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Viertes Kapitel.
Nach Deutschland.

Die vier Knaben hatten mit einer wahren Begeisterung der Erzählung des alten Seemanns mit dem biedern deutschen Herzen zugehört, und seine letzten, besonders an Erich gerichteten Ermahnungen hatten auf diesen einen tiefen, nachhaltigen Eindruck gemacht. Er beschloß, sein frommes, bleiches Mütterchen nicht mehr mit seinen Bitten, ihn Seemann werden zu lassen, zu quälen, vor allem jetzt fleißig zu lernen und in Gottes Hände alle seine Wünsche und Pläne für die Zukunft zu legen. Das sagte er auch seinem alten Freunde, als er ihn am nächsten Sonntag nach dem Gottesdienst auf dem die Kirche umgebenden Friedhof begrüßte, und der Bootsmann ihn und seine drei Spielgefährten einlud, am Nachmittag mit ihm einen Spaziergang über das ganze Oberland zu machen, da wolle er ihnen allerlei aus der Vorgeschichte von Helgoland erzählen, das er in einer alten Chronik gelesen und den Knaben gewiß noch fremd sei.

Um drei Uhr traf er sie, wie verabredet, vor dem ehrwürdigen Gotteshause und führte sie hinein, um sie auf mancherlei aufmerksam zu machen. Er teilte ihnen mit, daß die erste christliche Kirche schon im siebenten Jahrhundert von frommen Missionaren auf der Insel erbaut worden sei, nachdem sie die heidnischen Götzentempel zerstört hatten. – Die jetzige Kirche ist etwas über zweihundert Jahre alt und macht auf den Fremden einen ehrfurchtgebietenden, aber merkwürdigen Eindruck; sie sieht aus wie das Innere eines großen Schiffes, ihre Fenster sind wie die Luken einer Fregatte geformt, und von der gewölbten, mit Holz getäfelten, und mit bunten Arabesken bemalten Decke hängen die Modelle zweier großer Dreimaster mit vielen Rahen und Takelwerk tief herunter. Jeden Sonntag nach der Predigt spricht auch der Geistliche ein besonderes Gebet für alle Seefahrer, so ist es schon seit vielen Jahrhunderten gebräuchlich. Die Gemeinde ist evangelisch-lutherisch und wählt ihre zwei deutschen Prediger selbst, welche nach altem Herkommen von der Regierung besoldet werden; bekanntlich hat dieselbe oft gewechselt. Die Felseninsel an Deutschlands Küste, immer von einem germanischen Volksstamm bewohnt, wurde viele Jahrhunderte hindurch von fremden Fürsten regiert. Erfolglos kämpfte der mächtige deutsche Hansabund um ihren Besitz mit den Herzögen von Schleswig, diese wieder mit den Dänen, die sie zuletzt den Engländern abtreten mußten, denen Helgoland gehörte. Der alte Seemann zeigte den vier wißbegierigen Knaben die ehrwürdige Kirche und machte sie auf die kostbaren silbernen Altarleuchter aufmerksam, welche der Schwedenkönig Gustav Adolf IV. geschenkt hatte, als er sich im Jahre 1811, nachdem Napoleon ihm seinen Thron geraubt, längere Zeit auf der Insel aufhielt.

Die Helgoländer waren damals ein armes Fischervolk, und ernährten sich mühsam durch Lotsendienste und Fischfang, bis ein genialer Schiffbauer, Jakob Siemens, auf den klugen Einfall kam, ein Seebad zu gründen, das im Jahre 1826 eröffnet, anfangs nur von einhundert bis dreihundert Kurgästen besucht wurde, die sich aber von Jahr zu Jahr derartig mehrten, daß jetzt der Fremdenverkehr etwa achtzehn- bis zwanzigtausend Personen beträgt und dadurch der große Wohlstand wieder zurückgekehrt ist, der in alten Zeiten herrschte, als noch viel Kornbau und Viehzucht auf der Insel betrieben wurde, wie die verschiedenen großen Mühlsteine beweisen, die man noch hier und da vor den Häusern eingemauert findet. Man kann sich das kaum vorstellen, wenn man jetzt über das Oberland geht, und nichts als Kartoffelfelder und dünnen Rasen, der spärliche Nahrung für etwa einhundertfünfzig Schafe bietet, welche den etwa zweitausend Bewohnern die nötige Milch liefern, denn Kühe und Pferde gibt es gar nicht mehr auf Helgoland, seit die Insel so bedeutend kleiner geworden ist. Die Sage geht, daß sie einst in uralten Zeiten mit der Küste Schleswigs verbunden war, und möglich ist das ja auch, denn die Watten, Dünen und Sandbänke an derselben haben eine Ausdehnung von etwa fünfzig Quadratmeilen, wovon etwa fünfunddreißig Quadratmeilen auf die Reste des alten Nordfriesland kommen. Die Umgebung der jetzigen Inseln an jener Küste war der Schauplatz von Zerstörung und Untergang im letzten Jahrtausend, allein einhundertundsechs Kirchen sollen daselbst vom Wasser zerstört worden sein.

Geschichte und Sage gehen in der Vergangenheit von Helgoland jedenfalls sehr Hand in Hand, die vorhandenen Urkunden beweisen nur, daß die jetzt eintausendachthundertfünfundsiebzig Meter davon entfernten Dünen oder Sandinseln, zu denen die Kurgäste jeden Morgen hinüberfahren, um die wegen ihres kräftigen Wellenschlags berühmten Seebäder zu nehmen, früher durch einen Steinwall mit der Insel verbunden waren. Außerdem schützte ein weißer Gipsfelsen, die »Witteklipp« genannt, die zweitausendzweihundert Meter langen und dreihundertundzwanzig Meter breiten Dünen vor dem Anprall der Wogen und Stürme, und war im sechzehnten Jahrhundert noch ebenso hoch wie der rote Felsen von Helgoland. Aber die starke Brandung und Hochfluten zerstörten nach und nach die Witteklipp, und am Weihnachtsabend 1720 durchbrach eine gewaltige Sturmflut auch den Steindamm, und dadurch wurden die Dünen für immer von der Insel getrennt.

