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Achtes Kapitel.

Der »Seguro«. – »Feuert, Leute, feuert!« – »Sehen Sie zu, wer hier mitten im Ocean zu singen und zu lachen hat.« – Der letzte Mann.

 

Der Schuß dröhnte über die See, hinaus in den stillen Sonntagsfrieden.

Der Pulverdampf verflog nach Lee, das fremde Schiff aber nahm gar keine Notiz von uns, hißte auch keine Flagge.

»Er will nichts von uns wissen,« sagte der Steuermann. »Der Kerl, der Alvarado, hat sicherlich wieder allerlei Teufelskram im Sinn. Ich sehe nämlich voraus, daß er's ist.«

»Er ist's, wenigstens hoffe ich das,« entgegnete der Kapitän. »Kriegen Sie die Signalflaggen aus dem Flaggenspind, Stüermann, und fragen Sie ihm den Katechismus ab.«

»Pfeffern wir ihm lieber eine Kugel in die Seite,« rief Willy, der von der Fockwant aus den Fremden beobachtete.

»Wir haben kein Recht, Fahrzeugen, die uns nichts zu Leide thun, so ohne weiteres Kugeln in die Seiten zu pfeffern,« antwortete Kapitän Dickson ruhig. »Wir haben vorläufig nur festzustellen, ob er der ist, den wir suchen. Ist der Dampfer die ›Medusa‹, dann werden wir allerdings mit ihrem Führer ein ernstes Wort reden. Bis dahin aber Geduld, my boy

Während dieser Reden hatte Schomerus im Großtopp die Flaggenzusammenstellung gehißt, welche nach dem internationalen Signalkodex die Frage ausdrückte:

»Wie heißt das Schiff, woher kommt es und wohin ist es bestimmt?«

Wir warteten höflich eine Weile auf die Antwort.

Endlich stiegen drüben die bunten Flaggen auf; das Signal lautete:

»Der ›Seguro‹, von Lissabon nach Trinidad.«

»Seguro!« rief der Steuermann im Tone ärgerlicher Enttäuschung.

»Diesmal war's also nichts. Halt! Er signalisiert noch einmal. Was will er denn?«

Die Mannschaft war inzwischen in einige Aufregung geraten. Sie stand in dichter Reihe an der Regeling und ließ den fremden Dampfer nicht aus den Augen. Auch die Maschinisten hatten, soweit ihr Dienst ihnen dies gestattete, ihren heißen Raum verlassen und zeigten ihre geschwärzten, schweißtriefenden Gesichter an Deck.

Der »Seguro« stellte nun seinerseits die Frage an uns, die wir vorher an ihn gerichtet.

»Was antworten wir ihm, Kapitän?« fragte Lambertus Schomerus.

»Die Wahrheit,« entgegnete der Schiffer. »Wir brauchen uns unseres Namens nicht zu schämen.«

»Wenn der Dampfer nun aber doch die »Medusa« sein sollte,« erlaubte ich mir einzuwenden, »dann weiß Alvarado für die Folge, mit wem er es zu thun hat.«

»So laßt uns ihm sagen, daß wir mit dem Kapitän zu reden wünschten, wir hätten eine Nachricht für den ›Seguro‹,« schlug der Steuermann vor. »Damit können wir ihn auf die Probe stellen.«

»Bertus, Ihr werdet nicht alt, Ihr seid zu klug für diese Welt,« lachte der Kapitän, seinen treuen Genossen auf die Schulter schlagend. »Aber Scherz beiseite, der Gedanke ist sehr gut. Darauf muß er Hals geben. Vorwärts, Steuermann, hissen Sie die Flaggen.«

Bertus that, wie ihm geheißen, schmunzelnd und sein großes Auge in triumphierender Erwartung auf den »Seguro« gerichtet.

»Master Arnold!« rief der Kapitän.

» Ay, Ay, Sir!« antwortete Willy, rasch herzuspringend und die Hand an seine Mütze legend, eine Höflichkeit, die zwar an Bord von Kauffahrern nicht Sitte ist, die Willy aber für »schneidig« hielt und deswegen nie unterließ.

