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Vierzehntes Kapitel.

Willy Arnold an Bord des »Pelikan«. – Dr. Schuster. – Auf der Gräting. – Der »Luzifer«. – Dr. Schusters Schwimmgürtel.

 

Wir haben jetzt eine lange Zeit nichts von Willy Arnolds Schicksalen gehört, und da es den Lesern angenehm sein dürfte, wenn sie in dieser Hinsicht aus ihrer Ungewißheit gerissen werden, so will ich die Geschichte meines Freundes, wie er sie mir später erzählt hat, hier schon einfügen. Seine Erlebnisse an Bord der »Medusa« waren so seltsam und zum Teil so ungewöhnlich, wie man es kaum für möglich halten sollte. Allein unter Piraten kann man eben Dinge erleben, von denen man unter gesitteten Menschen sich kaum etwas träumen läßt. Alles in allem blieb Alvarado in keinem Stücke hinter den Traditionen seiner Vorläufer, der alten Flibustier, zurück.

Man wird sich erinnern, daß Willy Arnold auf hoher See den »Perseus« verließ, um an Bord der »Medusa« zu gehen, und daß er von dort aus ein Boot zurückgeschickt hatte, um im Austausch für ein Huhn eine Flasche Champagner für den Kapitän des »Pelikan«, wie sich ja die »Medusa« damals nannte, zu erbitten, und daß Kapitän Dickson zugleich mit dem Wein auch die Weisung an ihn ergehen ließ, seinen Besuch an Bord des fremden Dampfers abzukürzen und sofort auf den »Perseus« zurückzukommen. Anstatt nun aber dieser Weisung zu folgen, ließ Willy sich von dem rachsüchtigen Alvarado davonführen und zwar unter Umständen, mit denen ich den Leser bereits bekannt gemacht habe. Ich will nunmehr die fernere Handlungsweise des Piraten und deren Gründe klarzulegen suchen und dann zu geeigneter Zeit den Faden unserer Geschichte wieder aufnehmen.

Nach Willys Bericht war er damals an Bord des »Pelikan« äußerst höflich empfangen worden. Die Flasche Champagner wurde geöffnet, und Alvarado schenkte sich einen Pokal voll ein.

»Sie sagten mir ja wohl, junger Mann,« fuhr er dann in der begonnenen Unterhaltung fort, »daß Ihr Kapitän sich auf der Suche nach einem Seeräuber befinde? Das wundert mich einigermaßen, da, soviel ich weiß, in diesen Gewässern seit Menschengedenken keine Seeräuber gesehen worden sind.«

»In diesen Gewässern allerdings nicht,« bestätigte Willy vorsichtig.

»Warum hat dann aber Ihr Kapitän auf uns feuern lassen?« fragte der dunkelhäutige Führer des »Pelikan« weiter.

»Soviel ich weiß, nur um Sie zum Beidrehen zu bewegen,« sagte Willy, der sich unbehaglich zu fühlen begann, denn er bemerkte in Alvarados Auge einen Ausdruck, der Unheil vermuten ließ.

»Wenn Sie gestatten, Kapitän, dann will ich jetzt wieder ins Boot gehen,« fügte er hinzu.

»O nicht doch, bleiben Sie doch noch bei uns,« rief Alvarado mit eigentümlichem Lächeln. »Es sollte uns leid thun, einen so alten Bekannten so bald wieder zu verlieren; auch mein Neffe wird sich freuen, Sie wiederzusehen.«

»Ihr Neffe!« rief Willy in zum Teil ungeheucheltem Erstaunen, denn es erschreckte ihn, sich von Alvarado erkannt zu sehen.

»Jawohl, mein Neffe; erinnern Sie sich Ihres Freundes Rufino Garillas nicht mehr?« rief der Seeräuber in angenommener Verwunderung, »und ich glaubte doch immer, daß die jungen deutschen Herren auch noch im späteren Leben mit einander befreundet blieben, wenn sie so lange auf der Schule bei einander gewesen waren.«

»Das ist auch der Fall; aber mit Spitzbuben und Schwindlern hält bei uns zu Lande niemand Freundschaft!« entgegnete Willy fest und kühn, aber übereilt.

»Was Sie mir da sagen, Herr Willy Arnold!« höhnte der Pirat. Dann berührte er eine Glocke, und ein Matrose erschien in der Thür der Kajüte.

»Peters soll herkommen, und auch mein Neffe!«

Der Matrose verschwand. Eine Minute später erschien ein großer, breitschultriger Mann und mit ihm Rufino Garillas, unser alter Bekannter.

Der Kapitän flüsterte dem großen Seemann einige Instruktionen ins Ohr, welche dahin lauteten, die Bootsmannschaft des Perseusbootes über Bord zu werfen und den »Pelikan« unter Volldampf davongehen zu lassen; der Leser weiß bereits, daß und wie diese Befehle ausgeführt wurden.

Willy hörte den kurzen Kampf an Deck und dann wie die über Bord geworfenen Matrosen ins Wasser fielen. Auch den Befehl vernahm er, der in den Maschinenraum hinabgerufen wurde; er war aber um dieselbe Zeit zu sehr mit dem beschäftigt, was ihm persönlich zustieß und hatte weder Neigung noch Zeit, sich um etwas anderes zu kümmern.

Rufino war unmittelbar hinter dem Seemann, der den Namen Peters führte, eingetreten, und während Alvarado sich mit diesem besprach, stellte er sich dicht vor Willy hin und betrachtete diesen mit höhnischem Triumph von oben bis unten. Willy gab ihm diesen Blick nach allen Kräften zurück, ohne sich zu einem Zeichen des Wiedererkennens verleiten zu lassen.

»Rufino,« sagte Kapitän Alvarado, als Peters die Kajüte verlassen hatte, »kennst du diesen jungen Menschen?«

Rufino nickte.

»Arnold,« sagte er.

»Jawohl, Arnold,« wiederholte Willy verächtlich.

»Was will der hier?« fragte Rufino.

»Was er hier will? Dich will er, und mich will er, und er sagt, wir wären Spitzbuben, Schwindler und Seeräuber. Es ist nicht höflich von ihm, uns dies in unserer eigenen Kajüte zu sagen, und ich denke, daß wir ihm erst einige Manieren beibringen.«

»Du nennst mich einen Spitzbuben und einen Räuber?« fragte Rufino, dicht an Willy herantretend.

