Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Unser Regiment war, was man damals ein Marschregiment nannte. Es war mühselig zu Mans, aus allen Resten des Korps, aus den ungleichartigsten, die Stadt überschwemmenden Elementen, formiert worden. Zouaven, Mobilgardisten, Scharfschützen, Waldhüter, unberittene Kavalleristen, ja Gendarmen, Spanier und Wallachen. Von allem war etwas da, und das Ganze wurde von einem alten Offizier der Montierungs-Kommission kommandiert, der für diesen Fall zum Range eines Oberst-Lieutenants befördert worden. In jenen Zeiten waren solche Avancements nicht selten; man mußte ja wohl oder übel die Löcher zustopfen, welche die Kanonen von Weißembourg und Sedan in das französische Fleisch gerissen hatten. Mehreren Kompagnien fehlte es an Offizieren. Die meinige wurde von einem kleinen Lieutenant der Mobilgardisten, einem zwanzigjährigen, zarten und blassen jungen Manne geführt, der so wenig robust war, daß er nach dem Marsch von nur wenigen Kilometern den Atem verloren hatte, sich nur mühsam fortschleppen konnte und sein Tagewerk in einem Munitionswagen des Feldlazarets beschließen mußte. Der arme kleine Teufel! Man brauchte ihm nur ins Gesicht zu sehen, so wurde er rot; nie hätte er gewagt einen Befehl zu erteilen, aus Angst sich zu irren und uns gegenüber lächerlich zu erscheinen. Wir machten uns wegen seiner Schüchternheit und Kraftlosigkeit über ihn lustig, wahrscheinlich auch weil er gutmütig war und mitunter Cigarren und Zulage an Fleisch unter die Leute austeilen ließ. Ich hatte mich, vom allgemeinen Fieber angesteckt, vom Beispiel meiner Umgebung fortgerissen, sehr schnell an das neue Leben gewöhnt. Wenn ich die herzzerreißenden Berichte von unseren verlorenen Schlachten las, fühlte ich mich fortgerissen, wie in einem Rausche, ohne jedoch in diesen Rausch jemals den Gedanken an das bedrohte Vaterland zu mischen. Wir blieben einen Monat in Le Mans, den wir damit verbrachten uns auszurüsten, Übungen zu machen und in die Schenken und öffentlichen Häuser zu laufen. Endlich marschierten wir ab, am 3. Oktober.

Eine zusammengewürfelte Schar von umherstreifenden Soldaten, von Abteilungen ohne Anführer, von Vagabunden und Freiwilligen, schlecht genährt und ausgerüstet – sehr häufig auch gar nicht genährt – ohne Zusammenhang und Disziplin, jeder nur an sich denkend, allein von dem Gefühl der wildesten, unerbittlichsten Selbstsucht vorwärts getrieben, dieser mit einer Polizeimütze bedeckt, jener den Kopf mit einem seidenen Tuche umwunden, andere wieder bekleidet mit Hosen der Artilleristen und Westen der Trainsoldaten – zogen wir, zerlumpt, erschöpft, verwildert, auf der Landstraße einher. Seit zwölf Tagen waren wir einer kürzlich formierten Brigade einverleibt und wälzten uns ohne Ziel durch das Land, als würden wir am Narrenseil geführt, heute rechts, morgen links. An einem Tage einen Marsch von vierzig Kilometern »leistend«, am folgenden ebensoviel Kilometer wieder zurückweichend, drehten wir uns unaufhörlich im selben Kreise herum, gleich einer losen Viehherde, die ihren Hirten verloren hat. Mit unserer Begeisterung war es völlig aus. Drei Wochen schwerer Leiden hatten genügt es dahin zu bringen. Bevor wir noch die Kanonen brummen und die Kugeln pfeifen gehört hatten, glich unser Vormarsch dem Rückzuge einer besiegten Armee, die von den Angriffen der Kavallerie zerfetzt, in den Taumel des wüsten Gedränges, des Rette-sich-wer-kann, geraten ist. Wie oft habe ich gesehen, daß Soldaten sich ihrer Patronen entledigten, indem sie sie längs des Weges ausstreuten!

»Wozu nützen sie mir?« sagte mir ein Soldat, »ich brauche nur eine, um sie dem Hauptmann bei der ersten Gelegenheit durch den Kopf zu jagen.«

Wenn sie dann des Abends im Lager um den Feldkessel hockten, oder ausgestreckt auf dem kühlen Heidekraut lagen, den Kopf auf dem Tornister ruhend, dachten sie an die Heimat, der man sie gewaltsam entrissen. Alles was an kräftiger Jugend vorhanden war, war aus den Dörfern geschieden. Viele von ihnen schliefen jetzt schon, den Leib von Granaten aufgerissen, unter der Erde; andere irrten mit zerquetschten Gliedern wie Gespenster auf den Fluren und in den Wäldern umher, den Tod erwartend. Draußen, auf dem trauernden Lande, sah man nur alte Männer, deren Rücken noch gebeugter war als sonst, und weinende Frauen. Aus den Tennen, wo man das Korn drischt, drang kein Laut hervor, und die Scheunen waren geschlossen; auf den verlassenen Feldern gewahrte man gegen das Abendrot der niedergehenden Sonne nicht mehr die Silhouette des heimkehrenden Ackermannes, hinter seinen müde dahinschreitenden Pferden. Und es kamen Männer mit großen Säbeln, die an einem Tage den Bauern im Namen des Gesetzes die Pferde wegnahmen, am folgenden ihnen die Kühe aus dem Stall trieben; denn es ist dem Krieg nicht genug sich mit Menschenfleisch zu mästen, er verschlingt auch die Tiere, das Erdreich, alles, was im Frieden der Arbeit und der Liebe still dahinlebt … Und tief im Herzen der elenden, unglücklichen Soldaten, deren bleiche, abgemagerte Gesichter und schlaffe Körper vom düsteren Scheine des Lagerfeuers erhellt wurden, lebte nur eine Hoffnung, die Hoffnung auf die kommende Schlacht, das heißt: auf die Flucht und die deutsche Festung.

Bei alledem bereiteten wir die Verteidigung der Gegenden vor, die wir durchmarschierten, trotzdem sie noch gar nicht bedroht waren. Dazu hielten wir es für nötig die Bäume umzuhauen und sie auf die Wege zu werfen, die Brücken in die Luft zu sprengen und die Kirchhöfe am Eingange der Dörfer zu entheiligen, unter dem Vorwande, daß wir Barrikaden bauen müßten; mit aufgestecktem Bajonett zwangen wir die Einwohner ihr eigen Hab' und Gut zu vernichten. Darauf schieden wir, nichts als Haß und zerstörtes Glück hinter uns lassend. Ich entsinne mich noch, daß wir einmal einen sehr sehr schönen Park bis auf die letzten kleinen Baumschößlinge nivellieren mußten, um dort Hütten zu errichten, die wir nachher nicht benutzten. Unser Auftreten war gerade nicht dazu geeignet die Leute zu beruhigen; deshalb verschloß man auch die Häuser bei unserer Ankunft, und die Bauern vergruben ihre Lebensmittel; überall feindliche Gesichter, mürrische Mienen und leere Hände. Es gab blutige Schlägereien zwischen uns, um eine Schüssel voll kleingehackten Schweinefleisches, die in einem Wandschrank entdeckt wurde, und unser General ließ einen alten Tropf niederschießen, der in seinem Garten, unter einem Haufen Stalldünger, ein Stückchen gesalzenes Speck beiseite geschafft hatte.

Am 1. November kamen wir, nachdem wir einen ganzen Tag marschiert waren, gegen drei Uhr am Bahnhofe von la Houpe an. Zuerst herrschte dort eine furchtbare Unordnung und Verwirrung. Viele verließen die Reihen und zerstreuten sieh in der Stadt, die einige Kilometer vom Bahnhofe entfernt lag, andere verloren sich in die Wirtshäuser der Umgegend. Über eine Stunde lang bliesen die Trompeten das Signal zum Sammeln. Kavalleristen wurden nach der Stadt ausgeschickt, um die Flüchtlinge wieder zu holen und kamen erst spät, in betrunkenem Zustande, zurück. Es lief das Gerücht, in Nogent-le-Rotrou sei ein Eisenbahnzug bereit gestellt worden, der uns aufnehmen und nach Chartres führen sollte, welches von den Preußen bedroht sei, die auch, so hieß es, Maintenon geplündert hätten und in Jouy kampierten. Ein Eisenbahnbeamter, den unser Sergeant ausfragte, antwortete, er wisse von nichts, er habe von nichts gehört. Unser General, ein kleiner, dicker, untersetzter Alter, der sich vor Lebhaftigkeit kaum auf dem Pferde halten konnte, gestikulierte und schrie, galoppierte nach rechts und links und ließ sein Pferd unzählige Volten machen; er rollte wie eine Tonne auf seinem Reittier umher, unaufhörlich, mit dunkelviolettem Gesicht und aufgestrichenem Schnurrbart, die Worte wiederholend:

»Zum Henker! Zum Donnerwetter! … Zum Henker noch einmal!«

Darauf stieg er, von seinem Adjutanten unterstützt, vom Pferde, verwickelte sich aber dabei mit den Beinen in das Säbelgehänge, das hinter ihm her schleppte und nachdem er den Bahnhofsinspektor zu sich hatte rufen lassen, der ein sehr bestürztes Gesicht machte, schrie er ihn an:

»Und der Maire? zum Henker!« brüllte er. »Wo ist der Schurke? Führen Sie ihn her! … Was, will man mich hier zum Narren haben?«

Er keuchte vor Wut, stieß unverständliche Worte hervor, stampfte auf die Erde und überhäufte den Bahnhofsinspektor mit Schimpfworten. Endlich verschwanden sie beide, der eine mit trübseliger Miene, der andere mit wütenden Worten, in das Telegraphenbureau, und bald darauf klang ein ganz verrücktes, unaufhörliches, schwindelerregendes Geklingel zu uns heraus, von Zeit zu Zeit unterbrochen von der gellenden Stimme des Generals. Nach langem Hin- und Herreden entschloß man sich endlich uns kompagnieweise auf dem Perron aufzustellen, wo man uns in unbeweglicher Stellung stehen bleiben ließ, vor uns die Gewehrpyramiden und die abgeworfenen Tornister. Die Nacht war hereingebrochen, der Regen fiel, ein langsamer und kalter Regen, der das seine that, um unsere Mäntel vollends zu durchweichen, die schon von den Regengüssen des vergangenen Tages durchnäßt waren. Hie und da wurde das Bahngeleise von kleinen blassen Lichtern erhellt, die das Magazingebäude und die vielen Waggons, die von Soldaten auf das Rangiergeleise hinausgeschoben wurden, noch dunkler erscheinen ließen. Und der Krahn, der auf seiner Drehscheibe aufrecht dastand, zeichnete seinen langen, erschrockenen Giraffenhals scharf gegen den Himmel ab.