Ueber die Bewohner und Herrscher von Helgoland in alten Zeiten berichten deutsche Urkunden aus dem neunten und elften Jahrhundert – die letzteren von Adam von Bremen geschrieben –, daß seit dem sechsten Jahrhundert ein germanischer Volksstamm, die Friesen, Vorfahren der jetzigen Bewohner, auf der Insel lebten.

Alte römische Geschichtschreiber behaupten, daß vier Jahre nach Christi Geburt unter Tiberius' Führung eine römische Flotte in die Elbe einlief, nachdem sie zuvor von Helgoland Besitz genommen, und daß später die Zimbern sich dort niederließen, die dann von den Friesen vertrieben wurden. Sicher ist auch, daß die alten germanischen Völker an der Küste nach der friedlich stillen Insel hinüberfuhren, um dort ihre Götter zu verehren, und daß besonders die Friesen, deren König Radbod dort jahrelang wohnte, ihrer Göttin Hertha, der Mutter der Erde, und später dem Fosites daselbst einen Tempel errichtet hatten. Die christlichen Missionare Wilfried, Willibrod und Wigbert zerstörten denselben und suchten die Friesen zum Christentum zu bekehren, aber das gelang erst erfolgreicher hundert Jahre später dem heiligen Luidgar, der auf Karls des Großen Befehl zu ihnen kam.

Von diesem heidnischen Götzendienst der alten Germanen stammt auch wahrscheinlich der Name »Heiligenland«, woraus im Laufe der Zeiten Helgoland wurde, während andere Forscher behaupten, daß vor Jahrtausenden ein dänischer Häuptling, namens »Helgo«, über das Meer fuhr und die wunderbare Felseninsel in der Nordsee entdeckte, sich dort als König festsetzte und ihr den Namen Helgoland gab. Wahrscheinlicher aber ist die Abteilung von »Hillige Lun« Heiligenland, wie sie in den ältesten Urkunden und in dem sehr alten Wappen genannt wird, welches folgende Inschrift trägt:

»Grün is det Lunn
Road is de Kant
Witt is de Sunn
Det is det Wappen
Von't hillige Lunn.«

»Grün ist das Land
Rot ist die Kant
Weiß ist der Sand
Das ist das Wappen
Von Helgoland.«

Nach dem neunten Jahrhundert, als die Herrschaft der Friesenkönige zu Ende war, scheint jede Gemeinschaft zwischen Helgoland und dem Festlande aufgehört zu haben, da der Geschichtschreiber Adam von Bremen erzählt, daß ein Bischof Eilbert ums Jahr 1050 die von Einsiedlern bewohnte Insel aufgefunden und dort ein Kloster gegründet habe. Zu jener Zeit machten die Normannen durch ihre Seeräubereien alle Meere und Küsten unsicher und hatten auf Helgoland ihren Hinterhalt, von wo aus sie die Schiffe überfielen, aber den Insulanern nichts zuleide taten, weil sie den Glauben hatten, daß sie Schiffbruch erleiden müßten, sobald sie dieselben beraubten. Dahingegen erzählt man sich heute noch auf der Insel viele Schandtaten der berüchtigten Seeräuber des fünfzehnten Jahrhunderts, welche ihre Vorfahren arg bedrückten und den Schiffen der reichen Hamburger Kaufherren auflauerten. Ihr Anführer, der grausame Störtebecker, soll auf der Düne eine Burg gehabt, und in einer Grotte daselbst seine geraubten Schätze verborgen haben, bis es endlich der vereinten Anstrengung des Hansabundes gelang, die Mordgesellen zu überwältigen; Störtebecker wurde gefesselt nach Hamburg gebracht und dort hingerichtet.

Im sechzehnten Jahrhundert entbrannte ein heftiger Streit zwischen den Hansastädten, welche auf Helgoland mehrere Handelsfaktoreien errichtet und einen Leuchtturm gebaut hatten, und den Herzögen von Schleswig; aber die letzteren siegten und behielten die Insel als Eigentum, bis 1684 ein dänischer Admiral sie eroberte und sie ein ganzes Jahrhundert im Besitz der Könige von Dänemark blieb. Im Jahre 1807 setzten sich die Engländer in ihren Besitz, um sie als Seestation und Stapelplatz für ihre Waren zu benutzen, als Napoleon, der französische Tyrann, die Kontinentalsperre eingeführt hatte, um den englischen Handel zu verderben. Keinerlei englische Kolonialwaren durften auf das Festland gebracht werden, da wurden sie auf Helgoland gelagert und heimlich im Schutze der Nacht in die Nordseehäfen geschmuggelt, wobei die Helgoländer viel Geld verdienten.

Beim Friedensschlusse 1814, nach Napoleons Sturz, trat Dänemark die Insel förmlich an England ab, aber der englische Gouverneur mußte den Bewohnern auf Befehl seiner Regierung ungeschmälert ihre alten Vorrechte, sowie den Gebrauch der deutschen Sprache in Kirche und Schule lassen, sie brauchten auch keinerlei Abgaben an England zu bezahlen, trotzdem dasselbe alle großen Ausgaben für die Insel übernahm, den prächtigen, neuen Leuchtturm erbaute und den Unterhalt desselben bestritt. Die Gemeindeverwaltung steht unter sechs Ratsherren und sechzehn Aeltesten, welche von den Einwohnern unter sich gewählt werden, und der Gouverneur braucht nur der Form wegen seine Einwilligung zu ihren Bestimmungen zu geben.

