sie im Menschengewimmel verschwanden. Ich erinnere mich noch, daß ich, an der Ecke der Rue Taitbout, auf eine hohe, schlanke und hübsche Frau stieß, die Juliette so sehr ähnelte, daß ich unwillkürlich mit der Hand nach dem Hut griff, um zu grüßen. Ich geriet in Erregung – aber es war keineswegs jener heftige Stich ins Herz, der einem den Atem raubt, die Adern anschwellen läßt, so daß einem die Sinne vergehen; es war eine ganz leise Berührung, wie eine sanfte Liebkosung etwa, die ein Lächeln auf den Lippen und in den Augen ein Aufleuchten hervorruft … Diese Frau war aber nicht Juliette … Ich fühlte einen gewissen Ärger gegen sie und rächte mich an ihr dadurch, daß ich sie sehr häßlich fand … Zwei Uhr schon! … Wenn ich Lirat aufsuchte? … Wozu eigentlich? … Damit er mir von Juliette redete, damit ich ihn zwänge, mir einzugestehen, daß er gelogen hatte, damit er mir darauf Züge von ihr erzählte, die groß und ergreifend waren, rührende Geschichten von ihrer Hingebung und Aufopferung, ja, der Gedanke lockte mich! … Ich überlegte mir aber rechtzeitig, daß Lirat in Zorn geraten, daß er mich und sie verhöhnen würde, und ich fürchtete seine Sarkasmen, ich hörte bereits seine bösen Worte, seine abscheulichen Sätze mit pfeifendem Laut über seine verzogenen Lippen kommen … In den Champs Elysées rief ich einen Fiaker an und fuhr ins Bois hinaus … Weshalb es mir verheimlichen? … Ich hoffte dort Julietten zu begegnen … Ja gewiß, ich hoffte es, aber gleichzeitig fürchtete ich es. Wenn ich sie nicht träfe, würde es eine Enttäuschung sein; aber auf der anderen Seite, sähe ich sie auf diesem Markte der Galanterie sich regelrecht zur Schau stellen, wie die anderen Dämchen alle, würde mir das ebenfalls unangenehm sein, und ich wußte nicht, was in mir stärker war, die Hoffnung sie zu erblicken, oder die Furcht ihr zu begegnen … Im Bois waren nur wenig Menschen. In der großen Allée du Lac fuhren die Wagen, mit ihren Kutschern hoch auf dem Bock, schrittweise, in ziemlich großer Entfernung von einander. Dann und wann verließ ein Coupé die Wagenlinie, drehte um und verschwand im Galopp, ein Frauenprofil, ein Stückchen von einem grellfarbigen Kleiderstoff, weiße, bleiche Gesichter, die das Auge hastig hinter den Wagenfenstern auffing, mit sich fortnehmend, der Teufel weiß wohin … Meine Brust und meine Schläfen klopfen mir heftig, ich verspürte die Ungeduld bis in meine Fingerspitzen hinein. Von dem unausgesetzten Hinausstarren in ein und derselben Richtung, dem Untersuchen des Inneren der Wagen, war mir der Hals steif geworden und that mir weh; ich kaute erregt auf einer Zigarre herum, die ich mich nicht entschließen konnte anzuzünden, aus Angst es könnte in der Zeit irgend ein Wagen an mir vorüberrollen, in dem sie sich befände. Einen Augenblick glaubte ich auch wirklich sie auf dem Rücksitze eines Coupés erblickt zu haben, der in der entgegengesetzten Richtung meines Fiakers davon fuhr.

»Kehren Sie um, kehren Sie um!« rief ich dem Kutscher zu … »Und fahren Sie dicht hinter dem Coupé da!«

Ich überlegte mir nicht, daß es sehr leichtfertig gehandelt war gegen eine Frau, der ich tags zuvor zufällig vorgestellt worden, und die ich ja rehabilitieren wollte. Ich beugte mich aus dem herabgelassenen Wagenfenster hinaus und verlor das Coupé nicht aus den Augen. Und ich sagte mir: »Vielleicht hat sie mich wieder erkannt … vielleicht wird sie halten lassen, wird aussteigen und sich zeigen.« Ja, ich sagte das ohne den geringsten Gedanken an eine galante Eroberung, als wäre es die einfachste, die natürlichste Sache von der Welt gewesen … Das Coupé flog tanzend auf seinen Federn, leicht und flink dahin, der Fiaker hatte Mühe ihm zu folgen.