Außer dem Kaffee, den wir des Morgens eilig hinunterschluckten, hatten wir an dem Tage nichts genossen, und obgleich die ausgestandenen Strapazen uns den Körper arg mitgenommen hatten, und der Hunger uns den Magen zusammenzog, mußten wir uns zu unserem Schrecken klar machen, daß es auch keine Abendsuppe geben würde. Unsere Feldflaschen waren leer, unsere Vorräte an Biskuit und Speck zu Ende, und die Munitionswagen der Intendanz, die seit dem vorhergehenden Tage den Weg verloren hatten, waren noch nicht zur Kolonne gestoßen. Mehrere von den Soldaten fingen an zu murren und stießen laute Drohungen, aufrührerische Worte aus; aber die Offiziere, welche außerhalb der von den Gewehrpyramiden gebildeten Linie mit verdrießlichen Mienen auf- und abschritten, thaten, als hörten sie es nicht. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß der General wahrscheinlicherweise in der Stadt eine Ausschreibung von Lebensmitteln veranlassen würde. Vergebliche Hoffnung! Die Stunden verstrichen, der Regen plätscherte in einem fort auf unsere leeren, zinnernen Schüsseln, und der General hörte nicht auf, den Bahnhofsinspektor auszuschelten, der seinerseits fortfuhr sich an dem Telegraphen zu rächen, dessen Geklingel immer eiliger und toller wurde … Von Zeit zu Zeit hielten Züge an, von Soldaten überfüllt. Aus den Waggons, wo sie wie Vieh eingepfercht standen, stürzten Mobilgardisten und Jäger-zu-Fuß heraus, schmutzig und unordentlich aussehend, mit bloßem Kopfe und hängenden Halsbinden; einige von ihnen waren betrunken, das Käppi saß ihnen schief auf dem Kopfe. Alle stürzten auf den Schenktisch los, und einige verrichteten schamlos ihre Notdurft in freier Luft. Aus diesem Gewimmel von Menschenköpfen und Gestrampel von Truppen in den Waggons, hörte man Flüche, Singen der Marseillaise und unzüchtigen Refrains, vermischt mit dem Rufen der Schaffner, dem Klingeln der Telegraphenglocke und dem Schnaufen der Lokomotiven. Ich erkannte einen jungen Menschen aus Saint-Michel wieder, dessen Augen entzündet waren und eiterten, außerdem hustete er und spie Blut. Ich fragte ihn, wohin sie in diesem Zustande sollten. Er wußte von nichts. Sie waren des Nachts von Mans abgegangen, hatten zwölf Stunden in Connerré halten müssen, weil das Geleise versperrt gewesen, ohne etwas zu genießen, ohne sich in den vollgedrängten Waggons ausstrecken und schlafen zu können. Das war alles, was er wußte. Er hatte kaum die Kraft mehr zum Sprechen und war an den Schenktisch gegangen, um sich die Augen mit etwas warmem Wasser zu baden. Ich drückte ihm die Hand, und er sagte zu mir, er hoffe bei der ersten Affaire von den Preußen gefangen genommen zu werden … Der Zug setzte sich in Bewegung und verlor sich im Dunkeln, alle diese hohläugigen Gesichter und matten Körper, die bereits völlig besiegt waren, mit sich fortführend, und zu was für unnützen und blutigen Schlächtereien?

Ich schüttelte mich vor Kalte und Nässe. Unter dem eisigen Regen, der mir bis auf die bloße Haut ging, klapperten mir die Zähne im Munde, und ich hatte das Gefühl, als würden meine Gelenke nach und nach ganz steif. Ich benutzte die Verwirrung, die während der Ankunft eines Zuges entstand, um die offene Barriere zu erreichen und wieder auf den Weg hinaus zu flüchten, wo ich nach einem Hause, einem Zufluchtsorte spähte, in dem ich mich wärmen konnte, vielleicht ein Stück Brot finden oder sonst etwas. Die Wirtshäuser und Schenken in der Nähe des Bahnhofes waren von Schildwachen besetzt, die Order hatten, niemanden einzulassen … In der Entfernung von dreihundert Metern ungefähr gewahrte ich einen sanften Lichtschein, der aus zwei Fenstern in die Nacht hinausdrang. Dieses Licht machte auf mich den Eindruck zweier guten Augen, zweier Augen voller Mitleiden, die mich zu sich riefen, mir liebkosend entgegenlächelten … Es war ein kleines einsames Hans, das nur wenige Schritte abseits vom Wege lag … Ich lief hin … Ein Sergeant war, von vier Gemeinen begleitet, ins Haus gedrungen und tobte, fluchend und schimpfend, darin umher. Neben dem feuerlosen Herde sah ich einen Greis auf einem niedrigen Strohsessel sitzen, die Ellbogen aufs Knie gestützt, den Kopf in der Hand. Ein Licht, das in einem eisernen Leuchter brannte, erhellte die Hälfte seines Gesichts, das von tiefen Runzeln ganz durchfurcht war.

»Na, wirst Du uns bald Dein Holz ausliefern?« brüllte der Sergeant.

»Holz hebbe ik nich,« antwortete der Greis … »Et sünt alle acht Tage, dat de Soldaten her dörch tröken sind, dor hebben se mir allens nahmen … ok dat letzte büschen.«

Er sank noch tiefer auf seinem Stuhl zusammen und murmelte mit schwacher Stimme:

»Ick hebbe jo nix mehr … rein gar nix …«

Der Sergeant zuckte die Achseln. »Heh, die Kanaille will den Schlaukopf spielen? Was? Der Kerl versteckt sein Holz, um die Preußen damit zu erwärmen? Daraus wird nichts! Verstanden! Oder …«

Der Greis schüttelte den Kopf.

»Holz hebbe ik jo nich …«

Mit wütender Gebärde befahl der Sergeant den Soldaten das Haus zu durchsuchen. Vom Keller bis zum Boden durchspähten sie alles. Sie fanden aber nichts, nichts als die Spuren verübter Gewalt: zerschlagene Möbeln u. s. w. Im Keller, der noch feucht von ausgegossenem Apfelwein war, hatte man den Fässern den Boden ausgeschlagen, und überall lag stinkender und widerlicher Kot. Darüber wurde der Sergeant so erbittert, daß er den Kolben seines Gewehres auf den Boden stieß. »Alter Schmutzfinke,« brüllte er, »willst Du uns wohl sagen, wo Dein Holz steckt?« Und er schüttelte den Greis so derbe hin und her, daß dieser ins Schwanken geriet und beinahe gegen den eisernen Herd gefallen wäre.

»Holz hebbe ik jo nich,« wiederholte der arme Mann einfach.

»Heh! Will der störrisch sein! … Er hat kein Holz, sagt er! … Er hat ja aber Stühle hier, einen Schrank, einen Tisch, ein Bett … Sagst Du mir nun nicht gleich auf der Stelle, wo Dein Holz steckt, Alter, mache ich Feuer an mit dem, was da ist.«

Der Greis widersetzte sich nicht. Er wiederholte abermals, indem er seinen weißen, alten Kopf in die Höhe hob:

»Holz hebbe ik jo nich.«

Ich wollte mich dazwischen legen und stammelte einige Worte; aber der Sergeant ließ mich nicht ausreden, er sah mich von oben bis unten mit einem verächtlichen Blick an:

»Was hast Du hier zu thun, Grünschnabel!« sagte er zu mir … »Wer hat Dir erlaubt die Reihen zu verlassen, Du Rotznase Du! Marsch! Kehrt! Und das eins! zwei! drei! … Ta ra ta ta ra, ta ta ra! …«

Darauf erteilte er einen Befehl, und im Verlauf einiger Minuten waren Stühle, Tisch, Schrank und Bett in Stücke zerschlagen. Der Bauer erhob sich schwerfällig und zog sich in den Hintergrund des Zimmers zurück, wo er in einer Ecke niederhockte; und als das Feuer aufflammte, während der Sergeant, aus dessen Mantel und Hosen es dampfte, sich lachend am knisternden Feuer erwärmte, wiederholte der Alte, der mit stoischem Blick seine letzte Habe brennen sah, unaufhörlich und hartnäckig:

»Holz hebbe ik jo nich.«

Ich hatte bald den Bahnhof wieder erreicht.

Der General kam kurz darauf, beweglicher, zorniger, dunkelvioletter denn je, aus dem Telegraphenbureau heraus. Er gab irgend eine Order, und sofort entstand eine große Bewegung. Man hörte Säbelgerassel; Stimmen riefen und antworteten, Offiziere liefen nach allen Richtungen, und die Trompeten bliesen. Ohne etwas von diesem Gegenbefehl zu verstehen, mußten wir den Tornister auf den Rücken schnallen und das Gewehr auf die Schulter nehmen.

»Vorwärts! … Marsch! …«

Mit vor Unbeweglichkeit erstarrten Gliedern, sausendem Kopfe, uns gegenseitig hin und her stoßend, nahmen wir unseren atemlosen Lauf durch die Nacht, im strömenden Regen, im nassen Schmutze, wieder auf. Rechts und links erstreckten sich die in tiefes Dunkel gehüllten Felder, aus denen die Apfelbäume ihre knorrigen Äste wie klagend gegen den Himmel emporhoben. Ab und zu bellte in weiter Ferne ein Hund … Dann kamen dichte Forsten, ein finsterer Hochwald, der sich an beiden Seiten des Weges wie eine Mauer um uns erhob. Darauf wieder schlafversunkene Dörfer, durch die unsere Schritte unheilverkündend wiederhallten, und wo an den schnell geöffneten und schnell wieder geschlossenen Fenstern der unbestimmte Umriß einer weißen, erschrockenen Gestalt sichtbar wurde … Und wiederum folgten Felder, wiederum Wälder, wiederum Dörfer … Kein Lied, kein Wort – ein ungeheures Schweigen, von dem Rhythmus eines dumpfen Fußgetrappels begleitet. Die Riemen des Tornisters schnitten mir ins Fleisch hinein, das Gewehr lag wie ein glühendes Eisen auf meiner Schulter … Einen Augenblick kam es mir vor, als sei ich vor einem mächtigen, mit Steinblöcken beladenen, im Moraste stecken gebliebenen Wagen gespannt; es war mir, als zerhaute der Fuhrmann mir die Beine mit Peitschenhieben. Mit eingesunkenen Knieen, gekrümmtem Rücken, vorgestrecktem Halse, fast erdrosselt von dem Halfter, mit stöhnender Brust, zog ich, zog ich … Bald aber kam der Augenblick, wo ich von nichts mehr Bewußtsein hatte. Ich marschierte weiter, mechanisch, blöde, wie in einem Traum … Sonderbare Hallucinationen zogen an mir vorüber … Ich sah eine sich weithin erstreckende Lichtstraße vor mir, mit prachtvollen, strahlenden Palästen geschmückt … Große scharlachrote Blumen schaukelten im weiten Raume ihre Kelche hoch oben auf schlanken, biegsamen Stengeln, und vor mächtigen, mit frischen Getränken und erquickenden Früchten angefüllten Tischen jauchzte und sang eine frohe Menschenmenge … Frauen mit bauschigen Gazeröcken tanzten auf erleuchteten Rasenflächen nach den Klängen unzähliger Orchester, die ringsum in Gebüschen angebracht waren, deren zierliche herabhängende Blätter und leuchtend-weiße Jasminblüten von Springwassern erfrischt wurden.

»Halt!« kommandierte der General.