Der brave Quartermeister saß mit den vier Knaben in der warmen Aprilsonne auf der Bank des alten Leuchtturms, während er ihnen all diese Mitteilungen über die Vorgeschichte der Insel und ihre jetzigen Verhältnisse machte, dann führte er sie noch an die Südspitze, das »Sadhurn« genannt. Von diesem Punkte aus hat man den schönsten Blick nach der Düne, weit über das Meer hinaus, und nach rechts über die wildzerklüftete Westkante des Oberlandes; dicht davor liegt der seltsam geformte, ganz von der Insel getrennte Felskegel, den die Helgoländer »Mönch« nennen und an den sie eine eigentümliche Sage knüpfen. Zur Zeit der Reformation kam ein früherer Mönch nach Helgoland, um den Bewohnern die Lehre Luthers zu predigen, aber vergebens bemühte er sich, sie dazu zu bekehren, sie ließen sich nicht von ihrer Wahrheit überzeugen, und ein Teil der Einwohner war so aufgebracht über den frommen Mann, daß sie ihn eines Tages im wilden Zorn vom Felsen der Südspitze hinunter ins Meer stürzten. In der auf die Mordtat folgenden Nacht brach ein fürchterlicher Orkan aus, wie man ihn in solcher Heftigkeit noch nie erlebt hatte; er löste einen großen Felskegel von der Südspitze ab, der zum Entsetzen der Mörder ganz die Gestalt des Mönches trug, und in der abergläubischen Furcht ihres bösen Gewissens glaubten sie jede Nacht die Donnerstimme ihres Opfers zu hören, mit der es den Bewohnern der Insel Buße und Glauben predigte. Viele bekehrten sich nun zu dem neuen lutherischen Glauben, der sich nach und nach über die ganze Insel verbreitete; noch heute geht die Sage, daß sich der Mönch auch jetzt von Zeit zu Zeit zeigt, besonders den Missetätern als Warner und auch als Vorverkündiger eines kommenden Unglücks.

Als Erich an dem Abende, nachdem er so viel Interessantes über die ihm jetzt sehr lieb gewordene Insel erfahren hatte, nach Hause zurückkehrte, wartete seiner eine große, freudige Ueberraschung. Sein geliebter Lehrer, Doktor Bucher, aus der deutschen Vaterstadt Klausthal, war ganz unverhofft mit einem Lotsenkutter auf Helgoland eingetroffen, um seinem Jugendfreund, Doktor Walder, und dessen Familie endlich den lange schon versprochenen Besuch zu machen, und ihnen mitzuteilen, daß er zum Gymnasialdirektor in Goslar ernannt sei, und schon Ostern seinen neuen Beruf dort antreten müsse. Er wußte, daß Erichs Eltern beabsichtigten, denselben in diesem Jahre auf die Schule nach Klausthal zu bringen, weil sie den Privatunterricht beim Prediger und dem englischen Hofmeister der Gouverneurssöhne nicht mehr für genügend hielten, nun der Knabe bald dreizehn Jahre alt und die Vorbildung auf einem deutschen Gymnasium notwendig für seine späteren Universitätsstudien war. Doktor Bücher benutzte daher die jetzigen Osterferien, um mit seinen Freunden persönlich dieserhalb Rücksprache zu nehmen, und schlug ihnen vor, Erich nun nicht nach Klausthal, sondern auf das viel bessere Gymnasium in Goslar zu senden, wo er selbst ihn dann unter seine besondere Obhut nehmen wolle. Er fügte hinzu, daß die Kränklichkeit seiner Gattin ihm nicht gestatte, den Knaben ganz in seiner eigenen Familie aufzunehmen, daß aber in dem oberen Stockwerk seines Hauses die sehr brave, liebenswürdige Predigerwitwe Bremer wohne, mit der Frau Doktor Walder in ihrer Jugend sehr befreundet war, und daß dieselbe stets drei fremde Knaben vom Lande, welche die Schule besuchen mußten, bei sich in Pflege und mütterliche Obhut nähme. Der älteste derselben sei jetzt fortgezogen, weil sein Vater als Beamter eines kleinen Ortes zu Ostern in die Stadt versetzt sei und seinen Sohn nun selbst erziehe; da könne Erich dessen frei gewordenes Zimmer bei der Frau Pastorin sofort bekommen und mit ihm zusammen die Reise nach Goslar antreten.

Doktor Walder erkannte sogleich die großen Vorteile dieses Vorschlags, seine Gattin ebenfalls, aber dennoch blutete das Mutterherz bei dem Gedanken an seine so nahe, plötzliche Trennung von ihrem Lieblinge, die sie erst nach dem Schlusse der Sommerferien im August erwartet hatte. Als Erich, strahlend vor Freude über den Besuch seines früheren, so sehr von ihm verehrten Lehrers, ins Zimmer trat, sah er sofort Tränenspuren und einen wehmütigen Ausdruck auf dem Antlitz seiner teuren Mutter, und begriff nicht, was wohl die Ursache davon sein könne, bis ihm der Vater mitteilte, daß Doktor Bucher gekommen sei, um ihn zu holen; vierzehn Tage würde er auf Helgoland bleiben, und ihn dann mit auf die Schule nach Goslar nehmen. Nun hatte auch der leicht von seinen Gefühlen überwältigte Knabe große Mühe, die aufsteigenden Tränen zu bekämpfen; wohl erinnerte er sich, wie schwer es ihm vor drei Jahren geworden, die geliebte deutsche Heimat in den Bergen zu verlassen, und wenn jetzt die Eltern mit ihm dahin zurückkehren könnten, dann würde er gejubelt haben, aber ohne sie und sein Schwesterchen – so bald schon fort von allen, von seinem heißgeliebten Meere – das wurde ihm doch sehr schwer. Aber der gütige Lehrer, der seinetwegen die weite Reise gemacht hatte, sollte das nicht merken, darum verließ er schnell das Zimmer und folgte der Mutter hinaus, umarmte sie stürmisch, dann brach er in heftiges Weinen aus. Diese aber, eine sehr fromme, pflichtgetreue Frau, hatte sich inzwischen gefaßt. Sie stellte ihm vor, daß es ja nicht anders sein könne, daß der Vater im August, wenn so viele Kurgäste da seien, Helgoland nicht verlassen dürfe, um ihn beim Beginn der Schule fortzubringen, erinnerte ihn auch an Doktor Buchers große Güte, seinetwegen hierher zu kommen, und daß er doch nicht im Spätsommer noch einmal die weite, teure Reise machen könne, versprach ihm aber fest, den Papa zu bitten, im Herbst nach der Kurzeit mit ihr und Helga nach Goslar zu reisen, um ihn für längere Zeit zu besuchen.

