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4. Kapitel.

Die »Hallig Hooge«. – »Irgendwo steckt hier ein Geheimnis«. – Was im Logbuch zu lesen war. – Abschied vom »Senator Merk«.

 

Der Nordostpassat brachte den Senator bis auf einen Grad an den Äquator heran. Hier geriet er in die sogenannten Mallungen, das zwischen beiden Passaten liegende Gebiet der Windstillen und der leichten, veränderlichen und meist ungünstigen Winde. Es gelang ihm jedoch, diese bei den Seefahrern wenig beliebte Gegend bald hinter sich zu bringen und dann den willkommenen Südostpassat zu erreichen. Unter dem achtzehnten Grad südlicher Breite kam er in eine Windstille, die zwei Tage anhielt, dann machte sich eine frische nordwestliche Brise auf, die Raaen wurden vierkant gebraßt, und nun segelte das Schiff aus den Regionen des warmen Sonnenscheins hinunter in den rauhen Ozean, dessen sturmgepeitschten Fluten das Kap der Guten Hoffnung umbranden, das nicht mit Unrecht auch das Kap der Stürme genannt wird.

Seit der Bestrafung des Griechen war das Leben im Mannschaftslogis ruhig und friedlich; mit dem Verbannten verkehrte man nur, wenn der Dienst dies erforderte. Bei mildem Wetter konnte dieser über sein Quartier im Großboot nicht klagen, die Aussicht aber, auch beim Passieren des Kaps darin zubringen zu müssen, war keine angenehme. Die Mannschaft war jedoch fest entschlossen, ihn nicht wieder im Logis aufzunehmen. Seine Diebereien hätten die Leute ihm verziehen, aber dafür, daß er das Messer gegen einen Schiffsmaaten gezückt hatte, gab es keine Vergebung.

Eines Morgens kam Land in Sicht, ein kleines, kaum erkennbares Fleckchen auf Steuerbord voraus. Alle Mann schauten eifrig danach aus, war es doch das erste Land seit man den Kanal verlassen hatte.

»Dat is dat Eiland Tristan da Cunha,« sagte Towe zu Paul. »Nu ward de Ohl de Kurs mehr östlich setten. Paß up, nu giwwt dat bald slecht Wedder un fixe Bris'.«

Tristan da Cunha kam bald wieder aus Sicht. Towes Prophezeiung erfüllte sich jedoch nicht; die Brise flaute immer mehr ab, das Wetter wurde zwar kälter, blieb aber schön.

Als die Backbordwacht am nächsten Morgen an Deck kam, fand sie dort alles in Aufregung. Der Senator war in die Nähe eines großen Fahrzeugs gekommen, das sich so sonderbar benahm, daß niemand aus ihm klug werden konnte. Bald standen seine Segel voll, bald wieder schlugen sie back; es schien sich willkürlich nach allen Strichen der Windrose zu drehen.

»Junge, Junge,« sagte Heik Weers, nachdem er das Fahrzeug lange betrachtet hatte, »dor sünd jo woll Apen und Boren staats Seelüd an Bord. De Kasten denkt wohrschinlich, dat he noch in de Mallungen is. Verlich is dor ok gor keen Mensch an Bord.«

»Wat schall dor woll keen Mensch an Bord wesen!« entgegnete der Matrose Hajunk. »Alle Seils stahn, un ok sünsten is allens in Ordnung, soveel as ick man sehn kann.«

Der Kapitän ließ die Flagge heißen, in der Erwartung, daß auch der fremde Segler sich zu erkennen geben würde. Der aber achtete nicht darauf und gierte nach wie vor so planlos im Winde umher, als sei kein menschliches Wesen auf seinem Deck.

