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Dreizehntes Capitel

Aussichten zu einer Heirath. Reise in die Heimath bei Sonnenschein. Warum aber Rudolf dem Annemareili das Päcklein nicht trägt.

In diesem guten Geleise befand sich Rudolf schon seit geraumer Zeit, als ihn Annemareili kennen lernte. Unter der Selbständigkeit, die er anstrebte, begriff er richtig einen eignen Hausstand mit ein, macht doch ein solcher erst den rechten und ganzen Mann aus. Er hatte mit ruhigem Wohlgefallen sein Auge auf das wohlgebildete und doch so gesetzte Mädchen geworfen, das fast so eifrig wie er sich Ersparnisse auferlegte und dieselben auf die gleiche Weise nutzbar zu machen suchte. Die Landsmannschaft und frühere Bekanntschaft, so wie die Annäherung durch die wiederholte Begegnung, verwandelten das allgemeine Wohlgefallen bald genug in eine bestimmte Absicht, auf die er nun immer näher hinzusteuern trachtete.

Annemareili seinerseits machte in seinem Gefühlsleben einen ähnlichen Gang durch, dieselben Gründe sprachen ihm auch für eine günstige Beurtheilung und Aufnahme des ehmaligen Gespielen: der gesetzte ordentliche Mann, voll der besten häuslichen Anlagen, mußte ihm ja schon um der leidigen Erfahrungen an dem leichtfertigen Bäcker-Joseph einen vortheilhaften Eindruck machen, die Gemeinsamkeit ihrer Schicksale war kein minder kräftiges Anziehungsmittel; – kurz bei den beiden vorsichtigen Leutchen entwickelte sich in verhältnißmäßig kurzer Zeit ein beinahe inniges Verhältniß, das zugleich auch alle Bedingungen für den erwünschtesten Erfolg zum voraus in sich zu tragen schien. Allerdings, ein gewisses jugendliches Aufflammen hatte die Beiden nicht zusammen geführt. Ein herzliches Vertrauen, auf gegenseitige Sicherheit gegründet, verhinderte vielleicht gerade durch seine ruhige Wärme jene Leidenschaftlichkeit und jene stürmischen Gefühle, wie diese sich bei jüngern und weniger von der Erfahrung berührten liebenden Herzen zu finden pflegen.

Wie viel Gemeinsames aber die Beiden auch in äußern und innern Schicksalen besaßen, auf wie gleichem Standpunkte sie jetzt, da sie sich fanden, zu stehen schienen, der Unterschied zwischen ihnen war doch, daß sie dahin eigentlich den umgekehrten Weg gemacht hatten. Annemareili war durch sein häusliches, fleissiges und eingezognes Leben zu der Sparkasse gelangt, Rudolf hingegen durch die aufgezwungene Sparkasse zu einem ordentlichen, arbeitsamen und ehrbaren Wesen. Denn das ist ja der doppelte Segen derartiger Sparanstalten, daß sie ebensowohl dem im Schweiße des Angesichts erworbenen Nothpfennig einen sichern Zufluchtsort bieten, und auch größern Ersparnissen einen Sammelpunkt gegen eigne Schwäche und fremde Verführung, als daß sie anderseits eine Schule sind, den Sinn für Häuslichkeit und Arbeitsamkeit zu pflanzen und zu fördern, sowie den Widerstand gegen die Genußsucht zu erleichtern. In diesem Sinne ist der Besitz auch ein Sporn zu guten Gewohnheiten; das hat schon mancher Arbeiter und mehr als ein Dienstbote zu seinem Heile erfahren können.