So gelang es ihr nach und nach, Erich wieder aufzuheitern, er gedachte auch der Ermahnungen seines alten Freundes, wie der Quartermeister ihn stets gebeten, seine eigenen Wünsche zu unterdrücken und alles geduldig und ergeben hinzunehmen, was Gott ihm schicke, und wenn auch etwas ernster wie gewöhnlich, erzählte er doch am nächsten Morgen mit ruhiger Fassung dem biedern Seemann und seinen Spielgefährten, was die Eltern und der Lehrer aus der deutschen Heimat über ihn beschlossen hatten.

Nur zu schnell verflogen die nächsten vierzehn Tage mit den Vorbereitungen zur Abreise, und dann kam die trübe Abschiedsstunde, die allen Beteiligten sehr schwer wurde, aber der lebhafte Knabe mit dem angeborenen heiteren Gemüt überwand sie doch weit schneller als seine weiche Mutter, und die neuen Reiseeindrücke halfen ihm sehr dabei. Die Fahrt in der Postschaluppe über sein geliebtes Meer, das Wiedersehen der deutschen Berge und seiner einstigen Schulgefährten machten ihm große Freude, denn in Klausthal verlebte er bei der Familie Bucher die ersten Tage, dann führte ihn der Gymnasialdirektor nach Goslar und übergab ihn der Obhut der neuen Pflegemutter, die ihn als den Sohn ihrer geliebten Jugendfreundin mit großer Herzlichkeit empfing und ihm gleich sein hübsches Giebelzimmer mit der Aussicht auf die grünen Tannenberge des Harzes zeigte.

»Hier wirst du nun schlafen und deine Schularbeiten machen, lieber Erich,« sagte sie, »die übrige freie Zeit und die Abende bringst du mit den beiden Kameraden, die morgen eintreffen werden, stets bei mir im Familienzimmer zu und mußt dich immer bei mir wie zu Hause fühlen.« Die gütige Frau verstand es meisterhaft, das Herz der Knaben zu gewinnen und ihnen durch treue, mütterliche Sorge und Teilnahme an allen ihren kleinen Freuden und Leiden die Trennung von den Eltern zu erleichtern. Erich schrieb bald sehr zufriedene, ja fröhliche Briefe nach Helgoland, sowohl an Vater und Mutter wie an die dortigen Spielkameraden und an seinen besten Freund, den alten Seemann. Als er dann einige Wochen den Schulunterricht genossen, da sah er auch bald ein, daß derselbe doch so ganz anders, so viel besser und interessanter sei als die früheren Privatstunden auf der Insel; besonders Geographie und Geschichte, die Doktor Bucher selbst lehrte, wurden sein Lieblingsstudium, und es war sein höchster Genuß, wenn derselbe ihm auf Spaziergängen alle die historischen Kunstschätze der alten, einst so prächtigen Reichsstadt Goslar zeigte, die Stätten, wo die mächtigsten deutschen Kaiser gelebt und ihre glänzenden Reichstage abgehalten hatten.

Doktor Bucher verstand es, die vom Vater schon ererbte Liebe zum Vaterlande noch mehr anzufachen; er führte ihn oft in das ungeheure, alte Gebäude, die »Kaiserpfalz« genannt, welche im Jahre 1050 von Kaiser Heinrich III. gegründet und die Geburtsstätte Heinrich IV. war, und erzählte ihm von den dreiundzwanzig großen Reichsversammlungen, die in Deutschlands Glanzperiode dort stattfanden.

»Aber warum wird denn wohl solch ein ehrwürdiges Denkmal einer großen Vorzeit jetzt als Kornmagazin benutzt?« fragte Erich unwillig, als er zum erstenmal hineintrat, »solche historische Denkstätten sollte Deutschland doch besser in Ehren halten!«

»Da hast du freilich recht, mein Sohn, aber wir haben ja leider kein großes, mächtiges Deutsches Reich mehr!« rief Doktor Bucher traurig, »es ist zerfallen, zersplittert, in zweiunddreißig kleine, ohnmächtige Fürstentümer geteilt, die nicht einmal untereinander in Frieden leben. Oh, Erich, das ist der schönste Traum, die größte Hoffnung meines Lebens, daß Deutschland noch einmal wieder erstehen möge zu einem großen, mächtigen, Welt gebietenden Reiche, und jeder echte deutsche Patriot, der sein schönes Vaterland liebt, würde gewiß mit Freuden sein Herzblut hingeben, wenn er dazu beitragen könnte. Nichts ist mir trauriger auf der Welt, als sehen zu müssen, daß andere Nationen, besonders die Franzosen, die uns von jeher feindlich gesinnt waren, uns verlachen und verspotten und bedrücken, wo sie können, weil wir so ohnmächtig und untereinander nicht einig sind, weil wir eben kein Oberhaupt, keinen mächtigen Deutschen Kaiser mehr haben wie in alten Zeiten –, dem sie alle untertänig sein mußten. Aber wenn mich nicht alle Anzeichen täuschen, wird doch bald eine bessere Zeit anbrechen –, wer weiß, ob wir beide es nicht noch erleben, daß diese alte Kaiserpfalz in Goslar zu neuem Glanze ersteht.«