Inzwischen kam der Senator dem andern Fahrzeug immer näher. Der Kapitän befahl, das Schiff beizudrehen und dann ein Boot klar zu machen. Die Fahrzeuge waren jetzt ungefähr eine Viertelseemeile voneinander entfernt. »Gehen Sie an Bord von dem Kasten, Steuermann,« sagte der Kapitän zu Jaspersen, »sehen Sie sich das Ding mal an und sagen Sie mir dann, was mit ihm los ist.«

»Jawoll Kaptein,« antwortete der Angeredete, dann rief er: »Veer Mann in de Boot! Towe Tjarks, Heik Weers un –«

»Un ick, Stüermann!« meldete sich Paul eifrig.

»Ja, Paul Krull un – o, dor is jo all een in de Boot – de Keerl, de Griek! Na, lat em. Fier' weg!«

Das Boot hing in seinen Davits, den kranartig gekrümmten eisernen Trägern. Gazzi war hineingeklettert, um es für die Fahrt herzurichten; auch die andern drei kletterten hinein, es wurde ins Wasser hinabgefiert, der Steuermann sprang, an einer der Taljen hinuntergleitend, leichtfüßig in die Sternschoten, den hinteren Teil des Bootes, und ließ abstoßen.

Von kräftigen Riemenschlägen getrieben schoß das kleine Fahrzeug schnell über die tiefblaue Flut. Bald hatte es den fremden Segler, der eine große Bark war, in Rufweite.

Der Steuermann stand auf, legte die Hände an den Mund und rief: »Bark ahoi!«

Er erhielt keine Antwort, auch zeigte sich niemand oberhalb der Reling.

Nach wenigen Minuten lag das Boot langseit; Jaspersen schwang sich in die Großrüst, kletterte über die Reling und entschwand den Blicken seiner Leute. Gleich darauf aber erschien er wieder und hieß Paul, Tjarks und Weers an Bord kommen. Gazzi mußte im Boote bleiben, um es von der Schiffsseite freizuhalten.

»Junge, Junge, wo unheimlich dat hier utsüht,« sagte Weers, indem er die Augen nach allen Seiten über das verödete Deck schweifen ließ. »Wat dat Aug' nich sehn tut, macht dat Herz kein' Schmerz nich, aber richtig is dat nich mit düsse Bark. Wenn dat man keen Gespensterschipp is, so een as de fleegende Holländer west wer.«

Alles an Bord der Bark befand sich in bester Ordnung.

»Wenn hier noch lebendige Menschen an Bord wären, dann müßten sie gehört haben, wie wir hier umhertrampeln, und schon zum Vorschein gekommen sein,« sagte Jaspersen zu Paul. »Von den Booten fehlt kein einziges; die Besatzung kann das Fahrzeug also nicht im Stich gelassen haben. Unbegreiflich!« – »Die Bark heißt ›Hallig Hooge‹,« sagte Paul, »der Name steht an den Pützen und auch an den Booten.«

»Uns' Maat Ocke Hinrichsen ischo up een von de Halligen to Hus,« bemerkte Towe, »ick glöw sogar up de Hallig Hooge.«

Der Steuermann ließ zunächst die Raaen backbrassen und auf diese Weise die Bark beidrehen, damit sie auf einer Stelle blieb, und dann schickte er Weers und Tjarks nach vorn mit der Weisung, das Logis zu untersuchen. »Paul und ich gehen achteraus in die Kajüte,« sagte er.

Die Matrosen machten sich zögernden Schrittes auf den Weg. Sie trauten der Sache nicht und fürchteten, unter Deck auf einen schrecklichen Anblick zu stoßen. Nicht umsonst erzählen sich die Seeleute während ihrer Freiwachen allerlei Geschichten von grausigen Begebenheiten auf der weiten, einsamen See, unter denen die eine oder die andere wohl auch auf Wahrheit beruht.