Ich stand still, und, um nicht plötzlich umzusinken, mußte ich mich am Arme eines Kameraden festhalten … Ich erwachte vollends … Alles war schwarz. Wir hatten den Eingang eines großen Waldes erreicht, in der Nähe eines kleinen Weilers, wo der General und mehrere von den Offizieren bald darauf ein Quartier fanden … Als das Zelt aufgeschlagen war, machte ich mich sofort daran, meine wundgeschundenen Füße mit einem Stückchen Talglicht zu verbinden, das ich mir in meinem Brotbeutel aufbewahrt hatte; darauf streckte ich mich wie ein armer, erschöpfter Hund auf der durchnäßten Erde aus und fiel in einen tiefen Schlaf. Während der Nacht kamen unaufhörlich Kameraden im Lager an, die unterwegs vor Ermattung liegen geblieben waren und jetzt zu uns stießen. Von fünfen aber hat man nie etwas wieder gehört, sie blieben verschollen. Bei jedem mühsamen Marsche geschah das übrigens immer; einige, die schwach oder krank waren, krochen in die Gräben hinunter und starben dort, andere desertierten …

Am nächsten Morgen wurde mit Sonnenaufgang Reveille geblasen. Die Nacht war sehr kalt gewesen; es hatte unausgesetzt geregnet, und es war nicht möglich gewesen uns zum Schlafen die geringste Unterlage von Stroh oder Heu zu verschaffen. Es wurde mir furchtbar schwer das Zelt zu verlassen; einen Augenblick mußte ich mich auf die Kniee legen und auf allen vieren vorwärtskriechen, da meine Beine mich nicht tragen wollten. Meine Glieder waren eisig und so steif wie Eisenstangen; es war mir nicht möglich meinen Kopf auf dem gelähmten Halse zu bewegen, und meine Augen, die schmerzten wie von unzähligen kleinen Nadeln gestochen, hörten nicht auf zu thränen. Gleichzeitig fühlte ich in den Schultern und Hüften einen heftigen, stechenden, unausstehlichen Schmerz. Ich bemerkte, daß meine Kameraden nicht besser daran waren als ich. Mit verzogenen Gesichtern, erdfahler Hautfarbe, kamen sie aus den Zelten heraus; einige hinkten fürchterlich, andere gingen krummgebeugt, mit schwankenden Schritten, jeden Augenblick über die Heidekrautbüschel strauchelnd: alle beschmutzt, alle jämmerlich und verkrüppelt. Ich sah mehrere, die sich, von heftigen Kolikschmerzen überfallen, laut winselnd auf der Erde wanden. Andere wieder schüttelten sich vor Fieber, und die Zähne klapperten ihnen im Munde. Um sich herum hörte man nur trockenen, die Brust zerreißenden Husten, pfeifendes, beschwerliches Atemholen, Röcheln und Jammern. Ein Hase flog mit zurückgelegten Ohren, aufgeschreckt, aus seinem Schlupfwinkel heraus – keiner dachte daran ihn zu verfolgen, wie wir es wohl sonst gethan … Als der Appell vorüber war, wurden Lebensmittel ausgeteilt, denn endlich war es der Intendanz gelungen, die Brigade wieder aufzufinden … Wir machten uns eine Suppe, die wir gierig verschlangen, als wären wir verhungerte Hunde gewesen.

Mir war sehr schlecht zu Mute. Nach der Suppe hatte ich eine sonderbare Betäubung gespürt, die bald von heftigem Erbrechen gefolgt wurde, und ein Fieberfrost schüttelte meinen Körper. Alles um mich drehte sich im Kreise herum … Die Zelte, die Bäume, die Ebene, der kleine Weiler dort unten, dessen Schornsteine ihren Rauch in den Nebel sandten, und der Himmel, an dem die Wolken schwarz und tief hingen. Ich erbat mir vom Sergeanten die Erlaubnis, mich zur ärztlichen Untersuchung zu begeben.

Die Zelte erstreckten sich in zwei Reihen, so daß sie rückwärts vom Walde gedeckt waren, an beiden Seiten der Landstraße von Senonches, die mittels eines großartigen Durchhiebes durch einen Forst von alten Eichen, einen Ausgang ins Land hinein findet. In der Entfernung von dreihundert Metern durchschneidet sie erst die Landstraße von Chartres, etwas weiter hin den kleinen Weiler Bellomer und führt endlich nach la Loupe fort. Am Kreuzwege, der durch diese beiden Landstraßen gebildet wird, stand ein baufälliges, strohbedecktes Häuschen, eigentlich nur ein verlassener Schuppen, das den Chausseewärtern während des Regens zum Schutzorte diente. Dort hatte der Feldscher ein improvisiertes Lazarett errichtet, das man an der Fahne mit dem Genfer-Kreuz erkannte, die, in einer Mauerspalte aufgepflanzt, das Häuschen zierte. Viele Menschen standen wartend davor. Es war ein langer Zug von bleifarbigen, abgezehrten Wesen, die entweder aufrecht standen, mit großen, leeren Augen vor sich hinstierend, oder auf der Erde hockten, die spitzen Schulterblätter in die Höhe gezogen, den Köpf in die Hand gestützt. Der Tod hatte bereits seine furchtbare Klaue in diese abgezehrten Gesichter, fleischlosen Körper und blutleeren, mark- und kraftlosen Glieder geschlagen. Bei diesem herzzerreißenden Anblick vergaß ich meine eigenen Leiden, und es befiel mich eine unendliche Traurigkeit. So hatten drei Monate hingereicht, um diese robusten Körper niederzuwerfen, die doch an Arbeit und Anstrengung gewöhnt waren! … Drei Monate! Und diese jungen Leute, die das Leben liebten, die in den friedlichen Feldern träumerisch aufgewachsen waren, auf die allgütige, allernährende Natur vertrauend, für sie sollte das Leben für immer aus sein! Dem Matrosen, der da stirbt, giebt man das Meer als Totengruft; er gleitet, gewiegt von den singenden Wogen, ins ewige Dunkel hinab … Aber diese! … In wenigen Tagen vielleicht, werden diese armen Barfüßler plötzlich in den Schmutz eines Grabens sinken, das Gesicht an die Erde gedrückt verscheiden, und den spitzen Zähnen herumstreifender Hunde, den Klauen nächtlicher Vögel zur Beute fallen. In mir stieg ein solches Gefühl von brüderlichem und schmerzlichem Erbarmen auf, daß ich alle diese traurigen Gestalten in einer Umarmung an meine Brust hätte drücken mögen, und ich wünschte – ach! mit welch heißem Verlangen wünschte ich es! – wie Isis hundert milchschwellende Brüste zu haben, um sie allen diesen blutlosen Lippen hinreichen zu können … Sie traten, einer nach dem anderen, in das Haus ein und kamen sofort, von einem lauten Fluchen begleitet, wieder heraus … Im übrigen kümmerte sich der Wundarzt nicht weiter um sie. Sehr ärgerlich forderte er von einem Krankenwärter seine Feldapotheke, die man zwischen dem Gepäck nicht hatte finden können.

»Herrgott im Himmel! Meine Apotheke!« schrie er. »Wo ist meine Apotheke? Und mein Besteck? … Wo in aller Welt habe ich mein Besteck gelassen? … Herrgott noch einmal!«

Ein kleiner Mobilgardist, der an einem Geschwür am Knie litt, kam weinend, auf einem Fuße hüpfend, zurück, indem er sich vor Verzweiflung die Haare ausriß. Man hatte ihn nicht untersuchen wollen. Als ich an die Reihe kam, zitterte ich stark. Im Hintergrunde des finsteren Raumes lagen, eng auf einem Strohhaufen zusammengekauert, vier Kranke, die im Todeskampfe röchelten; ein fünfter gestikulierte eifrig und sprach im Fieber unzusammenhängende Worte; ein anderer wieder hatte sich halb aufgerichtet, aber der Kopf sank ihm auf die Brust zurück. Er bat mit einer schwachen klagenden Stimme, die wie eine Kinderstimme klang, um etwas zu trinken. Vor dem Kamin kniete ein Krankenwärter, der am Ende eines Stockes, über dem Feuer, ein Stück knisternde Blutwurst röstete, deren brennender Fettgestank das Zimmer verpestete. Der Bataillonsarzt sah mich kaum an, er schimpfte:

»Was will denn der Kerl hier! Bummeln wollen sie, alle miteinander! … Zehn Meilen laufen, Faulpelz, das wird Dich wieder herstellen … Weiter! Marsch! Kehrt!«

Auf der Thürschwelle begegnete mir eine Bauersfrau, die mich fragte:

»Mit Verlöf, wahnt hier de Herr Doktor?«

»Potz Blitz! kommen jetzt auch noch die Frauenzimmer!« brummte der Bataillonsarzt … »Heh, was wollt Ihr, schnell!«

»Ach! entschuldigen Sei man, Herr Doktor,« fing die Bäuerin an, indem sie sich schüchtern näherte. »Ik kame von wegen min Sähn, dei doch Soldat is.«

»Ja, wie ins Himmels Namen soll ich wissen, wo Euer Sohn steckt, Altsche!«

Die Bäuerin faltete ihre beiden Hände über dem Griff ihres Regenschirms, und ihre ängstlichen Blicke gingen suchend im Zimmer umher.

»Ik glöbe, hei is sihr krank, min Sähn, sihr krank … Ik wulle man fragen, ob Sie nich … Wil dat doch Ehre Sak is, Herr Doktor!«

»Wie heißen Sie?«

»Ik bin Frau Ribolleau.«

»Ribolleau … Ribolleau! … Es ist möglich … Sehen Sie mal zu, dahinten …«

Der Krankenwärter, der seine Blutwurst röstete, wandte den Kopf.

»Ribolleau? …« sagte er. »Ja, der ist tot, seit drei Tagen …«

»Gott im Himmel, was seggen Sei do?« schrie die Bäuerin, deren braungebranntes Gesicht plötzlich erblaßte … »Wo is dat kamen? … Tot! Min arme leive Jung!«

Der Bataillonsarzt kam dazwischen, und indem er die Frau mit brutalem Griff vor die Thür setzte, schrie er:

»Keine Scene hier! Sie haben's ja gehört, er ist tot, und damit gut! …«

»Min leive Jung! Min lüt leive Jung!« klagte die Frau, daß es einem in die Seele schnitt.

Ich entfernte mich mit schwerem Herzen, so mutlos, daß ich mich fragte, ob es nicht besser sei, dem Ganzen sofort ein Ende zu machen, indem ich mich entweder an einem Baum aufhängte oder mir eine Kugel durch den Kopf jagte. Während ich nach meinem Zelt zurückstolperte, die verzweifeltsten Pläne in meinem Kopfe hin und her wälzend, hatte ich noch eben Zeit, den kleinen Mobilgardisten zu beachten, der sich am Fuße einer Föhre niedergelassen und mit einem Messer selbst das Geschwür geöffnet hatte. Er saß jetzt und verband, leichenblaß, mit schweißtriefender Stirn, die Wunde, aus der das Blut hervorrieselte.

Der Tag wurde besser, als ich gedacht. Ich hatte das Glück zu keiner Arbeit abkommandiert zu werden, und nachdem ich mein Gewehr, das vom Regen rostig geworden, geputzt hatte, genoß ich einige Stunden wunderbarer Ruhe. Auf meiner Decke ausgestreckt, versunken in einen wonnigen Zustand des halben Schlafens, in dem ich aber deutlich das Geräusch des Lagers unterschied – das Blasen der Trompeten, das ferne Wiehern eines Pferdes – dachte ich an die Wesen und Dinge, die ich verlassen hatte. Tausend Gesichter und tausend Landschaften flogen schnell an meinen Augen vorüber … Ich sah die Priorei wieder, meine tote Mutter, meinen Vater, mit seinem breitränderigen Strohhut, und den kleinen flachshaarigen Betteljungen, und Felix in den Beeten zwischen dem Lattich liegend, auf der Jagd nach einem Maulwurf. Ich sah mein kleines Studentenzimmer in Paris wieder, meine Studiengenossen, und mitten aus dem Lärm des Ball Bullier heraus, Nini, betrunken, mit wirren Haaren, mit Lippen, die purpurrot waren und einem Chignon, der fuchsrot war, mit rosenroten Strümpfen, die im Cancan wie unzüchtige Blumen unter den emporgeworfenen Röcken hervorlugten. Darauf folgte das Bild einer unbekannten Frau in malvenfarbigem Kleide, die ich eines Abends im Theater im Schatten einer Loge gesehen, und die mich seitdem hartnäckig, wie eine mir liebgewordene, sanfte Vision, überall hin begleitete.