»Geben Sie acht, Willy,« begann der Kapitän. »Ich gedenke Sie zum Manne zu machen.«

»Das haben Sie mir schon öfter gesagt, Kapitän Dickson, noch aber merke ich nichts davon,« entgegnete der übermütige Jüngling. »Nicht einmal ein einziges Barthaar habe ich bis jetzt profitiert!«

»Keine Dummheiten, wenn ich bitten darf! Geben Sie acht. Kennt Kapitän Alvarado Sie persönlich? Ich glaube nicht, wie?«

»Nein, aber Rufino Garillas kennt mich. Warum?«

»Warum? Weil ich Sie an Bord des Dampfers dort senden will. Ist Rufino da, dann werden Sie ihn ja sehen. Ist er nicht da, dann kann er Sie nicht sehen. Wenn Alvarado da ist, dann weiß er nicht, wer Sie sind; im übrigen sehen Sie in Ihrer sonntäglichen Piejacke und Ihrer feinen Mütze so stattlich aus, daß Sie bei den Leuten drüben schon als etwas Rechtes gelten können, wenn Sie auch noch keinen Bart haben. Sind Sie also bereit, an Bord des ›Seguro‹ zu gehen?«

Willy erklärte sich, wenn auch nach einigem Zögern, bereit. Der Steuermann signalisierte dem »Seguro«, daß er die Maschine stoppen solle, da ein Boot vom »Perseus« zu ihm kommen würde. Die Matrosen machten sich eifrig daran, die Jolle auszusetzen, und während dieser Zeit gab Kapitän Dickson meinem Freunde die nötigen Instruktionen.

Der »Seguro« schien anfänglich der Aufforderung, seine Fahrt zu unterbrechen, nicht Folge leisten zu wollen, als er aber merkte, daß wir ihn überholen würden, stoppte er und ließ uns bis auf Rufweite herankommen.

Die Dünung, wie die langen, rollenden Grundwogen genannt werden, die selbst bei Windstille das Meer in ewiger Bewegung halten, war trotz des stillen Wetters so bedeutend, daß eine zu große Annäherung der Fahrzeuge nicht ratsam erschien; das Boot wurde daher in einer Entfernung von etwa zweihundert Metern zu Wasser gebracht, und Willy schwang sich mit vier Matrosen hinein.

»Soll ich nicht mitgehen, Kapitän?« fragte der Steuermann.

»Nein, nein,« rief Willy aus dem Boote herauf, »ich brauche heute keine Pflegemutter! Grämen Sie sich nicht, Steuermann, ich bin gleich wieder zurück.«

»Sie wissen nun also Bescheid, Master Arnold,« sagte der Kapitän, auf die Regeling gelehnt und in das Boot hinabschauend. »Augen auf und Mund zu, verstanden? Wenn das Schiff die ›Medusa‹ ist, dann schnell zurück. Sie kennen sie ja. Meiner Meinung nach ist's die ›Medusa‹, wenn ich auch nicht absolut drauf schwören will. Aber ich glaub's. Beeilen Sie sich nach Möglichkeit, der Himmel bezieht sich, und in diesen Breiten wird's früh Abend.«

» Ay, ay, Kapitän,« rief Willy zurück.

»Und ihr, Leute,« fuhr der Kapitän zu den Matrosen gewendet fort, »laßt euch nichts vormachen. Sowie ihr etwas Unrechtes oder Verdächtiges merkt, kommt ihr zurück.«

Das Boot ruderte ab. Es hatte keine große Strecke zurückzulegen. Der Fremde lag ganz still, und auch wir hatten die Maschine gestoppt.

»Ich glaube wir treiben,« sagte Lambertus nach einer Weile.

Er saß auf der Bank neben dem Oberlicht der Kajüte und sah abwechselnd ins Wasser und wieder zu dem Fremden hinüber. »Wir waren keine Kabellänge von dem Kasten da entfernt, als wir stoppten, und noch hat das Boot ihn nicht erreicht.«

»Er hat sich gedreht, das Boot will steuerbord bei ihm anlegen,« erwiderte der Kapitän; er warf noch einen Blick zu dem »Seguro« hinüber und ging dann hinab in die Kajüte, wohin ihm der Steuermann folgte.