»Irgendwo steckt hier ein Geheimnis,« sagte Jaspersen zu Paul. »Wenn ein Boot fehlte, dann könnte man an eine Meuterei denken; aber dafür spricht nichts. Es ist übrigens ein feines Fahrzeug. Lange kann es noch nicht verlassen sein; in diesen Breiten gibt es häufig schwere Böen, die ihm sonst längst die oberen Segel und auch die Stengen weggerissen hätten.« – Sie fanden den Deckel der Kajütskappe zugeschoben. Jaspersen stieß ihn zurück. – »Nun mach' dich auf alles gefaßt, Paul,« sagte er; »man kann nicht wissen.«

Sie stiegen die Kampanjetreppe hinab. Unten angelangt, blieben sie erstaunt stehen. Die Tafel in der Kajüte war weiß gedeckt und mit Geschirr für zwei Personen besetzt. In der Mitte stand eine Schüssel mit einem großen Stück gekochten Salzfleisches und eine andere mit weißen Hartbroten, die von den Seeleuten »Beschüten« (Biskuits) genannt werden.

»Das Geheimnis wird immer undurchdringlicher,« sagte der Steuermann. »Ein Tisch fix und fertig für zwei gedeckt, und keine Seele an Bord! Guck' in die Kammern, Paul, ich will mir das Logbuch holen.«

Auch in den Kammern fand sich alles in bester Ordnung; das Bettzeug in den Kojen war sauber und glatt, viel einladender als der oft sehr fragwürdige Decken- und Matratzenkram in den Schlafbuchten der Matrosen vorn im Logis. Die einzige Unsauberkeit zeigte sich bei der kleinen Luke, die in den Vorratsraum hinabführte. Die Luke war offen und neben ihr lagen einige Strohstückchen, als ob man Proviant heraufgeholt und den Platz nicht wieder gesäubert hätte. Da der Raum dort unten natürlich stockfinster war, fragte Paul den Steuermann, ob er mit einer Lampe oder Laterne hinabsteigen solle.

»Jetzt nicht, mein Junge,« sagte Jaspersen. »Ich glaube, dem Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein und zwar durch dieses Logbuch. Die letzte Eintragung ist vor acht Tagen gemacht. Sie rührt von der Hand des ersten Steuermanns her. Der größte Teil der Besatzung lag am gelben Fieber danieder, einige waren bereits gestorben, darunter auch der Kapitän und der zweite Steuermann. Schau' her, hier steht's:

»Letzte Nacht sind abermals drei von den Leuten gestorben; bleiben nur noch fünf Arbeitsfähige. Während ich dies niederschreibe, fühle ich, daß das Fieber auch mich ergriffen hat. Gott erbarme sich der armen Dora, wenn ich nicht mehr bin!«

»Er ist in banger Sorge um seine Frau daheim gestorben,« fügte der Steuermann hinzu. »Jetzt wollen wir hören, was Weers und Tjarks vorn gefunden haben, und dann dem Senator signalisieren und anfragen, was weiter geschehen soll.« – Sie gingen an Deck. Die beiden Matrosen waren soeben aus dem Logis heraufgekommen.

»Wat hewwt ji dor neeren entdeckt?« fragte Jaspersen.

»Nich veel, Stüermann,« antwortete Towe. »De Bettenkram is ut de Kojen reeten, de Seekisten sünd kentert un all, wat dorin wer, rünsmeten. En halven Schinken von den Kajütsproviant liggt ok dor, un en lüttes leddiges Faß, wat nah Win rüken ded. Ick denk' mi, dat de Lüd sick erst noch mal lustig makt hewwen, ehr se von Bord gahn deden. Woans wer dat in de Kajüt', Stüermann?«

Jaspersen erzählte, was wir bereits wissen und schloß dann: »Wie der letzte Mann über Bord gelangt sein mag, das ist mir ein Rätsel. Vielleicht ist er gar nicht krank gewesen; vielleicht konnte er bloß die schreckliche Einsamkeit nicht ertragen und ist einfach ins Wasser gesprungen. Es scheint der Steward gewesen zu sein, weil er vorher noch so sorgsam den Tisch deckte. Ja, aber für wen?« setzte er hinzu.

»De Senator signaleseert,« rief Heik Weers.