Unterdessen waren die kräftigsten unter uns ins Land hinausgezogen, um die Bauernhöfe der Umgegend zu durchstöbern. Sie kamen zurück in ausgelassener Stimmung, beladen mit Strohbündeln, mit Hühnern, Puten und Enten. Einer trieb mit Stockschlägen ein fettes, grunzendes Schwein vor sich her, ein anderer balancierte ein Schaf auf seinen Schultern; ein dritter wieder schleppte an einem von Weidenzweigen zusammengedrehten Strick ein komisch-widerspenstiges Kalb, das brüllend sein Maul aufsperrte. Die heimgesuchten Bauern kamen ins Lager angelaufen, um sich über den Diebstahl zu beklagen; sie wurden ausgepfiffen und weggejagt.

Am Nachmittage kam der General an, von unserem Oberstlieutenant begleitet, der sich sehr steif und ehrerbietig ihm zur Rechten hielt, um die Truppen zu mustern. Sein leuchtender Blick, seine flammende Gesichtsfarbe und breiige Stimme verrieten, daß er reichlich gefrühstückt hatte. Er kaute an einem ausgegangenen Cigarrenstummel, spuckte aus, pustete, wetterte, man wußte nicht gegen wen und was, denn er wandte sich an niemanden direkt. Als er vor unserer Kompagnie stand, sah er den Oberstlieutenant mit strenger Miene an, und ich hörte ihn schelten: »Zum Henker noch einmal, sehen die aber schlecht aus, Ihre Leute!«

Darauf entfernte er sich, indem er sich mit dem ganzen Gewicht seines Bauches auf die kurzen Beine stützte, die in gelben Stiefeln steckten, über denen die rote Hose sich wie ein Weiberrock aufbauschte und in Falten legte.

Der Rest des Tages wurde dazu benutzt, die Wirtshäuser von Bellomer aufzusuchen. Überall war es zum Brechen voll, und überall gab es einen furchtbaren Lärm; im übrigen kannte ich diese Feldzüge gegen die Kneipen und diese wütenden Sturmläufe auf den Alkohol, welche sehr oft in allgemeine Schlägereien ausarteten, zu gut, als daß ich es nicht vorgezogen hätte mit einigen friedlichen Kameraden auf die Landstraße hinauszuwandern, fern von dem Tumult. Das Wetter hatte sich gerade etwas beruhigt; eine blasse Sonne schien vom wolkenlosen Himmel auf uns herab. Wir setzten uns auf eine Böschung und krümmten den Rücken unter den wärmenden Sonnenstrahlen, wie eine Katze unter der liebkosenden Hand. Es fuhren ununterbrochen schwer beladene Wagen an uns vorüber, zweirädrige Karren, große Lastwagen, Bauerwagen mit Leinwandverdeck, Kippkarren von Mauleseln gezogen. Es waren die Bauern aus der Ebene um Chartres herum, die sich vor den Preußen flüchteten. Ganz verstört durch die Berichte, die von Dorf zu Dorf getragen wurden, von den grausamen Gewaltthaten der Deutschen, von ihrem Niederbrennen, Ausplündern und Niedermetzeln in den Gegenden, wo sie vorwärtsgedrungen, hatten sie in größter Eile alles fortgeschleppt, was sie an wertvollen Sachen besaßen, hatten Haus und Hof verlassen und zogen jetzt des Weges daher, geradeaus, ohne zu wissen wohin. Des Abends machten sie Halt, wo es gerade paßte; mitunter neben einem kleinen Weiler, mitunter auf offener Landstraße lagernd. Die ausgespannten und an den Füßen gefesselten Pferde grasten am Rande der Gräben, die Bauern aßen und schliefen, auf Gottes Gnade vertrauend, von den Hunden behütet, in Regen und Sturm, im kalten Nebel der eisigen Nächte. Am nächsten Morgen wanderten sie dann weiter. Ohne Ende folgten Menschen und Tiere, herdenweise, auf einander. Sie zogen an uns vorüber, und auf der großen gelben Hauptstraße erblickte man den schwarzen, kläglichen Zug der Flüchtlinge, wie er sich dahin schlängelte bis weit hinten, wo die Steigung des Weges den Horizont abschloß. Wie eine massenhafte Auswanderung war es anzusehen. Ich befragte einen alten Bauersmann, der einen Eselwagen führte, in dem, zwischen aus Taschentüchern geknoteten Bündeln mit Kohl und Rüben, eine plattnasige Bauerndirn, zwei rosige Schweine und ein paar an den Füßen zusammengebundene Hühner, auf einem Strohlager herumkrabbelten.

»Die Preußen sind also bei Euch?« fragte ich.

»Oh, dei Räubers!« antwortete der Alte. »Spräken Se man blot nich von dei! Dei sein kamen, up en mal wären se da! So'ne Bande, mit Federwischen uppen Kop … Un den Spektakel, den dei makten! Ack Jeses, ne! Un alles hebben sei wegstiebitzt … Erst glöbten wi, dat wären dei Preußens, aber ne, Franc-tireurs wären et!«

»Aber die Preußen, Alter, wo sind denn die Preußen jetzt?«

»Dei Preußens, … jo von wegen dei Preußens, ik hebbe noch keine seien … Abers nu waren se ja wool bald kamen, nich? … Hanne seggt, dat sei einen seien harre, den annern Dag, achter en Taun! … Hei wör mächtig grot, un utsähen harre as de Dübbel, seggt sei! … Dat sien jo Verrückte, wilde Biester, Gespenster, nich? … Jo, seggen Sei blot, wat sünt se denn eigentlich, diesse Preußens?«

»Es sind Deutsche, mein guter Mann, wie wir Franzosen sind, versteht Er.«

»Dütsche? … Jo frilig, düt verstah ik. Abers Herr Militär, mit Verlöf, wat willen sei denn blot von uns, die verfluchtigen Dütschen? … Ik hebbe man flink mine Diern, mine Sauen, un de Höhner mitnahmen … Gutt's dunner, ja!«

Und der Bauer setzte seinen Weg fort, für sich wiederholend:

»Dütsche! Dütsche! … Wat willen sei blot, diesse verfluchtigen Dütschen!«

Am Abend wurden vor der ganzen Zeltlinie Feuer angemacht, und auf den Herden, die hastig von Erde und Steinen aufgemauert worden, brodelten die Kessel lustig, voll frischen Fleisches. Für uns war es eine entzückende Stunde des Ausruhens, des seligsten Vergessens. Ein sanfter Friede schien vom Himmel, der dunkelblau im Mondschein von tausend Sternen glänzte, sich auf uns herniederzusenken; die Felder, die sich in weichen Wellenlinien weit dahin erstreckten, hatten ein sonderbar wehmütiges, sanftes Aussehen, das unsere Seele weich stimmte, unsere schmerzenden Glieder mit einem weniger heißen Blute durchdrang und uns neue Kräfte verlieh. Nach und nach verlöschte die Erinnerung, die uns doch noch so nahe lag, an unsere Leiden, an unsere Mutlosigkeit, und gleichzeitig mit dem Pflichtbewußtsein erwachte in uns ein Bedürfnis thätig zu sein. Eine ungewohnte Lebhaftigkeit herrschte im Lager. Ein jeder machte sich eifrig an irgend eine freiwillige Arbeit. Einige liefen, einen Brand in der Hand, das erloschene Feuer wieder anzünden, andere bliesen auf die ersterbende Flammenglut, um sie anzufachen, oder verlasen Gemüse und schnitten Fleisch in Stücke. Mehrere Kameraden schlossen einen Kreis um einige rauchende Holzscheite und stimmten mit spöttischer Stimme das Lied an: »Hast Du Bismarck gesehen?« Die Empörung, die Tochter des Hungers, schwand dahin beim Brodeln der Kochkessel und beim Klirren der zinnernen Schüsseln.

Als am folgenden Morgen der letzte von uns beim Aufrufen seines Namens: »Hier!« geantwortet hatte, kommandierte der kleine Lieutenant: »Schließt den Kreis!« und mit holperiger Stimme, über die Worte stolpernd und ganze Sätze überspringend, verlas der Quartiermeister einen pompösen »Tagesbefehl« des Generals. In diesem militärischen Stück Literatur hieß es, daß ein preußisches Armeekorps, nachdem es Chartres belagert hatte, ausgehungert, schlecht bekleidet und ohne Waffen, in forcierten Tagesmärschen auf uns losrücke. Man müsse ihnen den Weg versperren, sie bis an die Mauern von Paris zurückwerfen, wo der tapfere Ducrot nur auf uns warte, um einen Ausfall zu machen und ein für allemal das Land vom Feinde zu säubern. Der General rufe uns die Siege der Revolution, den Feldzug nach Ägypten, Austerlitz, Borodino, ins Gedächtnis zurück. Er hoffe fest, wir würden uns unseren Vorfahren von Sambre-et-Meuse würdig zeigen. Demnach gäbe er uns genaue strategische Instruktionen, wie wir das Land zu verteidigen hätten, nämlich: westlich vom Weiler eine unübersteigliche Barrikade bauen, eine zweite, noch unübersteiglichere, auf der Landstraße nach Chartres, beim Kreuzwege. Ferner seien die Mauern des Kirchhofes niederzureißen und so viel Bäume wie möglich im Walde umzuhauen, damit der feindlichen Kavallerie, ja selbst der Infanterie, die Möglichkeit genommen sei uns bei Senonches einzuschließen, indem sie durch den Hochwald marschierten. Ferner: solle man sich vor Spionen in acht nehmen, Ohren und Augen offen halten … »Das Vaterland verläßt sich auf Euch! … Es lebe die Republik!«

Dieser Ruf blieb ohne Wiederhall. Der kleine Lieutenant, der im Kreise herumschritt, die Hände auf dem Rücken gefaltet, die Augen hartnäckig auf die Spitze seiner Stiefel gerichtet, erhob den Kopf nicht. Wir blickten einander bestürzt an, mit angsterfülltem Herzen, daß die Preußen so nahe waren, daß morgen, ja heute vielleicht, der Krieg für uns anfangen sollte, und in einer plötzlichen Vision sah ich den Tod, den roten Tod, aufrecht in einem Karren stehend, der von wilden, sich bäumenden Pferden gezogen wurde; er stürzte auf uns los, indem er seine Sense schwang. Solange die Schlacht fern war, hatten wir sie herbeigewünscht, aus patriotischer Begeisterung anfangs, später aus Prahlerei, und schließlich aus Abspannung, Erschlaffung, als das Ende unserer Leiden. Jetzt, wo sie uns entgegentrat, hatten wir Angst vor ihr, zitterten wir schon beim bloßen Namen. Instinktiv hefteten meine Augen sich auf den Horizont, nach der Richtung von Chartres. Und die Gegend schien mir ein Geheimnis zu enthalten, etwas Furchtbares und Gewaltiges, etwas Unbekanntes, das den Dingen ein neues Gepräge von Unerbittlichkeit gab. Dort hinten, über der bläulichen Nebellinie der Bäume, erwartete ich plötzlich Pickelhauben hervortauchen, Bajonnette glänzen, und aus den donnernden Mündungen der Kanonen, Feuer aufblitzen zu sehen. Ein umgepflügtes Feld, das von der Sonne dunkelrot beschienen wurde, machte auf mich den Eindruck einer ungeheuren Blutlache; die Hecken breiteten sich aus, zogen sich wieder zusammen und kreuzten sich, gleich wie Regimenter mit Waffen und Fahnen, die sich zur Schlacht vorbereiten. Die Apfelbäume kamen mir verstört und aufgescheucht vor, wie Kavalleristen, die in wildester Flucht dahinsprengten.