»Jawohl,« erwiderte Willy. »Du hast, ehe du von der Schule gingst, meines Freundes Geld und Papiere gestohlen, und jener Mann dort ist ein Pirat, ein Fälscher und ein Schwindler!«

»Laß ihn nur über mich reden, was er will,« bemerkte Alvarado mit einem wölfischen Grinsen, welches alle seine weißen Zähne zum Vorschein brachte. Er lächelte nicht, wie andere Leute lächeln, seine Lippen zogen sich einfach nach allen Seiten von seinen Zähnen zurück, als ob die Muskeln seines Mundes sich zusammenkrampften. Willy beschrieb dieses Lächeln als ein Bullenbeißergrinsen.

»Jetzt will ich dir heimzahlen,« sagte Rufino. »Auch das, was ich deinem Freunde, dem Heinrich Lubau, noch schuldig bin, will ich an dich abtragen. Du bist in unserer Gewalt, und du sollst hier an Bord ein lustiges Leben führen. Ein Pirat also bin ich – nimm das dafür! Und ein Spitzbube – nimm das dafür! Und ein Schwindler – nimm das, und das, und das!«

Bei jeder Wiederholung dieser Worte versetzte der junge Bandit dem armen Willy einen Schlag, gegen den der letztere sich so gut als möglich zu decken versuchte. Er hütete sich jedoch, diese Schläge zu erwidern, weil er fürchtete, dadurch Alvarado noch mehr zu reizen.

Als aber Rufino schließlich ein Tauende ergriff und auf Alvarados Aufforderung seinen alten Schulkameraden damit zu mißhandeln begann, verließ diesen endlich die Geduld. Wie jener Matrose, welcher behauptete, daß er so ruhig wie ein Lamm sei, solange er nicht zornig wäre, konnte auch Willy ein gut Teil schlechte Behandlung ertragen; als die Sache aber bis zum Tauende gediehen war, zog er die Grenze, und dies sogar, als er sich vollständig und schutzlos in den Händen seiner Feinde wußte. Der erste Schlag war kaum auf seine Schultern gefallen, als er die auf dem Tische stehende Champagnerflasche ergriff und sie gegen Rufinos Kopf schleuderte.

Das Wurfgeschoß traf die Stirn des jungen Banditen, so daß das Gesicht desselben augenblicklich mit Blut bedeckt war. Alvarado sprang von seinem Sitze auf, zog eine Pistole, zielte auf Willy und feuerte. Dann eilte er auf seinen Neffen zu und beschäftigte sich mit der Wunde desselben.

Willy lag an Deck der Kajüte und rührte kein Glied. Er hatte noch zur rechten Zeit gesehen, wie der Kapitän in blinder Wut nach dem Pistol griff und war mit Blitzesschnelle unter den Tisch hinabgetaucht; hier lag er nun unverletzt, aber vor Furcht zitternd. Unmittelbar, nachdem der Schuß gefallen war, kamen Peters und noch ein anderer Mann die Kajüte herabgepoltert, um zu sehen, was es gäbe. Die Sache war mit wenigen Worten erklärt, und Rufino wurde von dem mit Peters eingetretenen Mann, welcher der Schiffsdoktor war, hinweggeführt.

Die Verletzung des jungen Seeräubers sah schlimmer aus, als sie in der That war; die Blutung war bald gehemmt, die Wunde verbunden, und nun erinnerte er sich zähneknirschend wieder seiner unterbrochenen Rache.

Willy lag indessen, von dem Matrosen Peters an Händen und Füßen gebunden und an das Bein des Kajütentisches gefesselt am Boden. Trotzdem war Rufino gezwungen, seine Rachegelüste fürs erste noch aufzuschieben, da inzwischen eine Änderung des Wetters eingetreten war und alle Mann an Deck nötig wurden. Kapitän Dickson war es gelungen, seine von Alvarado über Bord geworfenen Leute wieder aufzufischen, und es war nunmehr zu erwarten, daß der »Perseus« alles aufbieten würde, den »Pelikan« zu erreichen und zur Verantwortung zu ziehen. Es galt daher dem letzteren die größtmögliche Schnelligkeit zu verleihen, und so wurden zunächst alle Segel gesetzt, die das Fahrzeug nur zu schleppen vermochte.

Inzwischen war das Tageslicht der schnell hereinbrechenden tropischen Nacht gewichen. Beide Schiffe hatten die Vorsichtsmaßregeln getroffen, keine Seitenlichter herauszubringen, und so hatten sie in der Finsternis einander gar bald aus den Augen verloren. Wir wissen, daß der »Perseus« die Verfolgung des Seeräubers sehr bald als nutzlos aufgab. Alvarado aber wußte dies nicht und mußte daher jeden Augenblick gewärtig sein, die dunkle Masse des feindlichen Fahrzeuges entweder dicht hinter sich oder aber zu seiner Seite in der Finsternis auftauchen zu sehen. Gar bald machte sich auch der Wind stärker auf, und ehe noch die kleineren Segel geborgen werden konnten, war eine jener Regenböen über den »Pelikan« hergefallen, die zwischen den Wendekreisen so häufig sind, die eben so schnell gehen, als sie kommen, während ihrer kurzen Dauer aber an Heftigkeit den wütendsten Cyklonen nichts nachzugeben pflegen.

Die Mannschaft des Piratenfahrzeuges hatte also alle Hände voll zu thun, um so mehr, als dieser ersten Bö noch eine zweite und dieser endlich noch eine dritte folgte; der »Pelikan« wurde hart mitgenommen, und wenn er auch weiter keine Havarie davontrug, so legte sich doch der Wirrwarr an Bord erst, als am nächsten Morgen die Sonne längst schon wieder aufgegangen war.

Und so geschah es, daß während der ganzen Nacht niemand an Willy Arnold dachte, der, auf das grausamste gefesselt, mit dem Gesicht nach unten auf dem staubigen und beschmutzten Teppich der Kajüte lag und dem bei dem schweren Stampfen und Rollen des Schiffes fast die Seele aus dem Leibe gerüttelt worden war. Außerdem war er halb verschmachtet; denn er hatte seit dem Mittag des vergangenen Tages weder etwas gegessen, noch auch einen Tropfen Wasser über seine Lippen gebracht.