Jaspersen nahm das Teleskop, das ordnungsgemäß in den Klampen innerhalb der Kajütskappe lag, und entzifferte das Signal. Es lautete:

»Sogleich zurückkommen und Bericht erstatten.«

»Vorwärts, in de Boot, Lüd,« sagte er. »Ich denke, die ›Hallig Hooge‹ wird uns einen hübschen Batzen Bergelohn einbringen, wenn es uns gelingt, sie in einen Hafen zu schaffen.«

Bald befanden die fünf sich wieder an Bord des »Senator Merk«. Der Steuermann teilte seine Wahrnehmungen und Vermutungen dem Kapitän mit, während Towe, Heik und Paul die Neugierde der übrigen Mannschaft befriedigten. Der Schiffer war hocherfreut über die Aussicht, ein so wertvolles Fahrzeug bergen zu können.

»Ich will Ihnen was sagen, Stüermann,« schmunzelte er und rieb sich die Hände. »Sie gehen an Bord und bringen die Bark nach Kapstadt. Mehr als vier Mann kann ich Ihnen freilich nicht mitgeben, aber Sie sollen sich die besten aussuchen. Also welche wollen Sie haben?«

»Ich behalte drei von denen, die mit mir im Boote waren. Für den vierten, den Gazzi, bedanke ich mich.«

»Warum, Stüermann?« entgegnete der Schiffer. »Nehmen Sie ihn nur mit; der Mann ist durchaus brauchbar, das wissen Sie, und hier an Bord führt er ein Hundeleben. Sie können ihn ja in Kapstadt abmustern.«

»Nun, meinetwegen. Es wäre ja ohne Zweifel eine Wohltat für ihn. Gazzi, kommen Sie mal eben achteraus!«

Der Grieche kam in dienstfertiger Eile herbeigelaufen.

»Hören Sie, Gazzi,« sagte der Steuermann, »der Kapitän hat mich beauftragt, die Bark nach Kapstadt zu bringen. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit. Aber das merken Sie sich, wenn Sie sich schlecht betragen, dann mache ich kurzen Prozeß mit Ihnen.«

Der Mann machte ein vergnügtes Gesicht und versprach, sich allezeit so aufzuführen, wie es einem braven Seemanne gezieme.

»Gut, halten Sie sich bereit und sagen Sie auch Towe Tjarks, Heik Weers und dem Leichtmatrosen Paul Bescheid, damit sie ihre Sachen ins Boot schaffen. Aber schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Da die Seekisten des Steuermanns und der andern vier, sowie die Bettstücke und die übrigen Habseligkeiten eine Ladung ausmachten, die für das Boot zu groß war, so mußte man zweimal nach der Hallig fahren. Der Abschied war kurz, aber herzlich. Die kleine Barkbesatzung wurde von den Zurückbleibenden im stillen beneidet, da sie von Kapstadt aus viel eher wieder in der Heimat sein konnten, als die Senatorleute aus dem fernen Melbourne, des Bergelohnanteils, der auf jeden der vier entfallen mußte, gar nicht zu gedenken. Der Grieche war, so hatte der Kapitän bestimmt, von dem Gewinn ausgeschlossen; der konnte froh sein, wieder in einer Koje schlafen und mit seinen Schiffsmaaten auf gleichem Fuße verkehren zu dürfen.

Als alles an Deck der Hallig geschafft war, ließ Jaspersen die Segel trimmen und schickte Paul ans Ruder. Bei der noch immer schwachen Brise begann die Bark langsam ihre Fahrt nach dem Kap der Guten Hoffnung. – »Die Senatorleute ins Boot!« rief der Steuermann, dem wir jetzt als selbständigem Schiffsführer, den Kapitänstitel wieder verleihen wollen. Während die Leute das Fallreep hinabkletterten, warf Paul die Fangleine los; das Boot trieb achteraus ins Kielwasser, und die letzte Verbindung zwischen unseren Freunden und dem »Senator Merk« war abgeschnitten.


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