»Tretet ab! … Marsch!« kommandierte der Lieutenant.

Gequält von dem Gefühl eines unbestimmten Mißbehagens, rührten wir uns, ganz stumpf geworden, mit schlaffen, hängenden Armen dastehend, lange nicht von der Stelle, indem wir mit den Gedanken versuchten, jene entsetzliche Linie des Horizonts zu überschreiten, hinter der unser geheimnisvolles Schicksal vollzogen werden sollte. Während dieses angstvollen Schweigens, während dieser düsteren Unbeweglichkeit, zogen die Wagen, die Menschenscharen, die Viehherden, immer zahlreicher und eiliger vorwärtshastend, unablässig auf der Landstraße an uns vorüber. Ein Schwarm von Raben, der wie eine schwarze Avant-Garde von dort unten angeflogen kam, verfinsterte den Himmel über uns. Er schwoll an und breitete sich weithin wie ein Trauerschleier über unseren Köpfen aus, flatterte langsam herunter und verschwand in den Wipfeln der Eichen.

»Na, endlich werden wir also diese berühmten Preußen zu sehen bekommen!« sagte mit unsicherer Stimme ein großer Teufel, der sehr blaß aussah, aber sein Käppi, um sich das flotte Aussehen eines alten Haudegens zu geben, schief auf sein Ohr gesetzt hatte.

Niemand antwortete, und mehrere entfernten sich still. Unser Korporal aber zuckte die Achseln. Es war ein ganz kleiner Mensch mit einem frechen, pockennarbigen Gesicht voller Finnen.

»Meinetwegen!« … sagte er.

Er vollendete seinen Gedanken mit einer cynischen Geberde, ließ sich auf das Haidekraut nieder, stopfte langsam seine Pfeife und zündete sie an.

»Ich scheiß' drauf!« schloß er, indem er eine Rauchwolke ausstieß, die in der Luft zerging.

Während eine Kompagnie von Jägern nach dem Kreuzwege hinbefohlen wurde, um dort die »unübersteiglichen Barrikaden« aufzubauen, drang mein Regiment in den Wald hinein, um hier »so viel Bäume wie möglich« umzuhauen. Alles was an Holzäxten, an Handbeilen und Hacken in der Umgegend aufgetrieben werden konnte, wurde als dringend notwendig requiriert; man benutzte als Handwerkszeug, was sich eben vorfand. Während des ganzen Tages hallten die Schläge im Walde wieder und fielen die Bäume. Um uns anzufeuern wohnte der General der Niedermetzlung persönlich bei.

»Zum Henker noch einmal!« schrie er bei jeder Gelegenheit und klatschte dabei in die Hände. »Frisch drauf los, Jungens! Kappt mir den da!«

Er bezeichnete selber zwischen den Bäumen die, welche den höchsten Stamm hatten, welche gerade und schlank, wie Tempelsäulen, gewachsen waren. Jedes Mal, wenn die großen Bäume mit gewaltigem Gekrache über einander hinschlugen, gab es eine tolle, tierische Freude, eine verbrecherische und dumme Wut der Vernichtung. Der Hochwald lichtete sich: da lag er, wie von einer gigantischen und übernatürlichen Sense hingemäht. Zwei Mann wurden bei dem Sturze einer Eiche getötet.

»Frisch drauf los, Jungens! Vorwärts!«

Und die wenigen Bäume, die noch zwischen den zu Grunde gerichteten, an der Erde liegenden Stämmen mit den zerschundenen Zweigen, die sich wie ebenso viele flehende Arme emporstreckten, aufrecht dastanden, zeigten tiefe Wunden, klaffende und rote Einschnitte, aus denen der Saft wie Thränen herausrieselte. Der Oberförster, der durch einen Waldhüter benachrichtigt worden, kam von Senonches herbeigeeilt und konstatierte mit schmerzlichem Blick diese unnütze Verheerung. Ich stand dicht neben dem General als er sich ihm ehrerbietig, die Mütze in der Hand, näherte.

»Entschuldigen Sie, Herr General,« sagte er … »daß Sie die Bäume am Rande der Landstraßen fällen lassen, daß Sie die Linien verbarrikadieren lassen, das verstehe ich … aber hier, mitten im Herzen des Waldes roden zu wollen, das scheint mir ein wenig …«

Der General unterbrach ihn:

»Heh? Was? Es scheint Ihnen? … Was geht Sie das an? … Ich thue, was ich will, verstehen Sie? … Wer hat hier zu befehlen, Sie oder ich?«

»Aber Herr General …« stotterte der Forstmann.

»Bleiben Sie mir vom Halse mit Ihrem »Aber« mein Herr! … Sie langweilen mich mit Ihren dummen Geschichten! Fort mit Ihnen! … Machen Sie schnell, daß Sie nach Senonches zurückkommen, oder ich lasse Sie ins Loch stecken … Frisch drauf los, Jungens!«

Der General drehte dem bestürzten Beamten den Rücken zu und verließ den Wald, indem er mit der Spitze seines Stocks die toten Blätter und abgehauenen Zweige vor sich herjagte.

Die Jäger ihrerseits hatten, während wir den Wald entheiligten, die Hände nicht in den Schoß gelegt, und die Barrikade erhob sich mächtig und hoch, die Landstraße vor dem Kreuzwege absperrend. Es war nicht ohne Schwierigkeiten und vor allem nicht ohne Lustigkeit vor sich gegangen. Als die Bauern sich plötzlich in ihrer Flucht durch einen Laufgraben behindert sahen, der ihnen den Weg abschnitt, protestierten sie heftig. Ihre Wagen und Viehherden häuften sich auf der Landstraße an, die gerade an dieser Stelle gedrängt voll war, und es entstand eine furchtbare Verwirrung. Die Männer schimpften, die Frauen wimmerten, das Vieh brüllte, und die Soldaten lachten über die verstörten Mienen von Menschen und Tieren; der Hauptmann endlich, der die Abteilung kommandierte, wußte nicht, welchen Entschluß fassen. Verschiedentlich amüsierten sich die Soldaten damit, die Bauern scheinbar mit den Bajonetten zurückwerfen zu wollen, aber das machte diese nur noch störrischer; sie schrieen auf, daß sie passieren wollten und beriefen sich darauf, daß sie doch Franzosen seien.

Als der General seine Runde im Walde beendigt hatte, kam er, um die Barrikadenarbeiten zu inspizieren. Er fragte, wer diese schmierigen Zivilisten seien, und was sie wollten. Man setzte ihm die Sache auseinander.

»Gut!« schrie er. »Ergreift mir alle die Wagen dort und werft sie auf die Barrikade hinauf! Frisch drauf los! Vorwärts, Jungens!«

Die Soldaten, denen dieser Angriff willkommen war, stürzten sich auf die ersten Wagen, die mitsamt ihrem Inhalt verlassen wurden und zertrümmerten sie mit einigen Hieben ihrer Hacken …

Nun entstand eine wahre Panik unter den Bauern. Das Gedränge auf der Landstraße wuchs, sie konnten weder vorwärts noch rückwärts. Indem sie mit den Fäusten auf die Pferde loshauten, suchten sie ihre eingespannten Karren loszukriegen; sie fluchten und schimpften und schubsten sich, ohne daß es ihnen gelang einen Schritt weiter zurück zu kommen. Die zuletzt Angekommenen, deren Pferde vom Lärm scheu wurden, kehrten plötzlich um und flüchteten im wildesten Galopp. Die Anderen, die die Hoffnung aufgegeben, von den Wagen und Lebensmitteln etwas zu retten, faßten schnell einen Entschluß; sie krochen die Böschung des Weges hinan und entflohen durch die Felder, indem sie laute Rufe der Empörung ausstießen, die von den Soldaten durch große, ihnen nachgeschleuderte Erdklumpen beantwortet wurden. Man häufte die zerschlagenen Wagen aufeinander, man stopfte die Lücken zu mit Hafersäcken, Matratzen, Packsäcken und Steinen. Auf der Spitze der Barrikade, am Ende einer Wagendeichsel, die wie ein Fahnenschaft gerade in die Luft hinausragte, befestigte ein kleiner Jäger ein Brautbouquet, das man zwischen den Sachen der Bauern aufgefunden hatte.

Gegen Abend kamen scharenweise Mobilgardisten aus Chartres an, die sich in Bellomer und im Lager verbreiteten. Ihre Berichte waren furchterregend. Die Preußen zählten mehr als hunderttausend Mann, eine ganze Armee. Und unsere Truppen, die kaum zweitausend Mann zählten und keine Kavallerie, keine Kanonen hatten, hätten sich zurückziehen müssen. Chartres stände in Flammen, die Dörfer in der Umgegend lägen in Asche, die Bauernhöfe wären geplündert und niedergebrannt. Das Gros der französischen Abteilung, welche den Rückzug deckte, müsse bald ankommen. Man fragte die Flüchtlinge aus, ob sie Preußen gesehen, wie sie aussähen und verlangte genaue Beschreibung der Uniformen. Von Viertelstunde zu Viertelstunde erschienen neuangekommene Mobilgardisten, jetzt gruppenweise, zu dreien, zu vieren, mit bleichen, erschöpften Mienen. Die Meisten hatten keinen Tornister, einige kein Gewehr, und alle erzählten die haarsträubendsten Geschichten. Man entschloß sich, sie in der Kirche unterzubringen, zum größten Ärgernis des Pfarrers, der die Arme gen Himmel hob und ausrief:

»Heilige Jungfrau! … In meiner Kirche! … Ach, ach, ach … Soldaten in meiner Kirche!«

Bisher hatte der General, der einzig und allein mit Vernichtungsphantasien beschäftigt gewesen, keine Zeit gehabt in anderer Weise an die Verteidigung des Lagers zu denken, als durch einen kleinen Posten, den er eine Meile von Bellomer, auf der Landstraße nach Chartres, in einer Kneipe hatte aufstellen lassen, die von Fuhrleuten bewacht wurde. Dieser Posten, der von einem Sergeanten kommandiert wurde, hatte keine bestimmten Instruktionen erhalten, und die Leute thaten nichts als faulenzen, trinken und schlafen. Trotzdem gelang es der Schildwache, die nachlässig, das Gewehr auf der Schulter, vor dem Wirtshause auf und ab ging, einen Arzt aus der Umgegend als deutschen Spion zu arretieren, weil er einen blonden Bart und blaue Augen hatte. Was den Sergeanten, einen damaligen Wilddieb von Profession, betraf, der sich »den Teufel um Krethi und Plethi scherte« so amüsierte er sich damit den Kaninchen in den nahen Hecken den Garaus zu machen.

Die Ankunft der Mobilgardisten und die drohende Nähe der Preußen hatten im Lager eine große Verwirrung hervorgerufen. Von Minute zu Minute kamen Kavalleristen an, die versiegelte Briefe brachten – geheime Befehle und Gegenbefehle. Die Offiziere liefen verstört hin und her, ohne zu wissen weshalb und wozu und verloren vollends den Kopf. Dreimal wurden wir beordert das Lager abzubrechen, drei Mal mußten wir die Zelte wieder aufschlagen. Während der ganzen Nacht bliesen die Trompeten und Hörner und brannten große Feuer, an denen seltsam aufgeregte Schatten hin und herglitten, wie dämonische Silhouetten. Patrouillen durchstreiften das Lager nach allen Richtungen hin, stiegen in die Gräben hinab und durchsuchten den Saum des Waldes. Die Artillerie, welche diesseits des Weilers lagerte und jetzt vorrücken und sich auf den Höhen aufstellen sollte, stieß dabei auf die Barrikade. Um den Weg für die Kanonen frei zu machen, mußte sie Stück für Stück niedergerissen und der Laufgraben ausgefüllt werden.