Das Wetter war wieder ruhig geworden, der Raddampfer durchpflügte wieder in gleichmäßiger Bewegung die See, und als an Deck acht Glasen geschlagen wurden, betrat Rufino Garillas leisen Schrittes und vergnügt die Hände reibend wieder die Kajüte. Willy lag in halber Ohnmacht und bemerkte ihn kaum.

»He, du da!« sagte Rufino, indem er seinen alten Schulkameraden mit dem Fuße anstieß. »Steh auf! Willst du denn hier bis in den hellen Mittag hinein schlafen?«

Willy fühlte sich so elend und so gleichgültig gegen Leben oder Sterben, daß er keine Antwort gab.

»Du da, steh auf!« wiederholte der halbblütige Bursche, »hörst du nicht, wenn dein Herr dir befiehlt?«

Willy aber rührte sich nicht. Als Rufino entdeckte, daß sein Opfer selbst mit dem besten Willen nicht aufstehen konnte, durchschnitt er die Leine, welche die Arme desselben an das Tischbein fesselte und befahl ihm nun noch einmal, sich zu erheben.

Willy gehorchte jetzt endlich, mußte sich dann aber am Tische festhalten, um nicht wieder umzusinken. Er zitterte vor Schwäche; Rufino aber glaubte, darin ein Zeichen der Furcht zu erkennen.

»Nun wollen wir einmal sehen, wer hier ein Dieb und ein Räuber ist, mein lieber Arnold,« sagte er.

»Der bist du,« murmelte Willy. »Du und dein Onkel oder Vater; du mußt am besten wissen, welches von beiden er ist.«

»Du singst also noch immer aus der alten Tonart? Nun, ich denke, du wirst dies ändern, wenn du erst die neunschwänzige Katze auf deinem Rücken spürst; wir haben nämlich dieses niedliche Instrument auf unserem Schiffe eingeführt, und zwar schreibe ich mir dieses Verdienst zu; du wirst nun der erste sein, der sie zu kosten bekommt.«

Willy schauderte. Trotzdem erwiderte er mannhaft: »Ich fürchte deine Katze nicht; ehe ihr mich an Deck geschleift haben werdet, bin ich tot.«

»Du irrst dich, so schnell stirbt man nicht; auch liegt uns gar nichts daran, dich zu töten. Du siehst, wir können auch gnädig sein, obgleich wir in der That Diebe, Räuber und Mörder sind.«

Bei jedem dieser letzten Worte versetzte Rufino seinem wehrlosen Opfer einen neuen Schlag oder Stoß; Willy war zu schwach, um mehr zu thun, als die Schläge mühsam abzuwehren. Der junge Bandit griff in seiner Tücke soeben noch einmal zum Tauende, als der Schiffsdoktor plötzlich wieder in der Kajüte erschien.

Derselbe war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, von untersetzter, kräftiger Figur, mit rotem Gesicht und noch röterem Bart und einer Stahlbrille vor den graublauen Augen. Er hatte schon frühzeitig in seinem Beruf Schiffbruch gelitten, obgleich es ihm weder an Wissen noch an Talent fehlte; er war eins jener vielen Opfer des studentischen Frühschoppens, das Lied von den alten Deutschen, die »immer noch eins« tranken, hatte es ihm angethan und den in ihm schlummernden Teufel des Durstes erweckt, so daß er, als die Universitätsbummelei aufhörte und das praktische Leben seine ernsten Forderungen an ihn stellte, nicht mehr die Energie besaß, der Gewohnheit des Trinkens zu entsagen. Der Trunk hatte ihm seine Laufbahn untergraben und ihm die Achtung seiner Mitmenschen abwendig gemacht, er war von Stufe zu Stufe gesunken und endlich ein Abenteurer, ein Industrieritter, ein Mensch ohne Existenz geworden.

Er hatte in Rostock studiert und dort auch, trotz seines Lasters und nur vermöge seiner außerordentlichen Begabung, sein Doktorexamen bestanden. In Hamburg versuchte er darauf sich einen Wirkungskreis zu gründen, allein diese große, an verführerischen Gelegenheiten so überreiche Stadt erwies sich gerade für ihn als der ungeeignetste Ort. Anfänglich bot sein guter Genius ihm noch einmal die Hand. Ein angesehenes, gastfreies Haus öffnete sich ihm. Der Herr desselben, ein wohlmeinender, welterfahrener und christlich denkender Mann, versuchte alles, den mit so vielversprechenden Gaben ausgerüsteten jungen Mann auf der Bahn des Guten zu erhalten, er ward sein Helfer, sein zweiter Vater; allein umsonst. Der Unselige vermochte sich trotz allen Rates, trotz aller Unterstützungen, nicht zu halten, er sank tiefer und tiefer, denn der Teufel des Trunkes giebt seine Opfer so leicht nicht wieder frei. Er verschwand eines Tages aus Hamburg, zum großen Schmerze seines Gönners, und tauchte nach einiger Zeit als verkommener Mensch in Bremen wieder auf. Hier und in Bremerhaven bemühte er sich, an Bord eines nach Amerika gehenden Schiffes eine Stelle als Matrose oder Koch zu erlangen, um jenseit des Oceans sein verlorenes Leben in Vergessenheit beschließen zu können. Da fiel er dem Steuermann Wittmarsch in die Hände, der ihm das Anerbieten machte, ihm als Schiffsdoktor an Bord der »Medusa« zu folgen. Der Unglückliche ergriff diese Gelegenheit mit Freuden, und auf diese Weise geriet er unter die Seeräuber. An Bord von Alvarados Schiff gingen ihm gar bald die Augen auf. So tief war er noch nicht gefallen, daß sein ganzes Innere sich nicht hätte empören sollen bei dem Treiben, welches er täglich in seiner neuen Umgebung beobachten mußte. Er begann sein Leben zu hassen und zu verachten, er haßte Alvarado und das Gesindel, mit dem er umzugehen gezwungen war. Die Strafe für sein leichtsinniges und lasterhaftes Thun hatte ihn ereilt ...

»Hallo!« rief der Doktor, »was soll das heißen?«

»Das geht Sie nichts an,« entgegnete Rufino.