Die Matrosen verloren nach und nach das Interesse an der Sache, einer nach dem andern schlüpfte in das Logis zurück, und nur die Leute der Wache blieben an Deck. Ich aber verlor den Raddampfer nicht aus den Augen.

Derselbe lag fast regungslos, ein gelegentliches langsames Rollen abgerechnet, wenn die Dünung ihn hob und wieder senkte. Ich saß auf der Regeling bei den Großwanten. Der Obermaschinist kam herzu und stellte sich neben mich.

»Können Sie mir sagen, Herr Johannsen,« fragte ich ihn, »warum der ›Seguro‹ fortwährend langsam seine Räder bewegt?«

»Um die Steuerung nicht zu verlieren,« antwortete er. »Unsere Schraube macht auch noch Umdrehungen, wenn auch unmerklich, und zwar ebenfalls, um dem Schiff die Steuerung zu erhalten.«

»Ganz recht. Aber erscheint es Ihnen nicht auch, als ob der Fremde uns sachte vorbeiliefe?«

»Nein; ein wenig vielleicht, aber das will nichts sagen. Sie sehen ja, unsere Jolle schleppt noch immer achteran.«

Er schaute über Bord, um zu sehen, wieviel Fahrt wir liefen, und wendete sich dann wieder seiner Luke zu.

Willy war inzwischen an Deck des »Seguro« angelangt und hatte uns von dort mit der Mütze zugewinkt, ein Zeichen, daß er alles unverdächtig gefunden. Allem Anschein nach hatte der Kapitän selber ihn empfangen, denn als ich durch den Kieker sah, gewahrte ich einen schmächtigen, rotköpfigen Mann, der mit großer Höflichkeit unseren Willy in die Kajüte hinunter komplimentierte, weswegen ich den Freund auch bald aus dem Gesichte verlor.

Nach einer Viertelstunde sahen wir die Jolle ohne Willy Arnold zurückkommen. Einer der Matrosen aber brachte einen Zettel von ihm, auf welchem zu lesen war, daß der Kapitän des »Seguro« den Kapitän des »Perseus« bäte, ihm im Austausch gegen eine fette Ente doch eine Flasche Champagner zu schicken. Die Ente befand sich im Boot und wurde an Deck gereicht.

Kapitän Dickson ließ den Champagner heraufholen, fügte derselben aber den schriftlichen Befehl für Willy bei, sogleich an Bord zurückzukehren.

Die Jolle ruderte wieder auf den »Seguro« zu; wir sahen sie dem Schiffe ganz nahe kommen, zu drei verschiedenen Malen aber schlugen die Schaufelräder des Dampfers die See zu Schaum und dreimal schob sich derselbe vorwärts, immer gerade in dem Augenblicke, wo die Matrosen die Riemen ins Boot warfen und anhaken wollten. Endlich war es denselben gelungen, die Fangleine in den Rüsten festzumachen und nunmehr kletterten sie, der Aufforderung von Deck aus folgend, an Bord des Dampfers.

Der Himmel hatte sich inzwischen mehr und mehr mit Wolken bedeckt, und der Nachmittag neigte sich seinem Ende zu. Kapitän Dickson rief mir von der Kajüte aus zu, den »Seguro« anzupreien und Willy Arnold zur Rückkehr aufzufordern.

Ich that dies, erhielt aber keine Antwort.

Ich wartete eine Weile und rief dann noch einmal.

Plötzlich schoß der »Seguro« in voller Fahrt davon und zugleich wurde die Fangleine des Bootes gekappt.

Schreck und Erstaunen hatten mich so übermannt, daß ich im ersten Moment kein Wort über meine Lippen bringen konnte. Die Matrosen der Backbordwacht aber hatten ebenfalls alles wahrgenommen, und auf ihr Geschrei eilten der Kapitän und der Steuermann an Deck.

Aber welch' ein Anblick bot sich ihnen und uns allen jetzt dar!

Die vier Matrosen, welche die Jolle des »Perseus« bemannt hatten, wurden von den Leuten des »Seguro« ergriffen und einer nach dem andern über Bord geworfen in die See, die jetzt schwarz unter dem umdüsterten Himmel lag, dessen Zwielicht zusehends der Finsternis der Nacht wich.