»Schneller!« kommandierte ich … »Schneller, und fahren Sie vorbei!«

Der Kutscher peitschte auf sein Pferd los, das anfing, sich in Galopp zu setzen, und nach Verlauf einiger Sekunden berührten sich die beiden Wagen Rad an Rad … Im Rahmen des Coupéfensters erschien ein Frauenkopf, umgeben von zerzausten Haaren unter einem sehr großen Hut; ihre Lippen, die über und über mit Rot bemalt waren, bluteten wie eine frische Wunde, und sie hatte eine komische kleine Stülpnase … Mit einem einzigen verächtlichen Blick überflog sie prüfend den Kutscher, den Fiaker und meine Person, worauf sie mir die Zunge ausstreckte und sich beleidigt in eine Ecke ihres Coupés zurückzog … Es war nicht Juliette! Ich kam erst spät nachmittags nach Hause, sehr enttäuscht und trotzdem entzückt von meiner unnützen Spazierfahrt.

Für den Abend hatte ich durchaus nichts vor. Trotzdem zog ich mich länger an als gewöhnlich. Ich verwandte sehr viel Mühe auf meine Toilette, und zum ersten Male schien mir der Knoten meiner Krawatte eine ernste Sache zu sein; ich vertiefte mich mit Liebe in seine Vollendung. Diese plötzliche Offenbarung führte andere, noch bedeutendere herbei. So bemerkte ich zum Beispiel, daß meine Hemden einen schlechten Schnitt hatten, daß das gesteifte Vorhemd sich in unschöner Weise über die Weste hinausschob; daß mein Anzug altmodisch und wenig chic war. Kurzum, ich fand mich im Ganzen ziemlich lächerlich und nahm mir vor das künftig zu ändern. Ohne aus der Eleganz ein tyrannisches und zwingendes Gesetz meines Lebens zu machen, war es mir doch wohl erlaubt, wollt' ich meinen, wie andere Menschen auszusehen. Weil man sich gut kleidete, brauchte man doch nicht notwendigerweise ein Idiot zu sein. Diese Beschäftigungen erfüllten mich bis zur Stunde des Diners. Für gewöhnlich aß ich zu Hause, aber an diesem Abend kam mir meine Wohnung zu klein, zu einsam und grämlich vor; sie erstickte mich, und ich bedurfte der großen Räume, des Lärms, und der Fröhlichkeit. Im Restaurant interessierte ich mich für alles, für das Kommen und Gehen der Leute, für den vergoldeten Schmuck der Decke, für die großen Spiegel, die bis ins Unendliche die Säle wiederspiegelten, die Kellner und die elektrischen Lichtkugeln, die Blumen an den Hüten und das Büffett, wo verzierte Braten lockend zur Schau standen, wo Pyramiden aus roten und goldenen Früchten emporstiegen, umgeben vom Grün der Gemüse und dem strahlenden Krystall der Gläser. Vor allem beobachtete ich die Frauen. Ich studierte ihre zarte, leichte Art und Weise zu essen, das Spiel ihrer Augen, die Bewegungen ihrer vom Handschuh entblößten Arme, welche schwere goldene, funkensprühende Armbänder schmückten, die feine Zeichnung des Halses, dessen weiches Fleisch sich in der Kleidertaille unter rosigen Spitzen verlor. Das riß mich alles hin und erregte mich wie eine neue Sache, wie die Landschaft eines fernen Landes etwa, das plötzlich zu einem herüberschimmert. Es geschah mir, daß ich in Erstaunen geriet, als wäre ich ein ganz junger Mann gewesen. Von der melancholischen Anlage meines Geistes getrieben, in den menschlichen Wesen vorwiegend das intime moralische Leben zu betrachten, das heißt, sie mit etwas Häßlichem oder irgend einem Leiden zu behaften, gab ich mich in diesem Augenblick der Befriedigung hin, vom Leben ohne Rückhalt nur den physischen Zauber ganz zu genießen. Mein Blick erfreute sich an der Anmut, die eine schöne Frau um sich verbreiten kann; selbst bei den Häßlichsten fand ich irgend eine Nuance in der Form des Nackens, ein Schmachten in den Augen, eine Geschmeidigkeit in den Händen, irgend etwas, was mich entzückte, und ich machte mir Vorwürfe, meine Existenz bis dahin so schlecht eingerichtet zu haben, mich in menschenscheuer Weise in öden und langweiligen Zimmern eingesperrt, kurzum nicht gelebt zu haben, wo Paris mir doch mit jedem Schritt Freuden bot, die so leicht zu nehmen und so süß einzuschlürfen waren.