»So, meinen Sie?« sagte der Doktor. »Dieser junge Mensch ist ein Gefangener, nicht wahr? Gut, dann ist es eine Feigheit, sich an einem wehrlosen Gefangenen zu vergreifen. Lassen Sie ihn in Ruhe, Rufino. Zudem ist er krank und elend, und es ist daher doppelt meine Pflicht, mich seiner anzunehmen. Nun wissen Sie, wieviel es mich angeht.«

»Sie haben sich in meine Angelegenheiten nicht hineinzumischen!« entgegnete Rufino heftig. »Vergessen Sie nicht, daß Sie unter meines Onkels Kommando stehen. Dieser Bursche hier ist ein Spion, und es beliebt mir, ihn als einen solchen zu behandeln. Außerdem soll er wegen seiner Verräterei gepeitscht werden; ich gebe Ihnen den guten Rat, Ihre Hände davon zu halten, Doktor.«

»Wenn er die Peitsche verdient hat, so mag er meinetwegen gepeitscht werden; ich werde aber nimmermehr zugeben, daß er hier vor der Zeit gemißhandelt und geängstigt wird. Er ist jetzt bereits schon halbtot vor Erschöpfung. Reichen Sie mir die Flasche da herüber, Rufino.«

Er deutete auf eine Branntweinflasche, die unter verschiedenen Karaffen in einem kleinen, offenen Eckschrank stand.

»Die Flasche bekommen Sie nicht, Doktor,« entgegnete Rufino höhnisch. »Sie haben heute schon wieder genug Branntwein im Leibe, ich sehe Ihnen das an.«

Ohne ein Wort der Entgegnung maß ihn der Doktor mit einem Ausdruck, der ihn verstummen ließ. Dann näherte er sich dem halbblütigen Burschen, packte ihn am Kragen, führte ihn zur Thür, stieß ihn hinaus und kehrte dann zu Willy zurück.

»Nehmen Sie einen Tropfen aus dieser Flasche,« sagte er gütig, »nicht viel, denn es ist Gift; ich habe seine verderbliche Eigenschaft kennen gelernt. So, das ist genug; das wird Ihnen gut thun. Man will Sie also peitschen?«

»Ja, wenigstens sagte dies der Bandit, mein ehemaliger Schulgefährte.«

»Dann fürchte ich, daß er es auch thun wird; er ist der leibhaftige Teufel. Alvarado ist schon schlimm genug, aber sein Neffe übertrifft ihn noch bei weitem. Sie müssen schon sehen, wie Sie die Tortur überstehen.«

»O mein Gott!« rief der arme Willy, »können Sie mir denn nicht helfen?«

»Ich darf es nicht. Man würde mich über den Haufen schießen wie einen Hund. Was haben Sie denn gethan?«

»Nichts!« erwiderte Willy.

»Nun, das ist nicht viel. Aber ich erinnere mich, daß ich auch immer so sagte, als ich noch ein Knabe war; erzählen Sie mir aufrichtig, was vorgefallen ist. Sie sehen, ich befinde mich hier an Bord in einer ziemlich unabhängigen Stellung. Ich kann manches thun und lassen, was andere nicht dürfen, weil ich eben der Doktor bin. Reden Sie also frei heraus!«

Daraufhin erzählte ihm Willy in hastigen Worten, was ihn an Bord des »Pelikan« geführt und woher seine Bekanntschaft mit Rufino stammte.

»Wie heißen Sie?« fragte der Doktor.

»Willy Arnold,« entgegnete der junge Mann.

»Arnold – Arnold!« murmelte der Doktor. »Ich erinnere mich eines Arnold, den ich in meinen jungen Jahren kannte, als ich mich in Hamburg aufhielt. Er war ein Rheder oder ein Schiffsbaumeister, ich weiß nicht gleich mehr was. Ich war ihm Dank schuldig; er hat mir manchen guten Dienst erwiesen. Wollte Gott, daß ich seinem Rat gefolgt wäre!«

»Der Schiffsbaumeister Arnold ist mein Vater!« sagte Willy. »Ich bin in Hamburg zu Hause, auf Steinwärder.«

»Ganz recht, ganz recht!« rief der Doktor. »Das ist derselbe Mann! Mein guter braver Arnold ist also Ihr Vater! Wie seltsam verschlungen sind doch die Wege der Menschen! Und jetzt erinnere ich mich auch Ihrer; Sie waren damals noch ein Kind und hatten eine Schwester, die, wenn ich nicht irre, Gertrud hieß. Ist's nicht so?«

»Jawohl, meine gute Schwester heißt Gertrud. Ich entsinne mich aber nicht, Sie jemals gesehen zu haben.«

»Das freut mich, junger Mann, das freut mich! Ich bin ohnehin schon bekannt genug; mehr als mir lieb ist und zwar von meiner allerschlechtesten Seite. Mein Name ist Schuster, Doktor Schuster, aber darauf kommt es hier nicht an. Ich erinnere mich mit Dank und tiefer Rührung Ihres Vaters und auch Ihrer Frau Mutter. Sie haben beide christlich, ja mehr als christlich an mir gehandelt, und ich danke Gott, daß ich an ihren Sohn den Dank abtragen kann, den sie von mir nie angenommen haben.«

Willy suchte noch vergeblich nach Worten, um seiner Freude über diese unerwartete Wendung der Dinge Ausdruck zu geben, als Alvarado, gefolgt von seinem Neffen, in der Kajüte erschien.

»Was hat man mir da hinterbracht, Doktor?« fragte der erstere. »Ich höre, daß Sie meinen Neffen aus der Kajüte geworfen haben.«

»Gewiß,« antwortete Doktor Schuster, »gewiß habe ich das gethan, und zwar weil er in unverantwortlicher Weise diesen wehrlosen jungen Menschen hier mißhandelte. Gerechtigkeit vor allem!«

»Das ist Ihre Ansicht, mit der ich aber nicht einverstanden bin. Hüten Sie sich, noch einmal eine solche Ausschreitung zu begehen. Heda, Wittmarsch!« rief er an Deck hinauf. »Lassen Sie die Leute antreten, machen Sie die Gräting Hölzernes Gitterwerk, teils als Lukenverschluß, teils als Unterlage an Deck verwendet; letzteres besonders am Ruder, um dem Steuernden einen möglichst trockenen Standort zu sichern. klar, und dann holen Sie Ihre Peitsche!«

»Sie wollen also den armen jungen Menschen wirklich lebendig schinden?« fragte der Doktor entrüstet.