Auch die andern zahlreichen Denkmäler einer großen Vergangenheit, die vielen Altertümer und ehrwürdigen Kirchen zeigte der Lehrer Erich auf den gemeinsamen Spaziergängen, und dieser staunte über die Reste der gewaltigen Ringmauern mit einem Zwingerturm, der sieben Meter dicke Mauern hat und begriff es nun, daß die alte Reichsstadt – wie er aus dem Geschichtsunterricht wußte – im Jahre 1625 während des Dreißigjährigen Krieges erfolglos belagert wurde. Aber später mit dem Verfall des Deutschen Reiches erblich der Glanz der alten Stadt mehr und mehr, im Jahre 1802 verlor sie die Reichsunmittelbarkeit und kam an Preußen, 1807 an Westfalen und nach Napoleons Sturz an Hannover.

Auf Erichs Bitten machte Doktor Bucher auch mit ihm und seinen Kameraden wiederholt Einfahrten mit den Bergleuten in die reichen Gruben des Rammelsberges, der dicht bei Goslar liegt, wo schon seit dem Jahre 968, als die Franken den ersten Schacht bohrten, so viel Silber, Kupfer, Blei, Schwefel und auch etwas Gold gewonnen wird.

In den Sommerferien unternahm Erich mit seinem geliebten Lehrer große Fußtouren durch das ganze Harzgebirge und schrieb begeisterte Briefe über alles, was er sah, nach der fernen Insel. Dann kam der Oktober heran und mit ihm der Besuch seiner Eltern und Schwester, der sich jeden Spätherbst wiederholte, während Erich alle Jahre, zu Ostern oder Weihnachten mitunter von Doktor Bucher begleitet, die Ferien auf Helgoland zubringen durfte.

So vergingen im Fluge mehrere Jahre; aus dem Knaben war ein hochgewachsener sechzehnjähriger Jüngling geworden, der Eltern und Lehrern durch seine vortrefflichen Zeugnisse viel Freude machte und sie zu der Hoffnung berechtigte, daß er ungewöhnlich früh die Schulzeit überstanden haben würde, und schon vor dem achtzehnten Jahre die Universität beziehen könnte. Aber der Mensch denkt, und Gott lenkt! Lenkt alles oft so ganz anders, wie wir denken und planen, das hatte der alte Bootsmann zu Helgoland dem dreizehnjährigen Knaben so oft gesagt, nun mußte er es selbst erfahren, als über ihn und seine Familie eine schwere Prüfung hereinbrach, die seinem Geschicke eine ganz andere Wendung gab.

Bei dem letzten Besuche seiner Eltern im Spätherbst fiel es Erich sehr auf, daß sein Vater ungewöhnlich ernst war, auch nie mehr größere Bergtouren wie sonst mit ihm unternahm, auf den gemeinsamen Spaziergängen der Familie bekam er häufig Atembeschwerden, blieb dann auf einem Ruheplätzchen allein zurück und bestand darauf, daß die übrigen weitergingen. Erich bemerkte dann, daß seine Mutter jedesmal tief bekümmert aussah, und sie erzählte ihm auf sein Befragen, daß der Papa seit einiger Zeit von einem Herzleiden befallen sei, das ihr große Sorge bereite. Auch im folgenden Winter erhielt er oft trübe Nachrichten über des Vaters Befinden, und mit Ungeduld ersehnte die Mama in ihren Briefen die Osterferien herbei, wo ihr Liebling wieder für einige Wochen nach Helgoland kommen durfte und den Vater zerstreuen konnte.

Erich machte dieses Jahr die Reise ohne Doktor Bucher, der durch Berufsgeschäfte verhindert war, und mit klopfendem Herzen sah er in der Ferne den roten Felsen in der Nordsee aufsteigen, als er dem Führer der Postschaluppe, wie er es so oft getan, beim Spannen oder »Reffen« der Segel oder am Steuer behilflich war.

Nicht so jubelnd als sonst bei seiner Ankunft, begrüßte er dann den biedern, alten Bootsmann Hamke, der ihn am Strande erwartete; es war ihm, als ob ein Alp sich auf seine Brust lagerte, eine böse Ahnung ihn beschlich, als derselbe ihm mit ernster Miene die Hand schüttelte, mit den Worten: »Gott sei Dank! daß Sie wieder da sind, Herr Erich, die Freude, Sie zu sehen, wird dem Herrn Papa mehr nützen als all die Arzneien und ihn hoffentlich bald wieder gesund machen.«

»Geht es ihm denn so schlecht, ist er ernstlich krank?« fragte Erich erschrocken, »ich bekam seit vierzehn Tagen keinen Brief mehr, tröstete mich aber damit, daß die Postschaluppe wahrscheinlich wegen der Stürme in den letzten Wochen nicht wie sonst alle Montag nach Kuxhaven gesegelt sei und die Mama ohnedies wußte, daß ich gleich bei Beginn der Osterferien abreisen würde, aber so ist am Ende Papas Befinden schuld an ihrem Schweigen?«