Frühmorgens wurde meine Kompagnie als Hauptwache ausgeschickt. Wir begegneten überall zerstreuten Mobilgardisten und Franc-tireurs, die sich in kläglicher Weise fortschleppten. Weiterhin bewachte der General, von seinem Gefolge begleitet, die Manöver der Artillerie. Er hatte eine auseinandergebreitete Generalstabskarte auf dem Halse seines Pferdes vor sich liegen, und suchte darauf vergebens die Mühle von Saussaie. Indem er sich über die Karte beugte, die, von den Bewegungen des Pferdes hin und hergeschoben, in einem fort den Platz wechselte, schrie er:

»Wo ist sie denn, diese verfluchte Mühle? … Pongoin … Courville … Courville … Wenn sie glauben, daß ich alle ihre verfluchten Mühlen kenne! …«

Der General befahl uns Halt zu machen und fragte:

»Ist jemand von Euch aus dieser Gegend? … Weiß jemand von Euch, wo die Mühle von Saussaie liegt?«

Niemand antwortete.

»Nicht? … So hol sie der Teufel!«

Und er warf die Karte seinem Ordonnanzoffizier zu, der sie aufhob und behutsam zusammenfaltete. Wir setzten unseren Weg fort. Man brachte uns in einem Bauernhof unter und ich wurde als Schildwache ausgestellt, dicht neben der Landstraße, am Eingange eines Gehölzes, von wo ich die Ebene überschauen konnte, die gewaltig und flach wie ein Meer sich mir zu Füßen ausbreitete. Hie und da tauchten aus diesem Erdocean kleine Wälder, wie Inseln empor. Dorfkirchtürme und Bauernhöfe, die vom Nebel verhüllt waren, nahmen das Aussehen von fernen Schleiern an. Über diesem ungeheuren Raume schwebte eine tiefe Einsamkeit, ein tiefes Schweigen; der geringste Lärm, der geringste Gegenstand, der sich am Himmel bewegte, hatte etwas so Seltsames, so Geheimnisvolles an sich, daß eine unbestimmte Angst sich der Seele des Menschen bemächtigte. Die schwarzen Punkte, die dort oben am Himmel vorüberglitten, das waren Raben; die schwarzen Punkte dagegen unten an der Erde, die vorwärtskrabbelten, größer wurden und ganz verschwanden, das waren flüchtende Mobilgardisten; aber das ferne Bellen der Hunde, das von Zeit zu Zeit zu mir hinaufklang und im Westen von Osten her beantwortet wurde, im Süden von Norden her, schien mir die Klage der verlassenen Fluren zu sein. Die Posten sollten alle vier Stunden abgelöst werden, aber Stunde auf Stunde verstrich, langsam, unendlich, und niemand kam mich zu ersetzen. Es war kein Zweifel: man hatte mich vergessen. Mit beklommenem Herzen befragte ich den Horizont, nach der Seite, wo die Preußen waren und wiederum nach der, wo die Franzosen waren; ich sah nichts, nichts als diese unerbittliche und harte Linie, die den großen, grauen Himmel um mich herum begrenzte. Seit langem schon hatten die Raben aufgehört zu fliegen, und die Mobilgardisten zu flüchten. Während eines Augenblicks wurde ich einen kleinen Karren gewahr, der sich dem Gehölze näherte, aber er bog in einen Richtweg ein, und ich hatte bald, auf dem einförmigen Grau des Terrains, seine Spur verloren. Weshalb ließ man mich stehen? Ich war hungrig und mich fror; mein Magen knurrte, und meine Finger wurden steif … Ich wagte mich einige Schritte auf die Landstraße hinaus; ich rief laut, mehrere Male … Niemand antwortete mir, nichts rührte sich von der Stelle. Ich war also ganz allein, das einzig lebende Wesen in dieser verlassenen und öden Ebene … Ein Schaudern überlief mich, und Thränen stiegen mir in die Augen … Ich fing von neuem an zu rufen … nichts … Darauf ging ich wieder in den Wald zurück und setzte mich an den Fuß einer Eiche, legte das Gewehr über die Knie und saß, angestrengt aufhorchend, wartend da … Der Tag ging langsam zur Neige; der Himmel färbte sich erst gelb, dann licht-purpurn, bis er endlich in einem Todesschweigen erlosch. Und die Nacht senkte sich über die Felder, ohne Stern, ohne Mond, während aus dem Schatten ein eisiger Nebel aufstieg.

Seitdem ich den Feldzug mitmachte, hatte ich, erschöpft vor Anstrengung, beständig in Anspruch genommen von irgend einer Beschäftigung und nie allein, keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Desungeachtet fühlte ich beim Anblick dieses seltsamen und grausamen Schauspiels, welches ich täglich vor Augen hatte, das Verständnis vom menschlichen Dasein, das bisher unter der Erstarrung meiner Kinderjahre, der Stumpfheit meiner Jugend, fest geschlummert, in mir erwachen. Ja, verworren und unsicher, wie aus einem langen und schmerzlichen Traum, war ich erwacht. Und die Wirklichkeit war mir noch weit schlimmer erschienen als der Traum. Wenn ich unsere Instinkte, unsere Begierden und Leidenschaften, von der kleinen Gruppe umherirrender Menschen, die wir bildeten, auf die ganze Gesellschaft übertrug, wenn ich mir allein die flüchtigen, physischen Visionen von den wilden Menschenmassen, vom Sichhinundherstoßen der Individuen, die ich in Paris gehabt, ins Gedächtnis zurückrief – so verstand ich, daß das weltbeherrschende Gesetz der Kampf war; ein unerbittliches, menschenvernichtendes Gesetz, das sich nicht damit begnügte, die Völker gegen einander in die Waffen zu rufen, sondern sogar die Kinder ein und derselben Rasse, ein und derselben Familie, ja, aus ein und demselben Mutterschoße zwang, sich auf einander loszustürzen. Ich fand keine von jenen erhabenen Begriffen wieder: Ehre, Gerechtigkeit, Mildthätigkeit, Vaterlandsliebe, von denen in den klassischen Büchern so viel die Rede ist, und mit denen man uns erzieht, einlullt, ja hypnotisiert, um besser die Guten und Schwachen unter uns täuschen, unterdrücken und erwürgen zu können. Was war es denn eigentlich, dies Vaterland, in dessen Namen so viele Tollheiten und Frevelthaten begangen wurden, das uns, die wir von Liebe erfüllt waren, der mütterlichen Natur entriß, um uns haßerfüllt, ausgehungert und nackend auf die stiefmütterliche Erde zu werfen? … Was war es denn eigentlich, dies Vaterland, das sich uns in der Gestalt jenes dummen und räuberischen Generals darstellte, der die alten Männer verfolgte und die alten Bäume unerbittlich zerstörte, und jenes Wundarztes, der den Kranken Fußtritte versetzte und unglückliche alte Mütter, die um ihre Söhne trauerten, in roher Weise anfuhr? … Was war es denn eigentlich, dies Vaterland, dessen Lauf von lauter Vernichtung bezeichnet wurde, das die ruhigen Wasserfluten in Blut verwandelte, und das noch immer von Ort zu Ort weiter schritt, immer größere, immer tiefere Gräber grabend, damit die besten der Menschen Kinder darin verwesen konnten? … Und mich ergriff ein schmerzliches Staunen, als ich mir zum ersten Male den Gedanken klar machte, daß diejenigen unter den Menschen, welche am meisten geplündert, niedergemetzelt und niedergebrannt haben, als die Ruhmvollen gepriesen werden. Man verurteilt ja den lichtscheuen Mörder, der in den nächtlichen Straßen den Vorübergehenden mit einem Messerstich tötet und wirft seinen enthaupteten Körper in die ungeweihte Erde. Aber der Eroberer, der die Städte in Brand gesteckt, die Völker dezimiert hat – den heben menschliche Feigheit und Unvernunft auf den Thron, zu den höchsten Ehren der Welt empor; man errichtet ihm Triumphbögen und schwindelerregende Bronzesäulen, und in den Kathedralen knieen die Volksmassen in frommer Andacht nieder vor seiner gesegneten Marmorgruft, die unter dem entzückten Auge Gottes von Engeln und Heiligen bewacht wird! … Niemals hatte ich ein Buch geöffnet, niemals hatte ich mich, auch nur während einer einzigen Sekunde, bei den Fragezeichen aufgehalten, die die Dinge und Wesen in Wirklichkeit sind – ich wußte nichts. Und plötzlich quälte mich das Bedürfnis mehr zu wissen, dem Leben einige seiner Geheimnisse zu entreißen; ich wollte die menschliche Ursache dieser Religionen, die verdummen, dieser Regierungen, die unterjochen, dieser Gesellschaften, die töten, kennen; ich sehnte mich danach mit dem Kriege fertig zu sein, um mich begeisternden Studien zu weihen, großartigen und überraschenden Apostel-Lehren. Meine Gedanken strebten nach unmöglichen Philosophien der Liebe, nach wirren Träumen von unzerstörbarer Brüderschaft. Ich sah die ganze Menschheit unter erdrückenden Lasten zusammensinken, ähnlich wie der kleine Mobilgardist von Saint-Amand, dessen Augen eiterten, der hustete und Blut spie, und ohne daß ich etwas von der eisernen Notwendigkeit der Naturgesetze begriffen hätte, stieg in mir eine heiße Zärtlichkeit für die Menschen auf, die sich in ein trockenes Schluchzen aus meiner Brust löste. Ich habe später die Beobachtung gemacht, daß man rechtes Mitleiden nur dann mit anderen fühlt, wenn man selbst unglücklich ist. Und war es nicht etwa mein eigenes Leiden, das mich in dem Augenblick am meisten rührte? Wenn ich in jener kalten Nacht, in nächster Nähe des Feindes, der vielleicht im Nebel der Morgenstunde sichtbar werden würde, die Menschheit so innig liebte, liebte ich da nicht vielmehr mich selbst, war ich es nicht selbst, den ich vor Schmerzen zu bewahren wünschte? Dieses Bedauern der Vergangenheit, diese Pläne für die Zukunft, dieser Eifer, den ich dranwandte, die Vorstellung von meiner eigenen Person hervorzurufen, wie ich später in der Rue Oudinot unter Büchern und Papieren sitzen würde, mit Augen, die vom Fieber der Arbeit brannten – war das nicht alles einzig und allein, um die Drohung der gegenwärtigen Stunde von mir abzuwenden, um andere, schreckliche Bilder zu vermischen, Bilder vom Tode, die unaufhörlich in der grauenvollen Finsternis, bleifarbig und fahl, an meiner Seele vorüberglitten?