»Von einem armen jungen Menschen ist hier nicht die Rede. Rufino wird sich einfach das Vergnügen machen, den heimtückischen Spion dort durchzuprügeln. Schaffen Sie ihn an Deck!«

Der Doktor that, wie ihm geheißen. Oben angekommen, begann er von neuem:

»Kapitän Alvarado, der junge Arnold ist gegenwärtig in einem so elenden Zustande, daß er die Strafe nicht lebend überstehen wird; ich mache Sie ausdrücklich darauf aufmerksam.«

»Nun, und was ist dabei? Dann haben wir einen Fresser weniger an Bord; das ist der ganze Unterschied.«

»Ich erlaube mir, Sie daran zu erinnern, daß das Strafrecht aller civilisierten Völker einen Mord auf hoher See ebenso ahndet, wie einen Mord am Lande. Arnold peitschen, heißt ihn umbringen; warten Sie wenigstens damit, bis wir im Hafen sind.«

»Das ist Narrengeschwätz!« rief Rufino wütend. »Steuermann Wittmarsch, binden Sie den Halunken hier auf die Gräting!«

»Jawohl,« nickte Alvarado grinsend, »und reckt ihn mir ordentlich aus. Wittmarsch, Peters, thut eure Schuldigkeit!«

Wittmarsch, der brutale Steuermann, war seit langem daran gewöhnt, das Leben eines Menschen nicht höher zu achten, als das eines Hundes. Er packte Willy mit rauher Faust und hatte ihn in wenigen Augenblicken auf die Gräting gebunden. Peters stand einige Schritte beiseite und rührte keinen Finger.

»Aha!« sagte Rufino, indem er die neunsträhnige Katze mit den Fingern glättete und kämmte, »endlich sind wir so weit, mein teurer Schulkamerad! Platz da, Leute! Ich werde euch zeigen, wie man einem Spion das Fell striegelt!«

Willy lag mit entblößtem Rücken auf der Gräting; er war blaß wie der Tod; es schien, als sei er sich dessen, was mit ihm vorging, kaum bewußt; trotzdem hörte er des Doktors Worte:

»Ich warne Sie noch einmal!« sagte der letztere. »Diese feige Nichtswürdigkeit wird Ihnen heimgezahlt werden! Kapitän Alvarado, die ganze schwere Verantwortung komme über Ihr Haupt! Hätte ich früher gewußt, daß Sie ein solcher Unmensch sind, so hätte ich dieses verfluchte Schiff mit keinem Fuß betreten!«

Alvarado erwiderte kein Wort; er wandte sich kurz ab und ging hinunter in die Kajüte. In seinem Innersten sagte er sich selber, daß dies eine ganz unnötige Grausamkeit sei. Rufino schwang die Katze sausend im Kreise, und im nächsten Moment wäre das schreckliche Marterinstrument auf Willys Schultern herabgefallen, wenn der Matrose Peters sich jetzt nicht zwischen ihn und sein Opfer geworfen hätte. Er packte mit seiner gewaltigen Faust den Arm des rachsüchtigen Halbblutes und rief mit einem schweren Fluche:

»Halt, junger Herr! Daraus wird nichts! Wenn Sie jemand knuten wollen, so knuten Sie meinetwegen mich, aber nicht den armen halbtoten Jungen da. Das wäre eine niederträchtige Feigheit, die nicht geschehen soll, so lange ich hier an Deck stehe!«

Aus der Gruppe der versammelten Seeleute erhob sich ein Murmeln des Beifalls; die schmachvolle Handlung, die sich hier vor ihren Augen vollziehen sollte, hatte selbst in den verwilderten Gemütern dieser Seeräuber noch männliche Empfindungen wachgerufen.

Rufino versuchte sich von dem Griff des Matrosen zu befreien.

»Ich werde knuten, wen mir beliebt!« rief er wild. »Ich bin der Leutnant hier an Bord, und wer hier meinen Willen kreuzt, der kommt auch auf die Gräting, wie der da. Laß mich los, Kerl!«

»Wirf die Katze fort, Bluthund!« rief der Matrose drohend.

Mit einem schnellen Rucke befreite sich Rufino aus dem Griff des Mannes; er schwang die Geißel hoch empor.

»Zurück!« rief er. »Zurück, du Meuterer!«

Der Matrose stand noch immer zwischen ihm und seinem Opfer. Außer sich vor Wut ließ Rufino die Katze niedersausen und traf damit des Mannes Gesicht.

Drei feuerrote Schwielen zeigten sich auf der bärtigen Wange desselben; aber kein Wort kam über seine Lippen. Er trat einen Schritt vorwärts und schlug den Halbblut mit einem einzigen Schlage an Deck nieder. Dann riß er demselben die Katze aus der Hand, und noch ehe ihn jemand daran hindern konnte, hatte er dem Daliegenden ein halbes Dutzend fürchterlicher Hiebe über Hals und Schultern mit dem Marterinstrument versetzt.

Dann richtete er sich auf, schaute sich im Kreise um und schleuderte die Geißel ins Meer. Er wußte, daß er durch diese That sein Leben verwirkt hatte; noch einen Blick warf er auf den noch immer gefesselten Willy, dann schwang er sich auf die Regeling und stürzte sich kopfüber in die Fluten. Er sank in die Tiefe, und niemand hat jemals wieder etwas von ihm gesehen.

»Ein braver Mann!« murmelte der Doktor. »Gott sei seiner Seele gnädig! Wie steht es aber mit meinem Patienten?«

Er beugte sich zu Willy nieder, dem kein Moment der letzten Scene entgangen war; jetzt aber hielt er die Augen geschlossen. Eine tiefe Ohnmacht hatte seine Sinne umfangen. –

Keiner der Schiffsmannschaft hatte auch nur den geringsten Versuch gemacht, den braven Peters zu retten. Wittmarsch, der Steuermann, legte, wie schon vorher bemerkt, so wenig Wert auf ein Menschenleben, daß selbst sein eigener Bruder vor seinen Augen hätte ertrinken können, ohne daß er ihm eine Leine zugeworfen hätte. Daß Peters ihm auf diese Weise aus dem Wege kam, war ihm ganz recht, da er von jeher eine gewisse Eifersucht gegen den braven Seemann empfunden hatte.