Seitdem aber Annemareili und Rudolf, erst stillschweigend und bald in erklärter Uebereinstimmung einem bestimmten Ziele, ihrer Verbindung und der damit beginnenden Selbständigkeit entgegen giengen, vermehrten sich noch ihre Anstrengungen. Fast ängstlich sahen sie auf jeden Batzen, den sie als Baustein an ihr künftiges Glück sammeln könnten, und um so genauer vermieden sie das Kleinste, welches sie hätte aufhalten oder gar zurückbringen können: vor Allem jede Ausgabe, die nicht unvermeidlich nothwendig war. Ein wahrer Wetteifer entfaltete sich zwischen den Beiden, indem Annemareili wohl merkte, wie viel seinem Verlobten an jeder Ersparniß lag und es ja ihm seine Liebe dadurch darlegen konnte. Das Hauptvergnügen neben dem Sparen war ihnen das gemeinsame Plänemachen für die Zukunft, wobei es an Überschlägen und Berechnungen nicht fehlte, häufig genug gefolgt von einer neuen Anstrengung zur Mehrung ihres Vermögens. Dieses, von beiden Theilen zusammengeschossen, betrug bereits eine artige Summe, mit der sich im Nothfalle schon etwas anfangen ließ. Es war aber auch eine solche erforderlich für den Zweck, der sich eben als die schönste Gelegenheit bot. Rudolf war in seinem Heimatdorfe gewesen und brachte bei der Rückkehr von dort die Kunde mit, daß der Krämer, ihr ehmaliger Jugendfreund Heinrich, seinen Kramladen zu verkaufen gedenke, weil er nie Lust am Handeln gehabt als ein stiller und scheuer Mensch und, ledig wie er war, sein Leben auf eine ihm mehr zusagende Weise zu führen wünschte. Er suchte nur einen Liebhaber, dem er Haus und Geschäft zu annehmbaren Bedingungen abtreten könnte, und Rudolf hatte vorläufig mit ihm die Angelegenheit im Allgemeinen besprochen. Aufgeregt, aber in guter Stimmung, war Rudolf in die Stadt gekehrt und benützte die erste Gelegenheit mit Annemareili die Sache in ernstliche Erwägung zu ziehen. Da galt es denn den Anwurf für Haus und Geschäft nebst den ersten Einrichtungen des jungen Haushaltes in Berechnung zu ziehen; eine weitre Summe zum Betriebe durfte ebensowenig übersehen werden. Dieses Alles drohte aber, auch im bescheidensten Maße ausgeführt und bei der grösten Einschränkung des jungen Paares, die verfügbaren Mittel mehr als zu erschöpfen. Der Sache selbst fühlte sich zwar Rudolf wohl gewachsen; sein Besuch der Abendschule sowohl, als der langjährige Aufenthalt in dem Hause und Geschäfte Steinmanns, hatten ihn zu dem was die Führung eines Kaufladens betrifft, hinlänglich fähig gemacht, manches kleinre Kaufmännische, was sonst Commis besorgen, war durch das Zutrauen seines Herrn, Rudolf bereits schon anvertraut worden und hatte ihn tiefer in das Handelswesen eingeführt. Das konnte ihm jetzt trefflich zu statten kommen, wie er denn auch mit dem Kramladen keineswegs, was man sagt, die Katze im Sacke kaufte. Gleichwohl machte ihn der Geldpunkt etwas ängstlich, er fürchtete, mit den Ersparnissen doch nicht genügend auszureichen. Sein früherer leichter Sinn, sein kecker Muth schienen ihn ganz verlassen zu haben. Er rechnete und rechnete, konnte nicht vorsichtig genug sein; die Zinse des stehenbleibenden Capitales drückten ihn schon im Voraus, in allen Gliedern empfand er es, daß er bereit sei einen sehr entscheidungsvollen Schritt zu wagen. So war Rudolfs Herz und Kopf fast völlig von dem abzuschließenden Vertrage eingenommen und es wogte darin auf und ab. Heute hoffte er und war guter Dinge: die Bedingungen des Kaufes seien ja so günstig als möglich, für die Haushaltung in der ersten und schlimmsten Zeit brauche er so viel wie nichts, die meisten Waaren liefre ihm sein bisheriger Herr zu den vorteilhaftesten Preisen und mit Zahlungsterminen, die er selber bestimmen könne. Morgen dagegen überkam den armen Rudolf wieder ein entsetzliches Bangen und grenzenloser Kleinmuth: er sah Alles fehlschlagen, ein Gewirr von Verlegenheiten, eine Last von Schulden drohte ihn zu ersticken und zu erdrücken; er wünschte den Kramladen in's Pfefferland und wollte lieber sein Leben lang Knecht bleiben, als mit solchen Aengsten Herr sein. In kürzerm Wellenschlage machte Annemareili diese Schwankungen alle mit, indem es, bei der eignen Unkenntniß, seine Stimmung an der des Verlobten absah. Mit diesem freute es sich an der ständigen Zunahme ihres bescheidnen ersparten Vermögens; etwas aber schien ihm dabei doch auch zu fehlen und sogar eine kleine Furcht schlich ihm in's Herz. Diese Besorgniß hatte eine tiefre Wurzel als bei Rudolf. Wenn diesem die äußre Sicherheit noch nicht begründet genug erschien, zagte Annemareili wohl auch, allein es sagte: an Gottes Segen ist Alles gelegen! Dieß gab Rudolf zwar zu, aber er meinte doch: wenn sonst Alles in Ordnung sei, werde dieser Segen nicht fehlen, wo man Recht thue und das Seine ehrlich erwerbe; Das sei ja gerade der Lohn der Rechtschaffenheit! was man denn sonst vor einem Diebe oder Schelmen oder Lumpen voraushätte? Auf Solches schwieg denn wohl Annemareili, aber es hatte es ja nicht, so gemeint. Indeß gieng unwillkürlich und fast ohne vieles Zuthun die Angelegenheit durch alle diese Klippen und Sandbänke hindurch der endlichen Abwicklung entgegen, indem mehr als ein Berg sich von selber zu ebnen schien, sobald man sich ihm nahte, und mehr als ein gefahrdrohendes Riff unschädlich in die Tiefe versank, noch bevor das Lebensschifflein Annemareilis und Rudolfs nur daran gestoßen.