Wir standen erstarrt und erwarteten jeden Augenblick auch Willy in das nasse Grab geschleudert zu sehen. Der aber wurde vorläufig verschont.

Der Kapitän schüttelte den Bann des Entsetzens sehr bald wieder von sich ab.

»Setzt das Großboot aus und sucht die Leute zu retten!« rief er. »Klar die Buggeschütze und das Drehgeschütz! Wer zuerst fertig ist, der feuert! Zielt auf die Radkasten! Feuert, Leute, feuert, wir haben keine Zeit zu verlieren!«

Die Matrosen sprangen an die Geschütze, und obgleich sie in der Handhabung derselben nur geringe Übung hatten, so krachten dennoch gar bald in schneller Folge drei Schüsse gegen den fliehenden Dampfer. Noch ein Schuß, und noch einer wurde dem verräterischen »Seguro« nachgesendet, ohne jedoch denselben aufzuhalten. Durch das Schlingern des Schiffes wurde den Leuten das Zielen erheblich erschwert.

Den Anstrengungen der Leute im Großboot gelang es, die vier Matrosen glücklich aufzufischen und an Bord zu bringen, dann wurde das Boot gehißt und binnen Bords gebracht, und während dies alles geschah, war die Nacht herein gebrochen und der Raddampfer vollständig aus Sicht gekommen. Wir liefen ihm zwar unter vollem Dampf nach, allein, wie es schien, ohne Aussicht auf Erfolg.

Die Nacht wurde ganz finster und ein stürmischer Wind erhob sich. Die See ging unruhig und hohl. Unter solchen Umständen hielt es der Kapitän endlich für geraten, sich nicht auf eine blindlings in die Finsternis hineingehende Jagd einzulassen und lieber den Kohlenvorrat zu schonen, der ohnehin bereits wieder auf die Neige ging.

So sehr ihm das Schicksal des armen Willy am Herzen lag, so ließ sich vorläufig dennoch nicht das Geringste für denselben thun. Es war mit Sicherheit anzunehmen, daß der »Pelikan« unter dem Schutze der Nacht den Kurs gewechselt hatte, und so blieb uns nichts übrig, als den so verräterisch Entführten dem Schutze Gottes zu empfehlen. Als Kapitän Dickson mir diese Eröffnung machte, da schwammen seine sonst so männlich fest und kühn blickenden Augen in Thränen, und als ich, von Schmerz übermannt, vor Schluchzen über des Freundes Verlust kein Wort erwidern konnte, da nahm er mich in seine Arme und schloß mich an seine Brust.

»Mut, Heinz,« sagte er weich, »fassen Sie sich. Wir werden ihn wiedersehen und das gesund und munter. Die Bosheit jener Bösewichter wird ihre Grenze finden, sobald Gottes Langmut zu Ende ist. Der Allmächtige wird nicht zugeben, daß unserem Willy ein Haar gekrümmt wird. Hoffen wir auf ihn und thun wir indessen unsere Schuldigkeit. In Para, das wir bald erreicht haben werden, denke ich mit Sicherheit Näheres über den ›Pelikan‹ zu erfahren.«

Das gütige Zureden des Kapitäns beruhigte mich etwas, aber es war mir unmöglich, in dieser Nacht meine Koje aufzusuchen, da ich doch keinen Schlaf gefunden hätte.

Der Steuermann, den das Schicksal Willys ebenfalls tief ergriffen hatte, setzte sich zu mir und versuchte, mir durch allerlei Erzählungen die trüben Gedanken aus dem Kopfe zu bringen, als er aber bemerkte, daß ich ihm wenig oder gar nicht zuhörte, ging er nach vorn, um den Fall mit den Leuten der Wache zu besprechen.

Gegen acht Uhr hatte sich der Wind wieder gelegt, und auch die See war ruhiger geworden. Der Himmel spannte sein Gewölbe wieder klar und wolkenlos über der endlosen Wasserwüste aus, und die Sterne funkelten in ihrer ganzen tropischen Pracht. In zwei Stunden mußte der Mond aufgehen.