Aber die Verletzung Rufinos war derart, daß man denselben nicht unbeachtet lassen durfte, und da der Doktor seine Bemühungen ausschließlich dem ohnmächtigen Willy zuwandte, hob Wittmarsch mit der Hilfe eines Matrosen den an Deck liegenden Halbblut auf und machte sich daran, die Wunden desselben zu untersuchen. Die fürchterliche Katze, jene Geißel, welche noch vor kaum einem Menschenalter das gesetzlich gestattete Züchtigungsmittel auf den Kriegsschiffen aller Nationen war und welche der Blutdurst des halbcivilisierten Seeräubers wieder in ihre alten Rechte einzusetzen versucht hatte, war von dem Matrosen mit ungewöhnlicher Kraft gehandhabt worden. Rufino hatte am Halse und im Gesicht schmerzhafte Wunden davongetragen.

Er schäumte in ohnmächtiger Wut und stieß die hilfbereiten Männer von sich zurück, um in derselben Lage, wie er hingestürzt war, Alvarados Ankunft an Deck zu erwarten. Der letztere erschien auch sehr bald; sein Blick überflog die Scene.

»Wo ist der Doktor? Was soll dies alles bedeuten? Wer hat es gewagt –?«

»Peters hat Ihrem Neffen die Katze gegeben,« antwortete Wittmarsch. »Peters hat ihn erst geschlagen und ist dann mit der Katze zusammen über Bord gegangen.«

Alvarado stand schweigend und starr; in seinen schwarzen Augen leuchtete ein satanisches Feuer, er schaute langsam und lauernd im Kreise umher, als ob er ein Opfer suchte, das er zerreißen könnte. Die Leute standen stumm und in furchtsamer Erwartung; sie wußten, daß der Kapitän in seiner Wut zu jeder That fähig war.

Der Blick desselben, der das Gesicht jedes einzelnen Mannes gemustert hatte, fiel endlich auf den Doktor, der gerade aus der Kajütskappe heraufkam. Sein Instinkt sagte ihm, daß derselbe seine Hand im Spiele gehabt haben mußte, und er war innerlich froh, einen Sündenbock gefunden zu haben.

»Sie haben also, wie ich sehe,« begann er langsam, »meine Leute zu einer Meuterei angestiftet. Nun aber bin ich zufällig der Kapitän dieses Schiffes, und ich will Ihnen zeigen, daß ich mir noch immer Gehorsam verschaffen kann. Wittmarsch, kommen Sie hierher. Hat dieser Mann hier durch Wort oder That dem Matrosen Peters irgendwie Vorschub geleistet? Keine Umschweife, Steuermann, ja oder nein.«

Der Doktor steckte seine Hände in die Taschen und maß den Kapitän mit gleichgültigen Blicken; innerlich aber klopfte ihm das Herz zum Zerspringen.

Es entstand eine lange Pause, während welcher ein so tiefes Schweigen an Bord herrschte, daß man außer dem Arbeiten der Maschine keinen Laut vernahm. Eine dumpfe Furcht hatte sich jedes einzelnen bemächtigt, eine bange Furcht um das Schicksal des Doktors; denn wenn die meisten der Mannschaft auch zu den Geächteten und Ausgestoßenen der Civilisation gehörten, so war doch keiner von ihnen ein so hartgesottener Verbrecher, wie ihr Meister und Führer, der Pirat Alvarado. Außerdem aber hatten sie in ihrer rauhen Weise den Doktor Schuster liebgewonnen; sie waren von demselben stets wohlwollend und menschenwürdig behandelt worden, und echte, warmherzige Freundlichkeit fällt nie auf unfruchtbaren Boden.

Alvarados rechte Hand hielt den stets bereiten Revolver. Wittmarsch sagte sich, daß des Doktors Leben von seiner Antwort abhinge. Aber das Schiff befand sich unweit der brasilianischen Küste; dort im Hafen konnte die Sache besser zum Austrage gebracht werden. Außerdem war unverkennbar, daß die Mannschaft vollständig auf seiten des Doktors stand, und da ihm, trotzdem er ein Verächter der ganzen Menschheit war, dennoch immerhin noch etwas an der öffentlichen Meinung lag, so gab er auf Alvarados Frage die Antwort:

»Nein, Kapitän, er hat damit nichts zu thun gehabt.«

Alvarado schob den Revolver wieder in den Gürtel.

»Das ist Ihr Glück, Doktor,« sagte er. »Und nun, Leute, macht, daß ihr wieder an eure Arbeit kommt. In Para wartet unserer ein Klipper ersten Ranges. Dort verlassen wir diesen alten Räderkasten und segeln an Bord des ›Luzifer‹ ums Kap Horn nach dem Archipel Da giebt's dann für euch ein Leben voller Lust und Freude.«

Einige Minuten später rief der Steward alle Mann nach hinten zum Grog; die Leute sagten sich, daß sie mehr gewinnen würden, wenn sie zum Kapitän hielten, als wenn sie sich ihm widersetzten, und auch der Doktor sah sich veranlaßt, sich nach wie vor in den Gang der Dinge zu schicken. Trotzdem aber war er fest entschlossen, dem armen Willy Arnold jeden Freundschaftsdienst zu erweisen, der in seinen Kräften stand. –

So war die Lage der Dinge an Bord, als das Fahrzeug vor der Mündung des Para anlangte. Alvarado hatte Sorge getragen, den Namen desselben zum dritten Male zu verändern. Er wußte sich verfolgt und sah ein, daß es ihm unmöglich sein würde, sich des unangefochtenen Besitzes des Dampfers zu erfreuen. Deshalb beschloß er, sich desselben sobald als möglich zu entäußern, und dieser Entschluß ward ihm leicht, da die Sache auch so nur mit einem großen Vorteil für ihn enden mußte.

Als der »Benito«, wie die »Medusa« jetzt wiederum hieß, den Flußarm hinaufdampfte, kam ein Segler in Sicht, der auf das Fahrzeug abzuhalten schien.