»Ja, Herr Erich, der Herr Doktor war vorige Woche sehr krank an Herzwassersucht, und sein Freund, der Gouverneur, ließ deshalb einen berühmten Arzt aus Hamburg herüberkommen, der mehrere Tage hier blieb, bis der Zustand etwas besser wurde und die große Atemnot nachließ, dann reiste er wieder ab und schickte einen jüngeren Kollegen, der einstweilen auf der Insel bleiben und Ihren Vater und dessen Patienten behandeln soll. Aber erschrecken Sie nur nicht so sehr, lieber Herr Erich, Sie sind ja kreidebleich geworden und wissen doch, daß unser aller Leben in Gottes Hand steht, er kann immer helfen und retten, wenn es auch noch so schlimm geht, ihm wollen wir Ihres guten Vaters Gesundheit empfehlen, und Sie müssen als starker, nun erwachsener Sohn, eine rechte Stütze der armen, zarten Frau Mutter sein, die sonst vor Sorge und Herzeleid zusammenbricht und sich sehr nach Ihnen sehnt. Ich war alle Tage einigemal bei ihr, und als sie durchaus jemand in der Nachtwache bei dem Kranken ablösen mußte, da habe ich das natürlich übernommen, und Helgachen ist seit acht Tagen meistens in unserem Hause bei ihrer Herzensfreundin Marie, denn so ein Krankenzimmer paßt doch nicht für ihre jungen Jahre.«

Erich umarmte dankbar den treuen, alten Freund seiner Familie, als er sich nun am Fuße der Treppe von ihm verabschiedete, und stürmte mit unendlich banger Sorge hinauf ins Oberland an das Herz der treuen, bleichen Mutter, die ihm unter heißen Tränen die namenlosen Leiden des armen Vaters schilderte. Überwältigt von Schmerz kniete er dann bald nachher an dessen Lager nieder, und bedeckte die abgemagerten Hände des Kranken mit heißen Küssen, während seine Mutter das Zimmer verließ, um nach Helga zu sehen, da Karos lautes Gebell vor dem Hause ihre Rückkehr vom Spaziergange mit Marie und ihrer Erzieherin verkündete.

»Gottlob! daß du noch zur rechten Zeit kommst, mein Sohn!« flüsterte der Kranke, und legte die Hand wie segnend auf Erichs lockiges Haar, »ich habe dir noch so viel zu sagen, ehe es nun wohl bald mit mir zu Ende gehen wird, und habe mich sehr geängstigt, daß du zu spät kommen würdest, ich fühle, daß das Wasser, das meine Beine so unförmlich angeschwellt hat, höher und höher steigt, aber Gott hat dem schwachen Herzen noch gnädig so lange Kraft gegeben, daß ich Wichtiges mit dir besprechen kann. Gib mir jene Tropfen, sie helfen mir immer zu leichterem Atmen, das mir oft so schwer wird, und nun setze dich mir gegenüber auf jenen Stuhl – du armer Erich, bist noch so jung, und dennoch mußt du wohl bald die einzige Stütze deiner schwächlichen Mutter, deiner kleinen Schwester sein. Aber ich kenne dich – du wirst deine Aufgabe brav und tapfer vollführen – darüber mache ich mir keine Sorge, nur eins quält mich sehr, aber ehe ich es dir sage, sollst du mir offen und ehrlich eine Frage beantworten. Es sind jetzt über drei Jahre verflossen, seit du nie mehr ein Wort – weder mündlich noch schriftlich über deinen einst so heißen Wunsch gegen uns geäußert, daß du Seemann werden möchtest; hast du diese Lust verloren, möchtest du jetzt wirklich lieber bei deinen Studien bleiben und dich dem Berufe des Arztes widmen, dem ich dich von jeher bestimmte? Sag' mir die volle Wahrheit, wie du es deinem Vater schuldig bist, sprich dich so aus, als wenn du vor Gottes Richterstuhle ständest.«

Eine tiefe Bewegung kämpfte in Erichs Brust, es war nicht nur der Schmerz über den drohenden Verlust des teuren Vaters und der Anblick seines schweren Leidens, die ihm die Antwort erschwerten, es war auch die Furcht, ihm noch einen Kummer zu bereiten, wenn er ihm offen erzählte, wie schwer ihm der Kampf geworden, seine schönen Jugendpläne zu unterdrücken. Aber dennoch war es ihm bei seinem offenen, biedern Charakter unmöglich, jetzt eine Unwahrheit zu sagen, so erzählte er denn ganz aufrichtig, daß er vor drei Jahren auf eine ergreifende Ermahnung seines alten Freundes, des Quartermeisters, den Entschluß gefaßt hatte, seinem eigenen, noch heute ebenso heißen Wunsche, Seemann zu werden, aus Liebe zu den Eltern zu entsagen. »Aber ich bitte dich, lieber Vater,« fügte er hinzu, »mache dir doch deshalb keine Sorgen, ich habe es jetzt längst überwunden, mich ganz an den Gedanken gewöhnt, daß es nicht sein kann, meine Studien machen mir große Freude, und ich bin überzeugt, daß ich auch als Arzt einmal glücklich und zufrieden sein kann, und will meinen Beruf gewissenhaft durchführen.«