Die undurchdringliche Nacht schlich leise weiter. Wie ein ungeheures Schattenmeer erstreckten sich die Felder unter dem Himmel, der mit bösen, düsteren Blicken drohend über ihnen hing. Dann und wann schwebten graue Dunstschleier, längliche Nebelgebilde über dem unsichtbaren Erdboden dahin, und hie und da tauchten Baumgruppen hervor, die sich von dem tiefen Schwarz noch schwärzer abhoben! Ich hatte mich nicht von der Stelle gerührt, wo ich mich hingesetzt, und die Kälte ließ meine Glieder erstarren, meine Lippen aufspringen. Mühsam erhob ich mich und ging im Walde umher. Der Laut meiner eigenen Schritte erschreckte mich; es schien mir immer, als ginge jemand hinter mir. Vorsichtig, auf den Fußspitzen, schlich ich weiter, gleichsam als fürchtete ich die schlummernde Erde zu erwecken; ich horchte gespannt hinaus und versuchte das Dunkel zu durchdringen, denn noch hatte ich, trotz allem, die Hoffnung nicht aufgegeben, daß man käme, um mich abzulösen. Aber kein Rasseln, kein Laut, kein Licht, keine bestimmte Form in dieser tiefen Nacht ohne Augen und Stimme. Dennoch hörte ich zweimal, ganz deutlich, ein Geräusch von Schritten, und das Herz klopfte mir heftig … Aber das Geräusch entfernte sich, wurde allmählich schwächer, hörte endlich ganz auf – und die Stille um mich herum wurde noch lastender, noch furchtbarer zu ertragen, noch verzweifelter … Ein Zweig streifte mein Gesicht; ich fuhr zurück, von Grauen gepackt. Eine kleine Erhöhung des Terrains, in einiger Entfernung von mir, machte auf mich den Eindruck, als sei es ein Mensch, der mit gekrümmtem Rücken auf mich los kroch; ich lud mein Gewehr … Beim Anblick eines verlassenen Pfluges, dessen zwei Griffe wie die drohenden Hörner eines Ungetüms in den Himmel ragten, ging der Atem mir aus, und ich wäre beinahe hintenüber geschlagen … Ich fürchtete mich vor der Finsternis, vor dem Schweigen, vor dem geringsten Gegenstande, der die Linie des Horizonts überschnitt und den meine überreizte Einbildungskraft mit Bewegungen voll heimtückischen Lebens ausstattete … Trotz der Kälte lief mir der Schweiß in großen Tropfen von der Stirn herab. Der Gedanke kam mir, meinen Posten zu verlassen und ins Lager zurückzukehren; ich suchte mich mit scharfsinnigen und feigen Beweisgründen zu überreden, daß meine Kameraden mich vergessen hätten und froh sein würden mich wiederzufinden … Sie waren gewiß abmarschiert! Ja, das war es! Wenn sie mich von meiner Wache nicht abgelöst hatten – und ich hatte ja keine Offizierspatrouille an mir vorübergehen sehen – so kam das daher, weil sie abmarschiert waren! … Wenn ich mich nun aber zufälligerweise irrte, welche Entschuldigung sollte ich geben, und wie würden sie mich da unten empfangen? … Sollte ich nach dem Bauernhofe gehen, wo meine Kompagnie des Morgens Halt gemacht hatte, und dort Erkundigungen einziehen? … Ich dachte einen Augenblick daran … aber ich hatte in der Aufregung das Gefühl für die Richtung verloren und wäre unfehlbar in dieser großen, schwarzen Ebene auf Abwege geraten. Da durchzuckte mich plötzlich ein scheußlicher Gedanke … ja, weshalb denn nicht? Weshalb sollte ich mir nicht eine Kugel durch den eigenen Arm schießen und mich verwundet und blutend ins Lager flüchten und erzählen, daß ich von den Preußen angegriffen worden? … Ich kämpfte mit übermenschlicher Anstrengung gegen diese verfluchten Angst-Halluzinationen an und suchte meine Vernunft, die im Begriff stand mich zu verlassen, festzuhalten; ich faßte alles, was ich an moralischer Kraft besaß zusammen, um mich der feigen und widerlichen Suggestion zu entziehen und bestrebte mich, Erinnerungen aus meinem früheren Leben wachzurufen, sanfte und lächelnde, weißgeflügelte, vom Glorienschein umstrahlte Bilder, heraufzubeschwören … Bilder und Erinnerungen kamen mir zurück, aber in verzerrter Gestalt, wie in einem schweren Traum; das Grauen, welches meine Seele erfüllte, entstellte sie und brachte eine gänzliche Verwirrung hinein … Die heilige Jungfrau von Saint-Michel mit der rosigen Hautfarbe, mit dem himmelblauen, silberverbrämten Mantel sah ich in unkeuscher Weise sich betrunkenen Soldaten auf schmutzigem Strohlager hingeben; meine Lieblingsplätze im Walde von Tourouvre, die so friedlich waren, wo ich als Kind stundenlang träumend auf dem Moose liegen konnte, nahmen ein verstörtes, wildes Aussehen an, und ihre Bäume kamen wie mächtige Riesen auf mich losgestürzt; in der Luft erblickte ich hin und herfliegende Granaten, deren grinsende Gesichter Züge trugen, die ich kannte; eines von diesen Projektilen entfaltete plötzlich zwei große Flammenflügel, drehte sich um mich herum, hüllte mich in Feuer ein … Ich stieß einen Schrei aus! … Mein Gott! war ich denn wirklich in Begriff wahnsinnig zu werden? Ich betastete meinen Hals, meine Brust, meine Lenden und Beine … Ich mußte weiß wie eine Leiche sein, und eine sonderbar spitzige, eisige Empfindung, wie von einem stählernen Bohrer, stieg mir vom Herzen ins Gehirn hinauf … »Ruhig, nur ruhig!« sagte ich ganz laut zu mir selber, um mich davon zu überzeugen, daß ich nicht träumte, daß ich wachte und lebendig war, »ruhig, nur ruhig!« Ich schluckte in zwei Zügen den Rest aus meiner Feldflasche hinunter und fing schnell zu gehen an, indem ich die Erdklumpen unter meinen Füßen zertrat und ein Marschlied anstimmte, das wir im Chor zu singen pflegten, um uns über die Länge der Tagesmärsche hinwegzutäuschen. Etwas beruhigt kam ich zurück zu meiner Eiche, wo ich lange stehen blieb, während ich mit meinen Fußsohlen an dem Stamm hinaufstampfte. Das Geräusch und die Bewegung waren mir ein Bedürfnis … Und plötzlich mußte ich an meinen Vater denken, der so einsam daheim in der Priorei saß. Seit mehr als drei Wochen hatte ich keinen Brief von ihm erhalten. Ach, wie war der letzte schmerzlich und traurig gewesen! … Er beklagte sich über nichts, aber man fühlte die tiefe Mutlosigkeit heraus, die Mutlosigkeit darüber, in dem großen, öden Hause allein leben zu müssen, und die Angst mich umherirrend, mit dem Tornister auf dem Rücken, den Gefahren eines Feldzuges ausgesetzt zu wissen … Armer Vater! Er war nicht glücklich gewesen mit meiner kranken Mutter, die immer gereizt war, die ihn nicht liebte und seine Nähe nicht ertragen konnte … Und nie, wenn sie ihn auch noch so unsanft zurückstieß, noch so hart anfuhr, nie eine zornige Geberde, nie ein Wort des Vorwurfes! … Er beugte seinen Rücken, wie ein guter Hund es thut und ging seiner Wege. Er hatte mich zwar nicht so erzogen, wie ich hätte erzogen werden müssen, aber lieber Gott, er hatte ja gethan, was er konnte! … Er war ja selbst ohne jegliche Lebenserfahrung gewesen, ohne jegliche Kraft dem Bösen gegenüber, von einer scheuen und ängstlichen Güte. Und je nachdem die Züge meines Vaters sich mir deutlicher, bis in die kleinsten Umrisse hinein, darstellten, umnebelten und vermischten sich die meiner Mutter, und ich konnte mir ihr liebes Gesicht nicht mehr in die Erinnerung zurückrufen. In diesem Augenblick übertrug ich all die Zärtlichkeit, die ich sonst dem Andenken meiner Mutter schenkte, auf meinen Vater. Ich erinnerte mich mit Wehmut, wie er am Todestage meiner Mutter mich auf die Kniee nahm und sagte: »Es ist vielleicht besser so.« Und heute erst verstand ich, was diese Worte an ausgestandenen Qualen und befürchteten, künftigen Leiden enthielten. Ihretwegen hatte er so gesprochen und auch meinetwegen, der ich meiner verstorbenen Mutter so sehr glich, aber nicht seiner selbst wegen, denn der unglückliche Mann hatte von vorne herein resigniert und sich entschlossen alles zu erdulden … Seit drei Jahren war er sehr gealtert; seine hohe Gestalt war gebeugt, sein gesundes rotes Gesicht gelb und gefurcht geworden, seine Haare beinahe weiß. Er verfolgte die Vögel im Park nicht mehr, er ließ die Katzen das Gebüsch durchstreifen und das Wasser im Bassin aufschlappern, er interessierte sich auch kaum mehr für sein Geschäft, dessen Leitung er seinem ersten Schreiber anvertraut hatte, der ihn betrog; auch kümmerte er sich nicht mehr um die kleinen lokalen Ehrenämter, die früher seinem Ehrgeiz willkommene Nahrung geboten. Er wäre nie ausgegangen, hätte seinen Großvaterstuhl nie verlassen – den er hinunter in die Küche hatte stellen lassen – hätte ihm Marie nicht seinen Hut und Stock gebracht und gesagt:

»Wollen der Herr sich nicht ein bischen rühren. Es ist ja gar kein Leben, wenn Sie da immer in der Ecke sitzen bleiben …«

»Jawohl Marie, ich werde ausgehen … ich will nach dem Fluß hinuntergehen, wenn Du meinst …«

»Nein, in den Wald müssen der Herr gehen … die Luft da bekommt Ihnen viel besser.«

»Jawohl Marie, ich werde in den Wald gehen.«

Zuweilen, wenn sie ihn so schläfrig und schwerfällig dasitzen sah, schlug sie ihn auf die Schulter und fragte:

»Weshalb nehmen der Herr nie mehr die Büchse zur Hand? Es sind eine solche Unmenge von Buchfinken im Park.«

Aber mein Vater murmelte, indem er sie vorwurfsvoll ansah:

»Buchfinken, Marie! … Die armen Tierchen!«

Weshalb schrieb mein Vater nicht mehr an mich? Hatte er meine letzten Briefe überhaupt erhalten? … Ich warf mir vor, in meinen Briefen zu trocken gewesen zu sein und gelobte mir, ihm am morgigen Tage, sobald ich nur konnte, einen langen, liebevollen Brief zu schreiben, in dem ich ihm mein ganzes Herz ausschüttete.