Der Tau fiel so stark, daß die dicken Tropfen desselben auf der Regeling, auf der Kajütskappe und auf dem Kompaßhäuschen wie Perlen im Sternenlichte funkelten. Vom Buge her glitt das kräuselnde Wasser in Linien grünlichen Feuers an der Schiffsseite entlang, und die Spur, welche die langsam gehende Schraube im Kielwasser hinterließ, glich einer Aufeinanderfolge milchweißer, langgewundener, von Myriaden Fünkchen durchleuchteter Wölkchen.

Der Mann am Ruder schlug zwei Glasen – neun Uhr. Aus den Höhlungen der sanft geblähten Segel klangen die vibrierenden Töne in schwachem Echo zurück. Der erst so frischen Brise war, wie so oft in den Tropen, eine vollkommene Windstille gefolgt.

Die Maschine hatte eben ihr Arbeiten wieder eingestellt, da ein Teil derselben von neuem in Unordnung geraten war. Ab und zu hörte ich die Stimme des ersten Maschinisten aus der Tiefe des Raumes heraufdringen, fluchend und scheltend über die jämmerliche Mode der Deutschen, ihre Maschinen aus englischen Fabriken zu beziehen, die den dummen Teufeln doch nur den sonst nicht verwendbaren Schund aufschwatzten.

Der »Perseus« lag jetzt fast regungslos auf dem Wasser. Ich konnte nicht umhin, trotz meines Schmerzes um Willy, mit einer gewissen Befriedigung an die Flucht des »Pelikan«, oder »Seguro«, zu denken, denn in unserem gegenwärtigen hilflosen Zustande wären wir demselben sicherlich ohne Barmherzigkeit zum Opfer gefallen.

Der Kapitän saß unten in der Kajüte, die Elbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hände gestützt, wie ich durch das Oberlicht wahrnehmen konnte.

Der Steuermann ging zwischen dem Großmast und dem erhöhten Achterdeck auf und nieder, auf der Back stand ein Matrose, regungslos wie eine Bildsäule, und hielt Ausguck, während die übrige Wache an Deck umherlag, teils schlafend, teils leise plaudernd.

Die Glocke verkündete drei Glasen – halb zehn Uhr; der letzte Schlag war ausgeklungen, da unterbrach der Steuermann sein mechanisches Hin- und Herschreiten. Er trat auf die Steuerbordseite des Decks und lugte mit ausgerecktem Halse nach der Back.

»Vorn da!« rief er dem Ausguckmann zu, »singt da jemand im Logis?«

»Hier singt keiner!« kam die Antwort zurück.

»Da singt doch einer! Sperr' einmal die Ohren auf und horche! Ist die Logiskapp' offen?«

»Die Kapp' ist offen! Hier vorn aber singt keiner, Stüermann!«

Lambertus Schomerus kam die Treppe zum Achterdeck herauf.

»Hast du nicht jemand singen hören, eben jetzt, ehe du drei Glasen schlugst?« fragte er den Matrosen am Ruder.

»Jawoll, Stüermann,« antwortete der Mann.

Schomerus blickte mich an; ich hatte, in Träumereien versunken, nichts gehört.

»Von wo kam's her?« fragte Schomerus weiter.

»Von vorn, wie mir schien,« sagte der Matrose.

»Still! Horch! Da ist's wieder!« rief der Steuermann, die Hand aufhebend und den Kopf seitwärts neigend.

Jetzt hörte auch ich – eine heisere Stimme sang ganz deutlich – die Entfernung aber ließ die Laute dünn und unbestimmt erscheinen, wie die Schwingungen einer dumpfen Saite. Dann schwieg der Gesang, und ihm folgte ein schwaches, unheimliches Gelächter, welches aber sogleich von dem lauten, donnerähnlichen Klappen und Prasseln der Segel verschlungen wurde, die oben in der Dunkelheit gegen die Stengen schlugen.

»Da singt und lacht was auf dem Wasser, backbord voraus!« rief jetzt der Ausguckmann vom Bugspriet her. Man konnte seiner Stimme anhören, daß ihm die Einsamkeit da vorn in diesem Augenblick nicht sonderlich angenehm war.