Unter allem Erwägen und Sorgen und Zweifeln waren daher die Zwei doch soweit gekommen, daß sie bereits den Tag festgesetzt, an welchem sie gemeinsam in ihrer Heimatgemeinde sich einfinden wollten, um mit den Behörden die nöthigen gesetzlichen Schritte zu vereinbaren und den Kramladen, sowie ihre häusliche Einrichtung an Ort und Stelle gemeinsam einzusehen und zu besprechen. Zu diesem wichtigen Gange hatten sie von ihren beidseitigen Herrschaften, die um den Zweck und das Ziel wußten, die Erlaubnis, sowie einige nöthige Anweisungen bereitwillig erhalten. Die Eisenhahn führte sie bis etwa zwei Stunden von Schwellbach, wohin ein freundliches Nebensträßchen zwischen Bergwiesen und am Waldsaume hin über die Anhöhe weg abzweigte. Es war im Herbste: Aster und Tausendguldenkraut blühten am Wege, der mit wilden Rosenbüschen stückweise begrenzt war, an denen aber jetzt nur feuerrothe Hagebutten an den langen dornigen Ranken über den Fußpfad sich hinneigten. Die hellgrüne Wiese, mit dem kurzen dichten Grase, prangte voll Herbstzeitlosen, die von dem freundlichen Sonnenschein erwärmt, nicht halb so frostig an den Winter mahnten, wie sonst ihre Art ist; hie und da stand auch ein einzelner Baum Bergkirschen, der jetzt tief in purpurnem Blätterschmucke prangte. Vogelsang war freilich nicht mehr viel zu hören. Wenn zwar da und dort noch ein Fink oder eine Meise in's Gebüsch oder über den freien Anger nach dem Walde zuflogen, geschah das ohne viel Aufhebens und meist zu praktischen Zwecken: sie trugen irgend eine Beere, ein verspätetes Würmlein als Beute zu Neste. Die Spinnen allein schienen ihr Webegeschäft noch in schwunghaftem Flore zu betreiben, den vielen Fäden und Netzen nach zu urtheilen, welche sie von Halm zu Halm und von Ast zu Ast hinzogen, als sollten nicht nur sämmtliche noch vorhandne matten Fliegen und Mückchen jetzt gefangen werden, sondern auch die Menschen, die etwa in der Herbstluft sich ergehen wollten, stak doch bald eine Nase in den Netzen, bald war eine Augsbraune umsponnen, oder ein Mund mitten im Sprechen durch ein paar derbe überzwerche Fäden plötzlich geschlossen. Es giengen übrigens nicht viel Leute des Weges; nur in der Ferne, auf einem tiefen Acker, waren Weiber und Männer und Kinder am Erdäpfelaushacken, noch weiter unten pflügte ein Knecht und sein eintöniges Hüst und Hott drang weit durch die herbstliche Stille dahin.