Der Himmel erhellte sich zusehends dort unten am Horizont, dessen Linien sich schärfer gegen ein blaueres Licht abzeichneten. Es war noch immer Nacht; die Felder lagen noch im Finstern da, aber man fühlte, daß der Tag bald anbrechen würde. Die Kälte wurde beißend, die Erde knarrte härter unter den Schritten, die Feuchtigkeit krystallisierte sich an den Zweigen der Bäume. Nach und nach wurde der Himmel von einem blaßgoldenen Schein erleuchtet, der immer stärker wurde, und langsam traten aus dem tiefen Schatten Umrisse hervor, die aber noch unsicher und verwischt waren; das undurchdringliche Schwarz der Ebene verwandelte sich in ein Dunkelviolett, hie und da von helleren Streifen durchzogen … Plötzlich traf ein Geräusch mein Ohr, erst ganz schwach, wie fernes Trommelschlagen … Ich horchte, mit klopfendem Herzen … Während eines Augenblicks hörte es auf … Die Hähne krähten … Nach zehn Minuten ungefähr fing es wieder an, diesmal stärker und näher … Patara! patara! Auf der Landstraße von Chartres her hörte ich Pferdegetrampel … Instinktiv schnallte ich meinen Tornister auf den Rücken und vergewisserte mich, daß mein Gewehr geladen war … Ich war sehr erregt; die Adern an den Schläfen schwollen mir heftig an … Patara! patara! Das Pferdegetrampel mußte dicht neben mir sein, denn es war mir, als hörte ich das Schnaufen eines Pferdes und das helle Geklirre von Stahl … Patara! patara! … Kaum hatte ich Zeit gehabt, mich hinter der Eiche niederzuducken, als auf der Landstraße, zwanzig Schritte von mir entfernt, ein großer Schatten auftauchte, der plötzlich unbeweglich, wie eine Reiterstatue aus Bronze, stehen blieb. Und dieser Schatten, der sich in seinem ganzen Umfange mächtig vom Lichtscheine des östlichen Himmels abhob, war furchtbar! Die Gestalt kam mir übermenschlich vor, ohne Maß und Grenzen in den Himmel hineingewachsen! … Sie trug die flache Mütze der Preußen und einen langen, schwarzen Mantel, unter dem die Brust sich breit wölbte. War es ein Offizier, war es ein gemeiner Soldat? Ich wußte es nicht, denn ich unterschied kein Zeichen irgend eines Grades an der dunklen Uniform … Die Züge, die im Dämmerlicht zuerst unbestimmt erschienen, traten nach und nach deutlicher hervor. Er hatte helle, sehr klare Augen, einen blonden Vollbart, eine Haltung voller Jugendfrische; sein Gesicht atmete Kraft und Güte, und es lag ein eigener Ausdruck darauf von Seelenadel, von Kühnheit, vermischt mit Traurigkeit, der mich frappierte. Die flache Hand auf den Schenkel gestützt, untersuchte er das Land da vor sich, während das Pferd von Zeit zu Zeit mit den Hufen scharrte und durch die zitternden Nüstern große Dampfwolken in die Luft bließ … Augenscheinlich war der Preuße dort als Vortrab gekommen, das Terrain und unsere Stellungen zu rekognoszieren; ohne Zweifel folgte ihm eine ganze Armee, die nur auf das Signal dieses Mannes wartete, um sich in die Ebene zu stürzen! … Unbeweglich und sicher in meinem Gehölz versteckt, beobachtete ich ihn … Wahrlich, es war ein schöner Mann; in reichen Strömen floß das Leben durch diesen kraftvollen Körper. Wie Jammerschade! … Er schaute immer noch auf das Land hinaus, und ich glaubte zu bemerken, daß er es mehr als Dichter denn als Soldat betrachtete … Ich entdeckte, daß seine Augen sich umflorten … Vielleicht vergaß er, weshalb er gekommen und gab sich der Schönheit dieses jungen, unberührten und siegreichen Morgens hin … Der Himmel war glutrot geworden, er flammte auf in herrlicher Pracht; die erwachten Felder schienen sich zu strecken und glitten langsam, eines nach dem andern, aus ihren rosigen und bläulichen Nebelschleiern hinaus, die wie lange, von unsichtbaren Händen sanft bewegte Florstreifen, hin und herschwebten. Schlanke Bäume und kleine Strohhütten stiegen aus all dem Rosa und Blau hervor; das Taubenhaus eines großen Pachthofes, dessen neues Ziegeldach zu glänzen begann, tauchte seinen weißen Kegel in die brennende Purpurglut des Ostens … Ja, dieser Preuße, der mit Mordgedanken ausgezogen, hielt nun sein Pferd verweilend an, tief bewegt und hingerissen von der Herrlichkeit des neugeborenen Tages – seine Seele war, während einiger Minuten, nur von der Liebe erfüllt.

»Vielleicht ist er ein Dichter,« sagte ich mir, »ein Künstler; es muß ein guter Mensch sein, denn sein Gemüt ist der Rührung fähig.«

Und ich verfolgte auf seinem Gesicht all' die Gefühle, welche einen braven Menschen beseelen, jene Schauder der Andacht, alle die feinen und beweglichen Reflexe eines hingerissenen Gemüts … Er erschreckte mich nicht mehr. Im Gegenteil, ich fühlte mich in sonderbarer, unwiderstehlicher Weise zu ihm hingezogen und mußte mich krampfhaft an meinem Baum festhalten, um nicht zu diesem Menschen hin zu eilen … Ich hätte ihn so gern gesprochen – ich hätte ihm sagen mögen, daß es gut und lieb sei, den Himmel so anzuschauen, wie er es that, und daß ich ihn wegen dieser seiner Extase liebe … Aber sein Gesicht verdüsterte sich, eine tiefe Traurigkeit verschleierte seine Augen … Ach, der Horizont, auf dem sie ruhten, lag in so weiter, weiter Ferne. Und hinter ihm ein zweiter, und hinter diesem wieder einer! … Alles das mußte erobert werden! … Wann kam endlich die Stunde, wo er sein Pferd nicht mehr auf fremder Erde vorwärts zu zwingen, wo er sich nicht mehr einen Weg zu bahnen brauchte durch die Vernichtung der Dinge und den Tod der Menschen hindurch, da er keinen mehr zu töten, und keiner ihm zu fluchen brauchte … Ohne Zweifel dachte er auch an das, was er verlassen hatte; an sein Heim, das von dem hellen Lachen seiner Kinder wiederhallte, an seine Gattin, die betend zu Gott auf ihn wartete … Würde er sie je wiedersehen? Ich bin überzeugt, daß er sich in dem Augenblick die kleinsten Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrief, die vertraulichsten, kindlich-süßesten Gewohnheiten aus seinem Dasein daheim … eine Rose, die er eines Abends nach dem Mittagessen gepflückt und seiner Frau in die Haare gesteckt, das Kleid, das sie trug, als er Abschied nahm, ein blaues Band am Hute seiner kleinen Tochter, ein hölzernes Pferd, sein Lieblingsplätzchen unten am Flusse, ein Papiermesser … Alle Erinnerungen an jene segensreichen Freuden kamen ihm jetzt wieder, und mit jener außerordentlicher Fähigkeit der Vision, welche die besitzen, die fern von der Heimat sind, umfaßte er mit einem einzigen, mutlosen Blick alles das, was bisher sein Glück ausgemacht hatte … Und die Sonne stieg empor; unter ihrem Lichte streckte sich die weite Ebene noch weiter aus, und der schon so ferne Horizont schien dem Auge noch ferner … Ich fühlte Mitleiden mit diesem Manne; ich liebte ihn, ja, ich schwöre es, daß ich ihn liebte! … Aber wie konnte es denn nur geschehen? … Es blitzte und krachte ein Schuß, und gleichzeitig sah ich, durch den Pulverdampf hindurch, einen Stiefel in der Luft, den flatternden Zipfel eines Mantels – und eine schwarze Pferdemähne wie verrückt den Weg entlang fliegen … darauf lautlose Stille … Das Klirren eines Säbels, den schweren Fall eines Körpers, das Geräusch eines rasenden Galopps hatte ich vernommen … Aber nun lautlose Stille … Meine Waffe war heiß, und es entströmte ihr Pulverdampf … ich ließ sie auf die Erde fallen … War ich die Beute einer Halluzination? … Nein! … Von dem großen Schatten, der mitten auf dem Wege, wie eine Reiterstatue aus Bronze aufgetaucht war, war jetzt nur ein kleiner schwarzer Leichnam übrig, der mit gekreuzten Armen, das Gesicht an die Erde gedrückt, dalag … Ich mußte an das arme Kätzchen denken, das mein Vater tötete, als es mit entzückten Augen den Flug eines Schmetterlings in der Luft verfolgte … Ich hatte, ganz blöde, ohne klares Bewußtsein, einen Menschen getötet, einen Menschen, den ich liebte, mit dessen Seele die meinige noch vor kurzem gefühlt und gedacht hatte, einen Menschen, den ich angesichts der strahlenden Herrlichkeit der aufgehenden Sonne eben in die reinsten Träume seines Lebens versunken gesehen! … Ich hatte ihn vielleicht getötet in dem Augenblick, als er zu sich selber sagte: »Und wenn ich wieder heimkehre …« Wie war es zugegangen? Weshalb?

Mein Herz war ihm vom ersten Augenblick an zugeflogen, und wäre er von Soldaten angegriffen worden, ich hätte ihn verteidigt – ihn, den ich soeben ermordet hatte! In zwei Sprüngen war ich neben dem Manne … ich rief ihn; er rührte sich nicht … Meine Kugel war durch seinen Hals gedrungen, unter dem Ohr, und das Blut quoll mit glucksendem Laut aus einer zersprungenen Ader, breitete sich zu einer roten Lache aus und klebte schon geronnen an seinem Barte … Mit zitternden Händen hob ich ihn ein klein wenig empor; der Kopf wankte hin und her, fiel leblos und schwer zurück … Ich betastete ihm die Brust, wo das Herz saß: es schlug nicht mehr … Dann hob ich ihn ganz empor, indem ich seinen Kopf mit meinen Knieen stützte, und plötzlich sahen mich seine beiden Augen an, seine beiden hellen Augen, groß und traurig an, ohne Haß, ohne Vorwurf, seine beiden Augen, die mir zu leben schienen! … Ich glaubte ohnmächtig zu werden; aber indem ich meine letzten Kräfte mit übermenschlicher Anstrengung zusammen raffte, umfing ich den toten Körper des Preußen, drückte ihn fest an mich, preßte meine Lippen auf das blutige Gesicht, von dem lange, purpurfarbene Schleimfasern herabhingen und küßte ihn, außer mir vor Seelenqual …

Was nach diesem Augenblick geschehen, dessen weiß ich mich nicht deutlich mehr zu entsinnen … Ich sehe den Rauch wieder, die schneebedeckten Fluren, die unaufhörlich brennenden Ruinen; nachts beständig düstere, von Halluzinationen begleitete Flucht-Märsche; an den Kreuzwegen ein furchtbares Gedränge und Gestoße, wegen der Munitionswagen, die den Weg versperren, und der Dragoner, die mit geschwungenem Pallasch ihre Pferde auf uns antreiben und sich einen Weg durch die Wagen hindurch suchen. Ich sehe die Leichenkarren wieder, voller verstümmelten Leichen von jungen Männern, die wir bei Morgengrauen in die gefrorne Erde einscharren, indem wir uns sagen: »Nächstes Mal kommt die Reihe an Dich.« Ich sehe neben den Kanonen-Lafetten die großen steifen, von Granaten aufgeschlitzten Leichname der Pferde wieder, auf die wir uns des Abends stürzen, um daraus blutige Stücke nach den Zelten hinzuschleppen, wo wir knurrend und zähneknirschend, wie hungrige Wölfe, das Fleisch verschlingen! … Und ich sehe den Wundarzt wieder, wie er mit aufgestreiften Hemdärmeln, die Pfeife im Munde, auf einem Tische in einem Bauernhofe, beim rauchenden Talglichte, den Fuß eines kleinen Soldaten, der noch mit seinen Gamaschen bekleidet ist, aus dem Gelenke löst! … Aber vor allem sehe ich die Priorei wieder, wie ich, totmüde, niedergebeugt von den vielen Leiden und mit zerrissenem Gemüte über den Jammer unserer Niederlage, eines sonnenhellen Tages dahin zurückkehre … Die Fenster des großen Hauses waren fest verschlossen, und die Rouleaux überall herabgelassen … Felix, gebeugter als sonst, harkte die Allee, und Marie, die neben der Küchenthüre saß, strickte mit wackeligem Kopfe an einem Strumpf.

»Was! Was!« schrie ich, »empfängt man mich so?«

Sobald sie mich bemerkt hatten, eilte Felix wie verstört davon, und Marie, die kreideweiß geworden war, stieß einen Schrei aus.

»Aber was habt Ihr denn?« fragte ich mit beklommenem Herzen … »wo ist denn mein Vater? …«

Die alte Dienerin sah mich starr an.

»Was? Sie wissen nicht? … Haben Sie denn gar nichts erhalten? … Ach, mein armer Herr Jean, mein armer Herr Jean!«

Und, die Augen voller Thränen, streckte sie den Arm aus und wies nach der Richtung des Kirchhofes.

»Ja ja, da liegt er jetzt – neben der gnädigen Frau,« sagte sie mit dumpfer Stimme.


 << zurück weiter >>