»Was zum Kuckuck mag das sein?« sagte der Steuermann, an die Regeling gehend und nach vorn über das Wasser lugend. Trotz der ungewöhnlichen Schärfe seines Auges aber gewahrte er nichts; die Nacht lag schwarz auf dem Meere, und nirgends zeigte sich eine noch dunklere Stelle, die auf ein in der Nähe befindliches Fahrzeug hätte schließen lassen.

»Vorn da!« rief er. »Siehst du noch nichts?«

»Nichts zu sehen!«

Die Leute der Wache, durch das Hin- und Herrufen aufgestört, kletterten auf die Regeling und in die Wanten, um sich umzuschauen, und jetzt kam auch der Kapitän an Deck.

»Was giebt's, Bertus?« fragte er. »Ist die »Medusa« in Sicht?«

»Nein, Kapitän,« antwortete der Steuermann. »Wir hören aber backbord voraus auf dem Wasser jemand singen und lachen.«

Kapitän Dickson lugte über Bord und lauschte.

»Ich höre nichts,« sagte er dann. »Sie bilden sich wieder einmal etwas ein, Stüermann. Wenn wir ein Schiff in solcher Nähe hätten, daß wir Singen und Lachen hören könnten, dann müßten wir es auch sehen.«

Er ging zum Ruder und blickte auf den Kompaß.

»Hören Sie doch, Kapitän!« rief der Steuermann. »Da ist's wieder!«

Aus der Finsternis drang derselbe dünne, klagende Singsang, unheimlich, übernatürlich, aber klar und deutlich, gefolgt, wie zuvor, von einem heiseren, krächzenden Gelächter.

»Bei Gott, Sie haben recht! Das ist keine Einbildung!« rief Kapitän Dickson, sich schnell herumwendend. »Meinen Sie, daß dies die Stimme eines Menschen ist? Und wo kann sie dann herkommen? Halloh, vorn da, Leute!« rief er den Matrosen zu, »seht ihr da etwas?«

»Zu sehen ist nichts,« antwortete einer der Leute, »aber zu hören genug. Das geht nimmermehr mit rechten Dingen zu!«

Man hörte es dem Sprecher an, daß er innerlich von Grauen gepackt war.

Am östlichen Horizonte stieg es plötzlich auf wie ein heller, grauer Nebel; der unbestimmte Fleck dehnte sich zu einem Streifen aus; er wurde gelblich, dann wandelte sich die Färbung in ein trübes, bleiches Rot, und gleich darauf erschien die obere Kuppe des Mondes in gedämpftem, hellem Purpur über der Kimmung, die wie ein Pinselstrich von Indigoblau sich darunter hinzog. Der leuchtende Ball stieg höher und warf eine Gasse mattfunkelnden Goldes über das langsam wogende, ebenholzschwarze Meer, dann, endlich frei geworden, schwang er sich voll und rund empor, umgeben von einem sich stetig erweiternden, sanft erschimmernden Glanz, der die Sterne in der Nähe erblassen ließ, während die goldene Gasse sich bis an das Schiff heran verlängerte, dessen Segel den Schein auffingen und sich nun in magischem Lichte von dem nachtschwarzen Hintergrunde des sternenfunkelnden westlichen Himmels abhoben. Das Kupferrot der Mondscheibe wandelte sich jetzt zusehends in Silber, und nunmehr überflutete die Lichtfülle das weite Meer bis zur fernsten, westlichsten Kimmung, den ganzen Gesichtskreis ringsumher erleuchtend.

»Boot voraus, backbord drei Strich!« rief ein halbes Dutzend Stimmen auf einmal.

»Still!« gebot der Kapitän.

Alles schwieg.

Durch die lautlose Stille drang in das Ohr der erstaunten und von Grauen durchrieselten Lauscher der leise, wilde, geheimnisvolle Gesang einer Menschenstimme, und wiederum machte das markerschütternde Lachen den Beschluß.