Annemareili und Rudolf bogen eben aus dem Hohlwege, der durch ein Stückchen Wald nach der freien Höhe führte, von wo der Ausblick in die Ferne und in das jenseitige Thal sich öffnete. Sie waren schweigend heraufgekommen, schweigend blieben sie jetzt auch stehen, wie überrascht von dem was sie sahen, obwohl ihnen Weg und Gegend nichts weniger als neu waren. Aber der längre Aufenthalt in der Stadt, in den engen Straßen und den hohen Mauern hatte ihnen die Augen für den ländlichen Reiz geschärft, altbekannt und doch frisch, und von dem herbstlichen sonnigen Dufte verklärt, machte Alles einen eigenthümlichen Eindruck auf sie. Da unten am Fuße des schon in Gelb und Roth prangenden bergigen Laubwaldes, der quer auf der saftgrünen Wiese lag, stand ihr Heimatdorf, der Kirchthurm mit dem eisernen Kreuze und die braunrothen Dächer schon von der Sonne beleuchtet, während die Mauern noch in blauen Schatten standen. Dem Bache entlang zog sich Buschwerk, von einzelnen Erlen überragt, hinten wölbten sich in sanften Linien und nur selten von einer gelben Fluh unterbrochen, die hügligen Berge, von Dunkelblau in dämmrigen Duft sich abstufend, nach ihrer Entfernung. Der Kirchthurm ragte über die tiefste Einsattelung des Gebirgzuges hinaus und schien neugierig durch die Lücke in die weite Welt draußen blicken zu wollen. Mancherlei Gedanken stiegen in den beiden Wanderern auf, denen diese aber, jedes für sich, stillschweigend nachhiengen: die einen flatterten in dem frischen Morgenwinde leicht über die Höhen dahin, andre hasteten schwerer und zäher, neue drängten unwillkürlich nach an die Stelle der entfliehenden. Es wogte und spielte und kämpfte in den Herzen fast wie in der Luft, Hoffnung und Freude dort mit Sorge und spannender Erwartung, wie hier die wärmenden Sonnenstrahlen mit der Morgenkälte, die aus den schattigen Theilen der Landschaft, wo sie hartnäckig Posto gefaßt, sich nicht wollte vertreiben lassen.

Annemareili trug ein Päcklein, in grau Papier gewickelt und mit einer Schnur zusammengebunden, während sein Begleiter ledig gieng. Ein andermal hätte Rudolf die kleine Last seiner Verlobten jedenfalls abgenommen, dießmal that er's nicht, bot es nicht einmal an; konnte es unbemerkt geschehen, so warf er sogar einen halb ärgerlichen Blick darauf. Als sie den Entschluß gefaßt, den Besuch in ihrem Heimatdorfe abzustatten, hatte Annemareili in guten Treuen von den Geschenken mit Rudolf zu sprechen angefangen, die sie den Ihrigen, wie üblich, bringen könnten; jedenfalls dem Stiefbrüderchen, doch auch der Stiefmutter würde es gerne etwas verehren; – der Vater war seit zwei Jahren todt. Was Rudolf den Seinen zu bringen gedenke? fragte es, als dieser stille schwieg. Fast etwas verlegen erwiderte er: er wüßte nicht was die Mutter besonders nöthig hatte, zudem fange er Dergleichen nicht gerne an, besonders jetzt nicht, da sie zu dem Ihren sehen müssten und für sich selber kaum ausreichen würden; es dünkte ihn, es wäre am besten, sie dächten erst an sich, es helfe ihnen ja auch niemand und man wisse nicht, was Alles noch an einen komme!