»Der Herr erwarten wohl jemand?« fragte mich der Kellner.

Ich jemanden erwarten?

Nein, ich erwartete niemand. Die Thür des Restaurants ging auf, und lebhaft wendete ich mich um. Jetzt verstand ich erst, weshalb der Kellner die Frage an mich gerichtet hatte … Jedesmal, wenn die Thür aufging, passierte mir dasselbe: ich wendete mich eilig um und blickte dem Eintretenden ins Gesicht, als ob ich wirklich wüßte, daß jemand kommen würde, den ich erwartete … jemand! … Und wen hätte ich erwarten sollen?

Ich ging selten ins Theater; dazu bedurfte es irgend einer Gelegenheit, einer Verpflichtung, kurz eines besonderen Grundes. Ich glaube, daß ich niemals von selbst darauf gekommen wäre, einen Fuß dort hinzusetzen … ja ich war sogar stolz darauf, für die Litteratur, welche in diesen Ausstellungen der Mittelmäßigkeit feil geboten wird, eine souveräne Verachtung zu hegen. Da ich das Theater nämlich nicht als eine wertlose Zerstreuung, sondern als eine ernste Kunststätte auffaßte, so widerstrebte es mir, die menschliche Leidenschaft dort, im Mechanismus der sich selbst gleichbleibenden Scenen, immer dieselben sentimentalen Romanzen herleiern zu hören, und die purzelbaumschlagende, mit Schminke besudelte Komik, auf dem gleichen Hintergrunde von gemeiner Spaßmacherei zu sehen. Ein Fabrikant von Theaterstücken, und würde ihm auch noch so viel Beifall geklatscht, machte auf mich den Eindruck eines Verirrten; er war dem Dichter, was dem Priester der Abtrünnige, dem Soldaten der Fahnenflüchtige ist. Und oft kam mir ein Wort von Lirat ins Gedächtnis, das ungeheuer treffend war und ein tiefes Verständnis zeigte.

Wir waren zur Beerdigung des großen Malers M… gewesen; D…, der berühmte dramatische Schriftsteller, führte das Trauergefolge an. Auf dem Kirchhof hielt er eine Rede. Darüber verwunderte sich niemand; gaben sich doch M… und D… an Berühmtheit nichts nach? Als die Ceremonie zu Ende war, nahm Lirat meinen Arm, und wir kehrten, sehr traurig, zu Fuß nach Paris zurück. Lirat schien in peinliche Betrachtungen versunken und schwieg … Plötzlich stand er still, kreuzte die Arme über der Brust, und indem er den Kopf schüttelte, rief er mit jener Miene, die nur durch ihren übergroßen Ernst komisch wirkte: »Was zum Teufel ging eigentlich dieses Begräbnis den D… an, nicht wahr, sagen Sie mal?« Und er hatte recht: was ging es ihn eigentlich an? Gehörten sie denn zu derselben Rasse und strebten sie dem gleichen Ruhme entgegen, jener stolze Künstler mit den erhabenen Gedanken, den unsterblichen Werken, und dann der andere, dessen ganzes Ideal darin bestand, mit seinen flachen Albernheiten eine Versammlung von reichgewordenen und gemästeten Bourgeois zu amüsieren? … Nein, wahrhaftig: was ging es ihn eigentlich an?

Wie weit entfernt fühlte ich mich von derlei griesgrämlichen Betrachtungen, als ich, mich eines physischen Wohlseins erfreuend, das meinen Bewegungen eine eigene Leichtigkeit und Elastizität gab, nach dem Diner auf den Boulevards umherschlenderte und bald darauf in einer Loge des Théâtre des Variétés, wo man eine moderne Operette spielte, Platz nahm. Das Gesicht angenehm von der Kälte draußen erregt, das Herz gänzlich von allgemeiner Duldsamkeit erfüllt, empfand ich ein tiefes Behagen. Worüber? Ich wußte es nicht und wollte es auch gar nicht wissen, da ich nicht in der Stimmung war, mich psychologischen Forschungen über mich selbst hinzugeben. Ich war gerade während eines Zwischenaktes gekommen, und eine sehr elegante Menschenmenge strömte in das Foyer hinaus. Nachdem ich meinen Überrock an die Logenschließerin abgegeben hatte, machte ich die Runde an den Parterrelogen, mit jener sanften Ungeduld, jener liebkosenden Aufgeregtheit, die ich schon im Bois verspürt hatte; darauf stieg ich in den ersten Rang hinauf, wo ich dieselbe gewissenhafte Rekognoscierung der Logen vornahm.