»Gott erhalte dir dein gutes, aufrichtiges Herz, mein braver Junge!« rief der Kranke mit fast freudigem Ausdruck auf seinem bleichen Antlitz und atmete wie erleichtert auf, »nun kann ich ruhiger sterben, Gott hat alles zum besten gelenkt; so höre denn, was mich in diesen letzten Monaten so namenlos gequält hat. Du hast ja jetzt schon einen Begriff davon, mit welch großen Kosten die langen Schul- und Universitätsjahre verbunden sind, du weißt aber nicht, daß deine Eltern gar kein Vermögen haben, wir besitzen nicht viel mehr als dieses Haus, denn der Ertrag meiner Praxis reichte gerade für unser Leben und die Bezahlung deines Kost- und Schulgeldes. Solange mein alter Onkel noch lebte und wir alle jeden Sommer seine Gäste waren, verdiente ich mehrere tausend Taler als sein Assistent hier auf der Insel, die ich zurücklegen konnte, aber die müssen doch für deine arme Mutter und Helga bleiben, denn der Erlös meiner kleinen Lebensversicherung reicht nicht für ihren Lebensunterhalt, wenn ich nicht mehr bin. Ich hatte gehofft, Gott würde mich so lange erhalten, bis du deine Studien vollenden konntest, aber er hat es in seiner Weisheit anders beschlossen – vielleicht zu deinem Glücke, mein Erich, denn nun soll dein langjähriger Wunsch erfüllt werden; studieren sollst du nicht, obgleich mir dein Lehrer, Doktor Bucher, vorigen Herbst, als ich anfing leidend zu werden, das Versprechen gab, Stipendien für dich zu erwirken, Freiplätze, wie sie jede Schule und Universität in Deutschland für talentvolle, fleißige Schüler besitzt.

»Nun ich aber deinen wahren Herzenswunsch kenne, ist es mir weit lieber, wenn du Seemann wirst. Deine fromme, verständige Mutter wird sich darein finden, wird es selbst nicht wünschen, daß du stets mit Not und Sorgen kämpfst, wie ich es in meiner Jugend tun mußte, und wodurch wahrscheinlich der Keim zu meinem jetzigen Leiden gelegt wurde. Mit deiner Bildung wirst du durch Vermittlung meines Freundes, des Gouverneurs, der es mir versprochen, gleich eine gute Stelle als Seekadett in englischen Diensten bekommen mit einem guten Verdienst, der dich vor aller Not schützt, und bei rasch steigender Einnahme, wenn du sparsam bist, deine Mutter und Schwester unterstützen können. Gott sei Dank! daß ich mit dir selbst noch sprechen konnte, der Gouverneur hatte mir freilich sein Wort gegeben, dir statt meiner die Frage vorzulegen, die du mir eben beantwortet hast – falls du zu spät gekommen wärest, aber nun kann ich ruhiger meine Augen schließen.«

»Sprich nicht so, lieber Vater,« rief Erich erschüttert, »Gott wird gewiß unsere Gebete erhören und dich wieder gesund machen, der gute, erfahrene Quartermeister erzählte mir bei meiner Ankunft, daß ihm der berühmte Hamburger Arzt gesagt habe, man könne mit einem Herzleiden sehr alt werden, wenn man recht vorsichtig lebe und vor Sorgen und Aufregungen behütet werde, wenn auch von Zeit zu Zeit solche Atembeschwerden und böse Anfälle einträten, wie du sie jetzt durchgemacht hast.« – Doktor Walder schüttelte ernst den Kopf, und in diesem Augenblicke trat sein neuer Assistent herein; Erich ging nach herzlicher Begrüßung hinaus, um die Mutter zu holen und Helga aufzusuchen, die er noch gar nicht gesehen hatte. Sie war mit ihrer Freundin Marie beschäftigt, den Blumengarten, der das Schweizerhäuschen umgab, unter Anweisung der Erzieherin von Unkraut zu reinigen, und Erich, zu erregt von all den erschütternden Eindrücken, verließ bald die harmlos plaudernden Kinder, um sich in der Einsamkeit seines trauten Giebelzimmers mit der herrlichen Aussicht auf die weite, wogende Nordsee zu sammeln und zu beruhigen.

Wie viel war in dieser kurzen Stunde seiner Heimkehr in das Elternhaus auf ihn eingestürmt, namenloser Schmerz über das schwere Leiden seines Vaters und dessen vielleicht nahen Verlust, und dann wieder die unerwartete Freude, daß die so lange bekämpfte schönste Hoffnung seines Lebens nun dennoch erfüllt werden sollte, erfüllt auf den Wunsch seines geliebten Vaters! Aber die arme, teure Mutter? würde auch sie sich jetzt mit dem ihr früher so schweren Gedanken ausgesöhnt haben? Das fragte er sich mit banger Sorge, bis sie selbst ihn schon in den nächsten Tagen davon befreite, als sich der Zustand des Kranken ganz unerwartet bedeutend besserte.

Augenscheinlich hatte Erichs Ankunft und die Unterredung mit ihm eine drückende Sorgenlast von ihm genommen, er fand wieder stärkenden, ruhigen Schlaf, und ließ sich am dritten Tage mit Erlaubnis des Arztes durch Erich und Vater Hamke, wie die Kinder den Quartermeister nannten, in einem Sessel auf die sonnige Altane tragen. Die frische Seeluft tat ihm unendlich gut, er war imstande, lange Beratungen erst mit seiner Gattin, dann mit dem befreundeten Gouverneur zu halten, und die Hoffnung kehrte in aller Herzen zurück.

Wenn auch noch bleich und angegriffen von all den sorgenvollen Wochen war Erichs Mutter doch beinahe heiter, als sie eines Abends mit ihrem Sohne auf des Kranken Wunsch einen Spaziergang zur Südspitze des Oberlandes unternahm, und dann von selbst das Thema mit ihm besprach, das er aus zarter Rücksicht gegen sie bis jetzt noch nicht zu berühren wagte.