»Ein Schoner zu Luvward, Kapitän,« meldete Wittmarsch.

»Wo?« fragte Alvarado, sein Teleskop hervorlangend.

»Zwei Strich steuerbord voraus,« lautete die Antwort. »Er bringt den Landwind mit. Ein feines Fahrzeug, Donnerwetter! Seine Masten liegen nach hinten über, als wäre er in Norwegen gebaut.«

Alvarado nickte wohlgefällig.

»Das ist der Schoner, von dem ich Ihnen sagte,« bemerkte er zum Steuermann gewendet. »Der hat hier schon lange auf uns gewartet. Ich glaubte aber nicht, daß ich ihn so nötig haben würde.«

Die Mannschaft hatte sich nach vorn gedrängt und beobachtete den fremden Segler, der gar nicht nach einem Kauffahrer aussah, mit mißtrauischen Blicken. Die Leute wußten, daß sie sich an Bord eines verdächtigen Schiffes befanden und im Begriffe standen, ein gesetzwidriges Gewerbe zu beginnen; das böse Gewissen ließ sie daher in diesem sich so auffällig ihnen nähernden und so schneidig daherkommenden Schoner zunächst nur einen Feind wittern.

»Lang und niedrig, wie'ne Schlange, ein fixer Kasten!« sagte der Mann auf dem Ausguck bewundernd. »Und Kanonen hat er an Bord, so wahr ich lebe! Wenn das nur kein Man-of-wars-Mann ist, Kapitän!«

»Um den Schoner braucht ihr euch keine Sorgen zu machen,« beruhigte Alvarado die Leute, »der thut uns nichts. Hissen Sie die Flaggen, Wittmarsch; Sie wissen schon, welche.«

» Ay, ay!« antwortete der Steuermann, eilig in die Kajüte hinabtauchend, und gleich darauf erschien er wieder mit einem Armvoll zusammengerollter bunter Flaggen an Deck, die er, eine unter der andern, an die Signalleine band. Die bunte Reihe stieg lustig flatternd zum Topp empor; die zu unterst angebrachte Flagge aber war kohlschwarz. Die Piratenflagge!

Der herankommende Schoner wurde mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtet.

»Es ist die höchste Zeit, daß er sein Signal zeigt,« murmelte Wittmarsch unruhig. »Aha! Da geht's hoch! Hurra, Kapitän, es ist der ›Luzifer‹!«

Der »Luzifer« war ein wunderschönes Fahrzeug, lang, schlank, mit scharfem Buge, spiegelblanken, schwarzen Seiten und von so graziös geschwungenen Linien, wie man sie heutzutage bei den modernen eisernen Seeschiffen nirgends mehr findet. Die schlanken, weit nach hinten gestagten Masten sagten dem seemännischen Beschauer, daß er hier einen Segler von außerordentlicher Schnelligkeit vor sich habe. Der Schoner kam mit seinen schneeweißen, breiten, gewölbten Segeln über das Wasser daher wie eine Möwe im Fluge, mit einer leichten, galoppierenden Bewegung, die überaus zierlich aussah. Er rollte fast gar nicht, er durchschnitt die kleineren Wogen und überstieg die größeren mit einer stetigen und eleganten Ruhe, die nur mit dem Gebühren eines still und majestätisch dahinziehenden Schwanes verglichen werden konnte.

Solchergestalt war wenigstens der Eindruck, den der »Luzifer« auf mich und meine Gefährten hervorbrachte, als wir, nach den Ereignissen, die ich jetzt hier schildere, die Bekanntschaft desselben auf der Westküste, im Großen Ocean, zu machen Gelegenheit hatten.

»Es ist der ›Luzifer‹,« bestätigte Alvarado den Ausruf des Steuermanns, und dabei schaute er seinen Neffen Rufino bedeutungsvoll an. »Jetzt gilt es!« flüsterte er dem jungen Mischblut zu, der ihn mit seinen stechenden Augen ansah und verständnisvoll nickte.

Die Matrosen waren noch immer zu keiner bestimmten Ansicht über den Schoner gelangt, der sich mit großer Schnelligkeit näherte. Das Aussehen desselben ließ jeglichem Verdacht den freiesten Spielraum. Nach Verlauf einer halben Stunde drehte der Schoner bei und setzte ein Boot aus, welches auf den »Benito« zukam, der jetzt ebenfalls seine Fahrt eingestellt hatte.

Alvarado ging dem Abgesandten, der die eilig über die Seite gehängte Fallreepstreppe heraufkam, entgegen und führte denselben ohne Aufenthalt in die Kajüte, wohin, außer Rufino, niemand folgen durfte.

Der Steuermann drückte sich lauschend an dem geöffneten Oberlicht herum, vermochte aber, außer dem folgenden kurzen Gespräch, nichts zu vernehmen.

»Ich habe eine Ladung Kaffee an Bord,« hörte er den Kapitän sagen, »von einem Juden in St. Jago. Kaffee und Schiff will ich in Para verkaufen; ich denke, daß Mynheer van Vechter mir beides abnehmen wird; der Mann pflegt nicht lange erst zu fragen, wenn er ein Geschäft machen kann. Ich hatte es anders geplant, allein man ist uns auf der Spur, und da hilft's nichts. Dickson aus New-Orleans, ein alter Bekannter von mir, ist in dem Schraubendampfer ›Perseus‹ hinter mir her. Dem verwegenen Menschen ist alles zuzutrauen, daher ist Vorsicht geboten. Ich denke ihn aber irre zu führen. Zunächst jedoch muß ich den Kasten hier los werden, und dann komme ich an Bord des ›Luzifer‹. Halten Sie sich also in der Nähe.«

»Sie können auf mich zählen, Don Alvarado,« lautete die Antwort des Fremden, der bald darauf mit dem Kapitän wieder an Deck erschien.

Die Leute starrten den schwarzhaarigen, bärtigen, sonnenverbrannten Mann neugierig und mißtrauisch an, und dieser erwiderte die Blicke derselben mit finster gerunzelten Brauen. Er ging wieder in sein Boot, und als er den Schoner erreicht hatte, braßte dieser wieder voll, wendete und kreuzte zu Luvward auf, während der »Benito« seinen Weg weiter verfolgte und endlich im Hafen von Para zu Anker ging.