»Weshalb sollte sie nicht hier sein?« dachte ich. Jedesmal, wenn ich das Gesicht einer Frau nicht deutlich unterscheiden konnte, weil sie sich entweder stark vornüber neigte oder tief im Schatten saß oder auch sich hinter einem Fächer versteckt hielt, sagte ich mir: »Das ist Juliette!« Und jedesmal war es nicht Juliette. Das Stück amüsierte mich. Ich lachte aufrichtig über die schwerfälligen Witze, aus denen sein Inhalt bestand, ja, diese ganze verderbliche Unfähigkeit, diese schlingelhafte Grobheit, entzückten mich, und ich fand darin, mit der allerernstesten Überzeugung von der Welt, eine Ironie, die eines gewissen literarischen Werts durchaus nicht ermangelte. Bei den Liebesscenen wurde ich sogar sehr gerührt. Während des letzten Aktes begegnete ich einem jungen Manne, den ich nur wenig kannte. Zufrieden, gegen irgend jemanden alle die banalen Mitteilungen, die sich in mir angesammelt hatten, auslassen zu können, hing ich mich an seinen Arm.

»Großartig! Nicht wahr?« sagte er. »Geradezu verblüffend!«

»Oh ja – es ist nicht übel.«

»Nicht übel! Nicht übel? … Ich sage Ihnen, es ist ein Meisterwerk, ein verblüffendes Meisterwerk! … Was ich vor allem bewundere, ist der zweite Akt … Es ist da eine Situation drin von einer Kraft, einer Kraft sage ich Ihnen! … Ja wissen Sie, da haben wir endlich mal die große Komödie! … Und die Toiletten! … Und diese Judic. Ach, diese göttliche Judic!«

Er schlug sich mit der Hand auf den Schenkel und schnalzte mit der Zunge.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sie mich aufregt! … Geradezu verblüffend!«

In dieser Weise unterhielten wir uns über das Verdienst der verschiedenen Akte und Scenen, der verschiedenen Schauspieler.

 … Als wir uns trennten, fragte ich: »Sagen Sie … kennen Sie nicht zufälligerweise eine gewisse Juliette Roux?«

»Warten Sie mal! … Ja gewiß kenne ich die! … eine kleine Brunette, sehr chic, nicht wahr? … Nein, ich verwechsle das … warten Sie! … Juliette Roux! … Kenne ich nicht! …«

Eine Stunde darauf saß ich vor einem Sodawasser im Café de la Paix, wo die schönsten Exemplare der galanten Welt sich nach dem Theater zu versammeln pflegen. Viele Frauen, deren gelbe Gesichter mit Schminke aufgefrischt, deren welke Lippen von neuem rotgefärbt waren, traten mit unverschämten, lärmenden Manieren ein und gingen wieder. Am Tische neben mir saß eine kleine ältliche Blondine, die mit eifriger Miene und vor Ausschweifung heiserer Stimme irgend etwas erzählte, das ich nicht verstand. Etwas weiter hin erblickte ich eine Brunette, die sich mit der majestätischen und komischen Würde einer Puterhenne zierte und mit derselben Hand, welche im Bauernhofe die Mistgabel geschwungen, den Fächer hin und her bewegte, während der Mensch, der sie begleitete, auf einem Stuhl zusammengesunken, den Hut hintenüber geschoben, die Beine auseinander, hartnäckig am runden Griff seines Stockes kauend, dasaß. Ein unüberwindlicher Ekel stieg mir bis in die Kehle hinauf; ich schämte mich dort zu sein und verglich unwillkürlich das zurückhaltende, diskrete Wesen der sanften Juliette da unten im Atelier Lirats mit dem lärmenden und lächerlichen Auftreten dieser Frauen. Diese rauhen und kreischenden Organe machten die Frische ihrer Stimme nur noch lieblicher, ihre sanfte Stimme, die ich immer und immer wieder hörte, wie sie die Worte zu mir sprach: »Es wird mir eine große Freude sein … Ich kenne Sie sehr gut …«

»Lirat ist doch eigentlich ein unausstehlicher Mensch!« dachte ich, während ich mich ins Bett legte, wütend darüber, daß er in so ungerechter Weise den Namen einer Frau mißhandelt hatte, die ich weder auf der Straße, im Bois, im Restaurant, im Theater noch im Nachtcafé getroffen hatte.


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