Annemareili konnte an sich bis auf's Aeußerste abbrechen und dabei fröhlichen Herzens sein. Etwas Anderes aber war es an Andern zu sparen; das vermochte es nicht. Es hätte sich schon vor den Leuten und seinen Verwandten geschämt, diesen, die so dürftig waren, nicht etwas zu kramen, es, dem es ja wohl gieng. Noch mehr aber verwehrte ihm dieß das Gutmeinen und Wohlwollen seines Herzens. Wußte es doch wie erwünscht ihnen ein Geschenk kam, wie angelegt auch es war und wie sie es erwarteten. Dem Stiefbruder, der in Unterricht gieng, hatte es Tuch zu einem Rocke bei seiner Confirmation zugedacht, der Stiefmutter zu einer Schürze für den Sonntag; es wäre ihm unmöglich gewesen mit leeren Händen vor sie zu treten. So sah es nur die Freude, die es verbreitete, und nicht den kleinen Abbruch an einer Summe, deren zukünftige Verwendung nur farblos im Allgemeinen ihm vor Augen stand. Und konnte es auch den Grund weder sich selbst klar machen, noch weniger ihn bestimmt angeben, so fühlte es deßhalb nicht minder lebhaft, daß es Recht habe und leistete so Widerstand gegen Rudolfs Bedenken, die sich ja auch nicht geradezu ihm hindernd in den Weg zu stellen wagten.

Diese Lust Annemareilis, andern Freude zumachen, und seine Liebe zu Rudolf ließen deßhalb auch keine tiefere Mißstimmung in ihm aufkommen, und es trug sein Päcklein getrost selber, durch den schönen Herbsttag vollends zur Heiterkeit aufgelegt. Sein Schweigen jetzt war mehr ein brautliches: das Herz war so voll, so erwartend, so von neuen Eindrücken umlagert, daß es ihm wohl that, nur stille in die blaue Ferne, auf die hellgrünen Matten hinblicken zu können und auf das Dörflein hinunter, darin es seine Jugend verbracht und wo ihm nun ein zweites schönres und reichres Leben aufgehen sollte.

Rudolf seinerseits hatte freilich einen andern Grund des Schweigens, er hatte etwas zu verarbeiten: einen kleinen Aerger über Annemareilis unzeitige Generosität, wie er es nannte, und dann ein Heer von Sorgen, Bedenken und Zweifeln, die beim Anblick des Dorfes, seines künftigen Aufenthaltes, wie böse Dünste aufzusteigen schienen und sich drückend über sein Hirn lagerten. Die nahende Entscheidung machte ihm diese Stimmung nicht erträglicher und in seiner Schwarzsichtigkeit las er aus dem Schweigen der Verlobten nichts als eine Bestätigung des eignen Mißbehagens und Besorgens.

Ohne Mahnung, ohne Verabredung, aber als hätte nun Jedes muthig seinen Entschluß gefaßt, schritten die Beiden rüstig dem Dürfe und dem heutigen Ziele zu. Nur bei den drei alten Nußbäumen, wo das Mädchen bei seiner Flucht vom Hause sich noch einmal umgekehrt und seine väterliche Wohnung noch einmal angeschaut, nur dort weilte Annemareili auch jetzt wieder einen Augenblick. Die Erinnerung jener langverflossnen Zeit wachte mit einmal lebendig in seiner Seele auf und es sah sein eignes verwahrlostes, aber jugendliches, Bild, wie das eines fremden Menschen vor dem geistigen Auge aufsteigen. Aber es schwieg; nur als Rudolf den Fußweg einschlagen wollte, der hinter den Häusern schneller nach der Mitte des Dorfes führte, drang es fast erregt darauf, den breitern aber weitern Fahrweg einzuschlagen, als fürchte es sich den abgelegnern Pfad jetzt zu begehen, auf dem es heimlich wie ein Dieb seiner Zeit sich davon geschlichen.