»Es sei, was es sei,« sagte Kapitän Dickson, »wir müssen's ergründen. Steuermann, lassen Sie die Jolle zu Wasser, und dann machen Sie sich mit ein paar Mann auf und sehen Sie zu, wer hier mitten im Ocean zu singen und zu lachen hat.«

Wenige Minuten später ruderte das Boot auf den dunklen Gegenstand zu, der in einiger Entfernung auf dem mondbeglänzten Meere trieb.

Die Leute, welche die Wacht zur Koje hatten, waren inzwischen gleichfalls an Deck gekommen, und so hatte sich auf der Back ein gedrängter Haufen von Seeleuten versammelt, die alle in gespanntester Neugier dem Verlaufe dieses seltsamen Abenteuers folgten.

»Das ist kein irdischer Mensch, der da sein Lied gesungen hat,« sagte einer der älteren Matrosen mit gedämpfter Stimme. »Wenn ich hier Kapitän wäre, da hättet ihr mich lieber kochen können, ehe ihr mich dazu gekriegt hättet, ein Boot auszusetzen und dahin zu schicken.«

»Was meinst du, daß das sein kann, Klaus?« forschte ein anderer.

»Was ich meine? Gar nichts meine ich! Ich habe hier überhaupt nichts zu meinen,« erwiderte der alte Matrose. »Das aber sage ich euch, ihr braucht nicht zu glauben, daß ein vernünftiger, sterblicher Mensch, der seine paar Sinne bei sich hat, wie ich und ihr, sich mitten in der Nacht da hinsetzen wird in so einem Ding von Boot, um, zwei oder dreitausend Seemeilen vom Lande, dem Monde und den Fischen komische Gesangsvorträge zu halten – denn komisch soll das Gesinge doch wohl sein, warum lachte er sonst? Wenn das da, was in dem Boot da uns in den Weg kommt, Fleisch und Bein und christliche Religion hat, dann fresse ich dem Koch seine großen Seestiefel, die sich immer im Logis so herumtreiben! Und der alte Klaus weiß, was er sagt, verlaßt euch drauf.«

Die Worte des alten Seefahrers erfüllten die übrigen Matrosen mit geheimer Furcht vor dem Übernatürlichen, das ihnen hier zu Gesichte kommen sollte; sie drängten sich schweigend dicht aneinander und lugten angestrengt nach den beiden Booten.

Es verging eine halbe Stunde, ehe die Jolle mit dem andern Fahrzeug dem Schiffe wieder nahe kam; während dieser Zeit wurden wir wiederholt durch ein heiseres, schreckliches Geschrei, welches vermischt mit schrillem, kreischendem Gelächter von den Booten zu uns herüber drang, bis ins Innerste entsetzt, und dazwischen ertönten Rufe, wild und durchdringend, aber so unverständlich, daß man weder Kopf noch Schwanz daran unterscheiden konnte, wie die Matrosen meinten.

» Well, Steuermann,« rief Kapitän Dickson der Jolle entgegen, als dieselbe endlich in Rufweite war, »was bringen Sie uns da?«

»Einen armen Wahnsinnigen,« antwortete der alte Schomerus. »Es scheint ein Spanier zu sein. Auch ein toter Junge ist da, wahrscheinlich sein Sohn. Es sind Schiffbrüchige; von Proviant oder Wasser aber haben wir keine Spur im Boot gefunden.«

Jetzt konnten wir auch wahrnehmen, daß zwei von unseren Leuten in dem aufgefundenen Boote saßen und den Fremden mit Gewalt zwischen sich festhielten. Als die Fahrzeuge am Fallreep anlangten, begann der Unglückliche zu toben und zu schreien; bald schien er in herzbrechender Weise zu bitten und zu flehen, dann wieder sang er mit tonloser Stimme einige Liedesstrophen, dann rang er mit den Matrosen, bis das Boot so heftig schwankte, daß auf beiden Seiten das Wasser hereinschlug, und dabei stieß er Schrei auf Schrei aus. Es war eine fürchterliche Szene, die sich da in dem stillen Lichte des Mondes zutrug.