Hier wurde, wie bereits erzählt, das Schiff mitsamt seiner Landung an den holländischen Handelsherrn van Vechter verkauft, und als dies geschehen war, kam der »Luzifer« draußen im Flusse wieder in Sicht.

Während Alvarado und Rufino am Lande mit dem Holländer verhandelten, war Doktor Schuster heimlich in die enge Kammer gekommen, die man Willy Arnold zum Aufenthalt angewiesen hatte.

»Auf!« rief er demselben zu, »auf, mein lieber, junger Freund! Die Gelegenheit ist günstig! Sie müssen fliehen!«

»Fliehen soll ich?« fragte Willy erstaunt. »Hier?«

»Ja, hier!« rief der Doktor erregt. »Ist Ihnen denn nicht klar, unter was für Gesindel Sie sich befinden? Wissen Sie denn nicht, daß der Schoner, der gestern ein Boot an Bord schickte, ein Seeräuberschiff ist, und jetzt schon wieder draußen im offenen Flusse auf uns wartet, um irgend welche Teufeleien auszuführen, von denen nur Alvarado und Rufino etwas wissen? Und wissen Sie noch nicht, daß Alvarado ein Schuft, ein Mörder, ein Höllenbrand ist, ein indianisches Ungeheuer, der sich dem Satan mit Leib und Seele verschrieben hat und alle ehrlichen, weißen Christenmenschen auf das wütendste haßt und verfolgt? Wenn Sie das jetzt noch nicht wissen, dann müssen Sie geradezu blind und einfältig sein!«

»Was Sie mir da sagen, ist mir schon lange bekannt,« entgegnete Willy, der nicht wußte, wie er sich fassen und worauf er zunächst seine Gedanken richten sollte. Die Gefangenschaft und die fortwährende Angst hatten ihn um seine sonst so ruhige Überlegung gebracht.

»Warum aber wollen Sie denn an Bord bleiben, wenn die Flucht hier so leicht ist?« fragte er. »Kommen Sie mit, Doktor, lassen Sie uns zusammen fliehen.«

Der Doktor schüttelte traurig aber entschieden den Kopf.

»Nein, lieber Arnold,« sagte er. »Für mich giebt's keine Umkehr mehr. Wie ich mich gebettet habe, so muß ich liegen. Ich habe in der Welt, unter anständigen Menschen, nichts mehr zu schaffen ... Genug der Worte! Denken Sie an sich selber. Alvarado und der junge Schuft sind an Land. Sie müssen die Gelegenheit benutzen. Denken Sie an Ihre Eltern!«

Willy besann sich nun nicht länger. Er sah den Doktor erwartungsvoll an.

»Sie werden eine Weile schwimmen müssen,« sagte dieser. »Sie können doch?«

»O ja,« entgegnete Willy etwas unsicher, da seine Fertigkeit in dieser Kunst nicht groß war.

»Also nicht gut? Nun, das macht nichts. Sehen Sie her, ich habe hier einen Schwimmgürtel, den ich mir für den Fall der Not zusammengeschustert habe. Da – ein Luftsack, mit Korkstreifen benäht. Sehen Sie, wie lang er ist. Das war ein Stück Arbeit! Wenn Sie sich den um den Leib, hoch unter die Arme hinauf, binden, dann können Sie sich eine ganze Woche über Wasser halten. Ich habe das Ding probiert. Kommen Sie. Ziehen Sie Ihr Zeug ab.«

»Aber –« wendete Willy ein, »Sie haben den Gürtel für sich selber gemacht – Sie könnten ihn vermissen –«

»Herunter mit der Jacke! Verstehen Sie kein Deutsch mehr? Sie sind ja ein ganz schwieriger Kasus! Wollen Sie sich denn mit aller Gewalt von dem Mordgesindel noch den Hals abschneiden lassen? Haben Sie denn gar kein Gefühl mehr für Ihre armen Angehörigen, Sie Rabensohn?«

Willy erwiderte kein Wort mehr. Er band sich den langen Gürtel um den Leib und zog dann seine lose Jacke wieder darüber. Das Ding war sehr unbequem und verlieh unserem Freunde eine auffallende Korpulenz.

»Und nun aufgepaßt!« instruierte der Doktor weiter. »Sowie Sie die Gelegenheit erspähen, schlüpfen Sie an die Regeling, klettern in die Rüsten hinunter und lassen sich sachte ins Wasser fallen. Lange dürfen Sie aber nicht zögern, sonst setzt die Ebbe ein und treibt Sie nach See zu. Hier ist etwas Geld, mein ganzer Reichtum. Stecken Sie's zu sich. Sowie Sie am Lande sind, suchen Sie den deutschen Konsul auf und erzählen ihm Ihre Geschichte. Der wird dann schon weiter für Sie sorgen. Leben Sie wohl, Gott der Allmächtige beschütze Sie!«

Sie drückten einander die Hände. Nach einer Pause, während welcher der Doktor aufmerksam gelauscht hatte, nahm er noch einmal das Wort.

»Kurze Entschlüsse sind die besten,« sagte er. »Vorwärts! Es ist beinahe finster, und an Deck ist alles ruhig. Kommen Sie.«

Sie gingen vorsichtig an Deck.

»Kommen Sie!« drängte der Doktor. »Der Augenblick ist günstig! »Schnell über die Regeling! So! Leise, leise! Nun los! Gott helfe Ihnen!«

Ein leises Plätschern – Willy hatte das Schiff verlassen und trieb landeinwärts.

»Steh' ihm bei, barmherziger Vater im Himmel!« flehte der arme Doktor mit gefaltenen Händen. »Wenn Alvarado ihn auf der Rückfahrt gewahrt, dann ist er verloren!«

Dann schaute er sich an Deck um. Alles war still. Niemand hatte Willys Flucht bemerkt. Er wartete noch eine lange Zeit, angestrengt nach der ungefähr einen Kilometer entfernt liegenden Stadt hinüberlauschend. Er vernahm aber nichts Beunruhigendes; erleichtert aufatmend stieg er endlich in seine Kammer hinab und legte sich in die Koje, die innigsten Wünsche für Willy im Herzen, aber leider, leider nicht ohne seine Flasche ...


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