Wie sie sich vorgenommen, giengen die Verlobten zuerst zum Krämer, um vor Allem das Geschäftliche in's Reine zu bringen. Wie war er verkommen, der gute Heinrich! Seit den manchen Jahren, die es ihn nicht mehr gesehen, schien er Annemareili gar nicht gewachsen, ja eher noch kleiner geworden zu sein. Nur sein Gesicht war welker und die Züge älter; er sah aus wie ein Stück verlegner Waare seines Kramladens. Einiges Leben kam jedoch in das stille trockne Antlitz durch die unerwartete Begegnung mit der ehmaligen Freundin, wenn der Strahl der Freude, als ein matter Wiederschein, auch etwas mühsam durch die Jahre der Trennung drang und sich in den, der Jugendlichkeit entwöhnten Zügen nur nothdürftig behauptete. Da sei doch der Rudolf ein andrer Mensch! – mußte Annemareili unwillkürlich denken, als es die beiden Jugendgenossen neben einander sah und verglich. Auch bei der geschäftlichen Verhandlung über diesen und jenen Punkt zeigte sich der Unterschied: Rudolfs gewandte Entschlossenheit, sein durchgreifender Wille zwangen bei mehr als einem Anlasse den schwächern und blödern Heinrich zum Nachgeben und Willfahren. Unwillkürlich kam es hiebei Annemareili vor, die Zweie stritten sich wieder wie in der Knabenzeit und der Schmidtrudi mißbrauche seine Uebermacht gegen den Schwächern. Ja es wandelte das Mädchen mehr als einmal an, wieder dem Unterliegenden wie ehmals zu helfen und den Rudolf, zwar nicht mit Kratzen und Haarraufen zur Räson zu bringen, wohl aber durch einen ernstlichen Zuspruch, eine Mahnung oder eine Vorstellung seiner unbilligen Eigensucht. Rudolf war gewandt, tüchtig und wußte was er wollte, – darüber waltete kein Zweifel und diese Eigenschaften gefielen auch Annemareili. Was aber Schonung, Billigkeit oder gar zarte Rücksichten anbetraf, so waren diese seine schwache Seite. Weniger weil er rohen und harten Herzens gewesen, als weil er der Meinung war, dergleichen gehörten nicht in den Handel. Sein Grundsatz war vielmehr: Jeder solle sich wehren so gut er vermöge und nach Kräften seinen Vortheil wahren; versteht sich, ohne den Vorwurf der Unehrlichkeit auf sich zu laden! Mehr als einmal auch wandte sich Heinrich, wenn er in's Gedränge gerieth, an Annemareilis Billigkeitsgefühl und stellte ihm den Entscheid anheim. Dem Mädchen war das peinlich, um Rudolfs willen, weil es wohl merkte, wie dieser erwartete, daß es ihm zustimme, und ebenso wegen Heinrichs, dem es nicht selber zu nahe treten konnte. Es suchte sich deßhalb aus der Verlegenheit zu ziehen indem es sagte: darauf verstehe es sich nicht, zudem sei es parteiisch; des Rudolfs Nutzen sei ja auch seiner. Da aber gab Heinrich erst recht nach, als fühle er sich ganz wehrlos und verlassen, sodaß Annemareili ordentlich froh ward, als sie endlich in's Reine gekommen und den Krämer und sein Haus wieder verließen, die Ortsbehörden und die eignen Verwandten aufzusuchen.

