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X.

Seit acht Tagen habe ich keine Nacht geschlafen. Auf meinem Schädel sitzt's wie ein glühender, eiserner Helm. Mein Blut kocht, es ist, als müßten meine gespannten Adern zerreißen, und ich fühle lodernde Flammen mir im Rücken hinaufschießen. Was noch menschlich an mir war, was der moralische Schmerz unter all' der Besudelung noch an Scham, an Gewissensbissen, an Achtung, an unbestimmter Hoffnung gelassen, was mich noch mit der Kategorie der denkenden Wesen verknüpfte, und wäre dieses Band auch noch so schwach gewesen – alles das ist in einem furchtbaren Anfall von tierischem Wahnsinn, von bestialischer Brunst, fortgeschwemmt worden … Ich habe keinen Begriff mehr vom Guten, vom Wahren, vom Gerechten, von den unbeugsamen Gesetzen der Natur. Ich habe kein Gefühl mehr für geschlechtliche Zurückhaltung, die von einem Bereiche zum anderen existiert und die Welt in beständiger Harmonie erhält: alles bewegt sich mir, alles löst sich mir in eine einzige sterile Geschlechtsverwirrung auf, und im Delirium meiner Sinne träume ich nur von unmöglichen Umarmungen … Nicht allein, daß das Bild von der prostituierten Juliette keine Qual mehr für mich ist, nein, im Gegenteil, es lockt mich … ich suche es auf, ich verweile dabei, ich bestrebe mich es in unauslöschlichen Zügen festzustellen, ich bringe es in Verbindung mit den Dingen, den Tieren, den ungeheuerlichsten Mythen, und von Höllengeißeln gepeitscht führe ich es selber zu verbrecherischen Ausschweifungen … Juliette ist nicht mehr die Einzige, deren Bild mich erregt und verfolgt … Gabrielle, die Rabineau, die Mutter Le Gannec, das Fräulein de Landudec gleiten unaufhörlich, in infamen Stellungen, an mir vorüber … Weder die Tugend, noch die Güte, noch das Unglück, noch das ehrwürdige Alter hindern mich, und als Dekoration für diesen grauenhaften Wahnsinn wählte ich mit Vorliebe die heiligen und geweihten Stellen, die Altäre der Kirchen, die Gräber der Friedhöfe … Ich leide nicht mehr an meiner Seele, ich leide nur an meinem Fleische … Meine Seele starb in dem letzten Kusse, den Juliette mir gab, und ich bin nun nichts als eine Form, eine Form, die aus besudeltem, empfindungsfähigem Fleisch besteht, in welche die Dämonen siedende Ströme hineingießen … Ach! diese Strafe hatte ich nicht ahnen können!

Vor einigen Tagen begegnete ich auf dem Strande einer Muschelfischerin … Sie war schwarz, schmutzig, übelriechend, einem Haufen verfaulenden Tangs vergleichbar. Ich näherte mich ihr … Und jählings floh ich davon, denn mich überfiel die teuflische Versuchung, mich auf diesen Körper zu stürzen und sie zwischen Wasserpfützen und Uferkieseln umzuwerfen … Ich wandere und wandere durch das Land, mit eilenden Schritten, mit aufgeblähten Nasenflügeln, wie ein Jagdhund dem Geruch des Weibchens nachspürend … In einer Nacht, als mir die Kehle brannte, das Hirn von entsetzlichen Visionen gemartert wurde, begab ich mich hinaus in die winkeligen Gassen des Dorfes und klopfte an die Thüre einer Matrosen-Dirne … Und ich bin in das Schmutznest hineingetreten … Aber sobald ich auf meiner Haut die Berührung der fremden Haut verspürte, stieß ich ein Wutgeschrei aus … ich wollte fort … Sie hielt mich zurück.

»Laß mich!« schrie ich da.

»Weshalb willst Du gehen?«

»Laß mich!«

»Bleib … Ich will Dich lieben … Ich bin Dir oft nachgegangen, draußen auf der Küste … Oft auch habe ich das Haus umschlichen, in dem Du wohnst … ich habe Lust auf Dich … Bleib'!«

»Aber so laß mich doch! Siehst Du denn nicht, daß ich Ekel vor Dir habe!«

Und wie sie sich mir an den Hals hing, habe ich sie geschlagen … Sie wimmerte:

»Jesus-Christ! Er ist verrückt!«

Verrückt! … Ja, ich bin verrückt! … Ich habe mich in dem Spiegel gesehen und habe Furcht bei meinem Anblick empfunden. Meine Augen sind groß geworden und blicken verstört aus den eingesunkenen Augenhöhlen hervor; die Backenknochen stehen heraus, und in meiner gelben Haut sind tiefe Löcher; mein Mund ist welk, zitternd und hängend, wie bei Greisen, die ein schlechtes Leben führen … Meine Bewegungen sind zerfahren und wirr, meine Hände, die unaufhörlich von nervösen Zuckungen befallen werden, krallen sich ein, greifen nach Beute im leeren Raum …

Verrückt! … Ja, ich bin verrückt! … Wenn die Mutter Le Gannec sich im Zimmer um mich bemüht, wenn ich ihre Filzschuhe auf den Dielen gleiten höre, wenn ihr Kleid mich streift, fallen mir verbrecherische Gedanken ein, sie packen mich, treiben mich an, und ich schreie:

»Gehen Sie hinaus! … Mutter Le Gannec, gehen Sie hinaus!«

Verrückt! … Ja, ich bin verrückt! … Oft, nachts, habe ich stundenlang vor ihrer Thür gestanden, die Hand auf dem Schlüssel im Schlüsselloch, um mich im Dunkel hineinzustürzen … Ich weiß nicht, was mich zurückhielt … Die Angst ohne Zweifel; denn ich sagte zu mir selbst: »Sie wird sich wehren, schreien und rufen, und ich werde gezwungen sein sie totzuschlagen … Ein Mal stand sie auf, erstaunt über das Geräusch … Als sie mich im Hemd sah, mit nackten Beinen, blieb sie einen Augenblick ganz verdutzt stehen.

»Was? … Sie sind's, Freund Mintié! … Was machen Sie hier? … Sind Sie krank?«

Da stotterte ich unzusammenhängende Worte hervor und stieg wieder in mein Zimmer hinauf …

Ah! Daß man mich jage, mich hetze, mich verfolge mit Mistgabeln, eisenbeschlagenen Stöcken und Sensen, wie man es mit einem tollen Hunde thut! … Werden nicht bald, durch die Thüre dort, Männer eintreten, die sich auf mich werfen, mich knebeln und fortschleppen werden in die ewige Nacht der Zelle, welche der Tobsüchtigen harrt!

Ich muß fort von hier … Ich will Juliette aufsuchen! … An ihr will ich diese fluchwürdige Raserei auslassen! …

Wenn der Morgen anbricht, will ich hinuntergehen und zur Mutter Le Gannec sagen:

»Mutter Le Gannec, ich muß abreisen! … Geben Sie mir Geld … Ich werde es Ihnen später wiedergeben … Geben Sie mir Geld … ich muß abreisen! …«


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