»Wie freut es mich, mein Erich,« sagte sie milde, »daß du deinem Vater so aufrichtig deine geheimen Herzenswünsche ausgesprochen hast – ich will dir nur gestehen, daß ich mir oft in den letzten schweren Wochen ernste Vorwürfe darüber gemacht habe, daß ich hauptsächlich schuld daran bin, daß du deinem Wunsche, Seemann zu werden, bis jetzt nicht folgen durftest. Aber ich dachte vor vier Jahren, du seiest noch zu sehr Kind, um eine so wichtige Entscheidung über den Lebensberuf zu treffen, und als du dann in Goslar bei deinen Studien so glücklich warst, glaubten wir fest, du habest die Neigung deiner Knabenjahre völlig vergessen und verloren. Im letzten Winter, als dein Vater durch sein Herzleiden oft in sehr trüber Stimmung war, sprach er mir dann zum ersten Male seine Sorgen darüber aus, ob es möglich sein würde, die großen Kosten deiner Universitätsjahre zu bestreiten. Wenn Gott ihn, wie ich hoffe, wieder gesund werden läßt –« fügte sie mit bebenden Lippen und aufsteigenden Tränen hinzu – »dann wäre es ja leicht möglich gewesen – aber nun wir wissen, daß du noch heute denselben heißen Wunsch hast – den Seemannsberuf zu wählen, ist es sicher das beste für uns alle; der Vater hat dann keine Sorgen mehr, kann sich schonen und dem jungen Assistenten alle Patienten im Unterlande überlassen, damit er die beschwerliche Treppe nicht so oft zu steigen braucht, und du, mein guter Erich, der du mir zuliebe so brav gekämpft hast, wirst, so Gott will, recht glücklich. Ich will mich auch nicht um dich ängstigen, dich ruhig Gottes Schutz übergeben, und da du jetzt so viel älter bist, und viel gelernt hast, wird es mir auch viel leichter, dich in so weite Ferne ziehen zu lassen.«

»O wie danke ich dir, du liebe, liebe Mama!« rief Erich strahlend, und nachdem er sie stürmisch umarmt hatte, führte er sie auf die Bank am alten Leuchtturm und machte sie auf ein großes, prächtiges Schiff aufmerksam, das in der Ferne vorüberfuhr. »Sieh nur, wie schön das ist,« sagte er bewundernd, »gleicht es nicht mit seinen ausgespannten Segeln einem stolzen Schwan? O, Mamachen, werde ich wirklich das Glück haben, einst solch einen herrlichen deutschen Dreimaster oder Dampfer zu kommandieren? Denn nicht war, du überredest doch den Papa, daß er mich auf deutschen Schiffen fahren läßt, er sprach zu meinem Erstaunen neulich von englischen Seediensten, und daß der Gouverneur mir dazu verhelfen würde.«

Ein Schatten flog über der Mutter Antlitz, und sie sagte ernst: »Du darfst dem Vater darin nicht widersprechen, lieber Erich, er ist ja selbst mit ganzem Herzen ein deutscher Patriot wie du, aber er hat es oft mit Bedauern ausgesprochen, daß Deutschlands Schifffahrt weit hinter der englischen zurücksteht, daß sowohl die Kapitäne wie die Matrosen auf deutschen Schiffen, mit seltenen Ausnahmen, wenig gebildet sind. Denke dir nun, wie schwer es dir werden würde, wenn du mit deinen sechzehn Jahren und deinem Bildungsgrade als Schiffsjunge unter so rohen Matrosen mehrere Jahre ausschließlich zubringen müßtest, und wenn du auch die niedere Arbeit nicht scheuen sollst, denn die mußt du auch, wie Hamke sagt, als englischer Seekadett verrichten und gründlich lernen, so wäre es uns doch sehr unangenehm, dich stets in so roher Umgebung zu wissen. Darum hat dein Vater recht, wir müssen dem Gouverneur sehr dankbar sein, wenn er dir wirklich eine Anstellung als angehender Offizier verschaffen kann, denn er sagt, ein tüchtiger Seekadett wird bei guter Führung schon nach zwei bis drei Jahren Leutnant, und hofft, daß ihm seine Verwendung für den Sohn des Arztes auf einer zu England gehörenden Insel, mit deinen guten Schulzeugnissen und mit der Hilfe eines ihm nahe verwandten Admirals nicht fehlschlagen wird.

»Laß dich das nicht betrüben, mein Sohn,« fuhr sie fort, als sie den freudlosen Ausdruck sah, der sich auf dem vorhin so glückstrahlenden Antlitze ihres Lieblings gelagert hatte, »wenn dein Lehrer, Doktor Bucher, recht hat, wenn, wie er seit Jahren prophezeit, für Deutschland bald ein neues Morgenrot anbrechen wird, wenn es wirklich zu neuer Macht und Einigkeit erstehen sollte, – dann hebt sich auch sicher die deutsche Schiffahrt, und es ist dann immer noch Zeit für dich, in deutsche Dienste zurückzukehren.« Erich sah wohl ein, daß die Eltern recht hatten, aber er war mit so ganzer Seele deutsch, daß es ihm schwer schien, seine Kräfte für eine fremde Nation zu verwenden, sowie es ihn auch oft im stillen ärgerte, daß die schöne deutsche Insel Helgoland den Engländern gehörte, und abends gestand er seinem alten Freunde Hamke, daß er viel lieber einige Zeit die niedrigsten Schiffsjungendienste unter deutschen Matrosen verrichten wollte, als Offizier unter den Engländern zu sein. Der erfahrene Seemann antwortete ihm dann aber ganz dasselbe, was ihm die Mutter am Nachmittage vorgestellt hatte, und so bemühte er sich denn, sich so zufrieden als möglich in die Beschlüsse seiner Eltern und Vorgesetzten zu fügen.

Am nächsten Morgen aber schrieb er seinem geliebten Lehrer nach Goslar, als er ihm auf des Vaters Wunsch mitteilte, daß er nicht zu seinen Studien zurückkehren solle, daß sein Glück erst vollständig sein würde, wenn der teure Kranke wieder gesund werde und er selbst in nicht gar zu ferner Zeit seinen schönen, neuen Beruf in deutschen Seediensten ausüben könne.


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