In wie lockrer Verbindung Annemareili auch mit der Stiefmutter stand, es hatte aus Schicklichkeitsgefühl doch darauf gehalten sie jetzt auch zu besuchen. Mehr mochte es sich noch zu seinem Stiefbruder angezogen fühlen, den es ja von klein auf wie einen wirklichen Bruder geliebt. Rudolf begleitete seine Verlobte. Sie wurden von der Stiefmutter leidlich freundlich aufgenommen, besonders als diese den ihr bestimmten Kram sah. Mit dem Danke kam aber auch ein großer Schwall Klagen über ihre Noth und Dürftigkeit, wie die Kinder ihr eine Last seien, ihr niemand helfe und sie oft nicht wisse wo nehmen und wo wehren. Und die Armut und die Unordnung die in allem sich in der Wohnung kundgaben, drückten Annemareili auf dem Herzen. Halb schämte es sich vor Rudolf, noch mehr aber fiel ihm der Gedanke peinlich, wieder in solcher Armütigkeit leben zu müssen, in der es doch leichten Blutes so manches Jahr verbracht. Und was ihm noch mehr zuwider war als die äußre Dürftigkeit, das war der rohe und unfreundliche Geist, der hier sein Wesen hatte und mit seinem verwilderten Blicke Alles ansah, und beurtheilte. An ihm merkte es am auffälligsten die große Veränderung die es selbst in der Zwischenzeit erfahren. Ein unbehagliches Gefühl, ja ein tiefes Bedauern überkam es besonders auch wegen seines Stiefbruders, der in dieser Luft leben mußte und jetzt gerade, wo sein junges Gemüt durch den Confirmationsunterricht sich Höhrem und Bessrem zuwenden sollte. Der Knabe äußerte, im Gegensatz zu seiner Mutter, eine aufrichtige und lebhafte Freude beim Wiedersehen Annemareilis, auch bevor ihm dieses seinen Kram ausgepackt. Und auch als er das wahrhafte und gute Tuch zu dem Feierkleide in Händen hielt, war es wohl ebenso sehr die Freude über die Anhänglichkeit des lieben Annemareilis, als der Werth des Geschenkes, was seine Wangen röthete. Die Scheu vor der »vornehmen« Schwester, die in der Stadt in einem Herrenhause lebte und jetzt noch obendrein verlobt war, verlor sich bei dem Burschen bald und die alte Traulichkeit brach wieder hervor, da auch er die frühre Liebe wiederfand. Der offne Junge trug seine Gefühle sogar theilweise auf Rudolf über, sah er doch nun Beide als zusammengehörend an, besonders da der künftige Schwager auch ihm sich freundlich zeigte.

Als die Stiefmutter für einen Augenblick die Stube verlassen hatte, machte der Knabe mit seinem frischerwachten und freudigen Vertrauen sich alsbald an Annemareili und drückte ihm den Wunsch aus, in die Lehre zu treten und ein Handwerk zu erlernen. »Die Mutter will nichts davon wissen,« schloß der Knabe, – »sie sagte ich solle mich an dich wenden.«

Annemareili war hiedurch überrascht, wenn ihm in dem Wunsche auch gleich das richtigste Mittel zu liegen schien, den Stiefbruder in bessre Verhältnisse als hier zu bringen und so gründlich für seine Zukunft zu sorgen. Es warf, ohne etwas zu erwidern, einen Blick, halb fragend, halb bittend, auf Rudolf, der roth wurde, aber nur kurz bemerkte: dazu müsse sich der Knabe an seinen Vogt wenden und dieser wahrscheinlich dann an die Gemeinde! Der Junge blickte seinen künftigen Schwager ob dieses Rathes etwas scheu und verlegen an, und sein Auge flüchtete dann zu Annemareili, ob dieses nicht ein tröstlicheres Wort für ihn habe? Es schwieg, sein Blick jedoch schien dem Bruder eher Hoffnung machen, als ihm diese benehmen zu wollen. Eine weitre Verhandlung fand keine Statt und bald hernach trennte man sich, mit Ausnahme Annemareilis und des Stiefbruders ohne viel Wärme, um nun noch Rudolfs Mutter zu besuchen und ihr des Sohnes künftige Frau vorzuführen.


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