Die Leute mußten den Ärmsten binden, um ihn an Bord schaffen zu können; trotz seines tobenden Wahnsinnes aber wußte er doch, daß man ihn von dem toten Knaben trennte, der unter den Duchten des Bootes lag, denn sein Widerstand war rasend, und jede seiner Gebärden drückte ein leidenschaftliches Verlangen nach dem Leichnam aus, und als er sich endlich bei uns an Deck befand, da nahm sein Schmerz- und Wutgeschrei so überhand, daß selbst die Abgehärtetsten unserer Matrosen sich grausend und erschüttert abwendeten.

Der unglückliche Mann war fast nur noch ein Skelett. Wir beleuchteten ihn mit der Laterne und gewannen die Überzeugung, daß er eine stattliche und schöne Persönlichkeit gewesen sein mußte; allein der Hunger hatte an ihm sein schreckliches Werk gethan, der Hunger und der Durst. Unser kleiner Schiffsjunge hätte ihn mit Leichtigkeit aufnehmen und forttragen können, so abgezehrt war er; trotzdem aber erfüllte ihn der Wahnsinn mit einer unheimlichen Kraft und Lebendigkeit, und in seinen tiefgesunkenen, schwarzen Augen glühte ein Feuer, welches nichts Irdisches mehr zu haben schien.

Der Leichnam des armen, verschmachteten Knaben wurde in stiller Ehrfurcht ins Wasser gesenkt, das Boot aber ließen wir treiben, nachdem wir uns den Namen am Buge desselben gemerkt hatten.

Der unglückliche Spanier wurde in die Kajüte getragen, und hier ließen wir ihm alles, was die liebreichste Hilfsbereitschaft nur ersinnen konnte, zu teil werden. Leider gelang es uns nicht, ihn am Leben zu erhalten. Die Tobsucht war, gleich nachdem er in die Koje gelegt worden war und etwas Wein und Liebig'sche Fleischbrühe erhalten hatte, von ihm gewichen, ab und zu schien es auch, als sammle er seine Gedanken, aber es kam kein Wort mehr über seine Lippen.

Als die Sonne aufging, war er tot.

Er wurde an Deck geschafft, der alte Klaus und der Steuermann nähten ihn in ein altes Bramsegel ein und beschwerten dasselbe am Fußende mit einigen Vollkugeln. Dann legte man ihn auf ein Brett und trug ihn mittschiffs zum Fallreep.

Die Mannschaft versammelte sich, Kapitän Dickson las die englischen Totengebete, die wir alle sehr wohl verstanden, dann hoben vier Mann das Fußende des Brettes auf die Regeling, das Kopfende wurde langsam aufgerichtet, und der Leichnam glitt in die aufrauschende, sonnenhelle, blaue Flut hinab.

Wir hatten nicht festzustellen vermocht, ob der tote Knabe des Spaniers Sohn gewesen war, oder nicht.

»Ich möchte dies aber wohl glauben,« sagte der Kapitän bewegt, als wir drei, der Steuermann, er und ich, nach dem Begräbnis auf dem Achterdeck beisammen standen; »wie ich mir das Gesicht des toten Mannes vorhin so anschaute, da schien es mir, als ob er eher an einem gebrochenen Herzen, als an seinen Entbehrungen gestorben sei. Hat doch der Ärmste das Kind vor seinen Augen verhungern und verdursten sehen müssen!«

Mit Hilfe der Kleider des Spaniers und des Namens, der an dem Boote gestanden, gelang es, wie gleich hier erwähnt werden soll, dem Kapitän, in Para die Persönlichkeit des Verunglückten zu identifizieren. Er war Kapitän eines spanischen Vollschiffes gewesen, welches zehn Wochen vor unserem Auffinden des Bootes Rio de Janeiro verlassen hatte. Mit ihm hatte sich sein einziger Sohn an Bord befunden. Zum letzten Mal hatte man das Schiff irgendwo unter dem 14. Grade südlicher Breite gesprochen, dann war es verschollen, und so konnte es keinem Zweifel unterliegen, daß von der zahlreichen Mannschaft, die das große Schiff an Bord gehabt hatte, der arme Kapitän, den wir, umnachtet von Wahnsinn und erschöpft von Hunger und Not, in seiner Nußschale treibend inmitten der einsamen Öde des Atlantischen Oceans angetroffen, der einzig noch Übriggebliebene, der letzte Mann gewesen war.


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