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Fünftes Kapitel.
Der englische Seekadett.

Doktor Walder war selber überrascht über die bedeutende Besserung seines Zustandes, seit ein großer Teil seiner Familiensorgen von ihm genommen war, seine geschwollenen Füße wurden täglich besser, sein Atem freier. Bald konnte er auch wieder langsam in der frischen Luft umhergehen und mußte sich als erfahrener Arzt selbst sagen, daß er bei großer Vorsicht, trotz seines ernsten Herzleidens, seine Berufsarbeiten wenigstens teilweise bald wieder mit Hilfe des Assistenten verrichten könne. Täglich erfreute er sich an Erichs glückstrahlendem Antlitz, wenn derselbe von seinen mehrtägigen Segelfahrten mit dem alten, erfahrenen Quartermeister heimkehrte, die sie in einer der größten Helgoländer Schaluppen unternahmen, welche sich der alte Bootsmann als Eigentum erworben hatte. Derselbe hielt es für seine Pflicht, Erich, der sein großer Liebling war, in all den Handgriffen und Pflichten seines neuen Berufes eingehend zu unterweisen, und alle waren froh, daß die erhoffte Anstellung auf einem englischen Kriegsschiffe nicht so bald erfolgte, und der angehende junge Seemann die Sommermonate mit allen seinen Lieben auf Helgoland zubringen konnte. Dann aber schlug die Trennungsstunde im Herbst unerwartet schnell, als Erich mit der Familie Hamke von einer Reise nach Hamburg zurückgekehrt war.

Er hatte dort mit dem erfahrenen, alten Freunde seine Seemannsausrüstung gekauft, bis auf die Uniform, die natürlich ein englischer Admiralsschneider nach Vorschrift anfertigen mußte, wenn erst wirklich die Anstellung erfolgt war. Er saß mit seiner Familie gerade beim Abendessen und berichtete in seiner feurigen Weise über die Erlebnisse in Hamburg, schilderte den Eltern die Güte von Mariens alter Base, welche sie sämtlich bei sich beherbergt und besonders das Kind und dessen zweiten Lebensretter, den treuen Hund, sowie den alten Hamke mit Güte und Freundlichkeit überschüttet hatte. Da wurde seine lebhafte Erzählung durch den Eintritt des Gouverneurs unterbrochen, der, von allen als lieber Hausfreund herzlich begrüßt, auf Erich zukam und ihm einen großen Brief mit dem englischen Admiralitätssiegel überreichte. Hastig entfaltete Erich das Schreiben und las den Eltern mit vor innerer Erregung bebenden Lippen die folgenden Worte vor:

»Die hohe Admiralität hat Herrn Erich Walder, Sohn des Arztes auf Helgoland, mit Heutigem zum Volontär I. Klasse und Midshipman auf Ihrer Majestät Kriegsbrigg ›Viktoria‹ ernannt, und haben Sie sich am 1. Oktober d. J. in Sheerneß an Bord zu melden.

Im Auftrag
der Sekretär.«

An Herrn Erich Walder
auf Helgoland.

»Also schon in zehn Tagen,« rief die Mutter und reichte dann wie Erich und dessen Vater dem gütigen Gouverneur mit innigen Danksagungen die Hand. »Gott sei mit dir, mein Liebling!« flüsterte sie leise, als sie den glückstrahlenden, jungen Seekadetten bewegt in ihre Arme schloß.

Und sechs Tage später brachte Vater Hamke seinen Zögling nach der schweren Abschiedsstunde, von den Segenswünschen der Eltern begleitet, nach Hamburg, von wo er sich binnen drei Tagen mit einem kleinen Dampfer nach London einschiffte. Er hatte nicht Zeit, die Riesenstadt, die ihm aus »Peter Simpel« und anderen Seegeschichten seines Lieblingsschriftstellers, Kapitän Marryat, schon so bekannt war, jetzt anzusehen, das mußte er für spätere Zeiten verschieben und fuhr gleich mit dem nächsten Eisenbahnzuge nach Sheerneß.

Zu jenen Zeiten, vor etwa vierzig Jahren, als unser Held seinen neuen Beruf antrat, ging die Bahn noch nicht ganz bis dorthin, er mußte den letzten Teil der Fahrt mit dem Dampfschiff auf der, kurz vor ihrer Mündung in die Nordsee, hier sehr breiten Themse zurücklegen, und als Sheerneß endlich in Sicht kam, betrachtete er durch sein schönes Fernrohr, das ihm der Gouverneur beim Abschiede geschenkt hatte, gespannt die dort vor Anker liegenden Schiffe, um dasjenige herauszufinden, das bestimmt war, ihn als sein schwimmendes »Heim« für lange Jahre in weite Ferne zu tragen.

»Wo liegt das Kriegsschiff ›Viktoria‹?« fragte er einige schmutzige Fischerjungen, die ihn eiligst umringten, um sein Gepäck zu tragen, als er die Landungsbrücke betrat.

»Das wissen wir nicht, aber dort am Strande liegt gleich das Seemannshotel, wohin alle Seeoffiziere gehen, ›Admiral Nelson‹ heißt es!«

So ging er denn zum »Admiral Nelson«, einem anständigen, aber sehr einfachen Gasthause, das den Namen »Hotel« heutzutage nicht verdienen würde. Es lag am Ende einer sehr schmutzigen Straße und war mehr als einfach eingerichtet, in unserer Zeit würden die Seeoffiziere ein solches Haus sicher nicht betreten. Ja die Zeiten haben sich seitdem sehr geändert, selbst der an Bord eines Kriegsschiffes gewiß nicht verwöhnte Seemann verlangt am Lande sein elegantes Hotel mit Teppichen, Sofas, Lese- und Rauchsälen. Damals genügte auch eine gute Empfehlung und Fürsprache neben guter Schulbildung, um ohne Examen gleich als Offiziersaspirant angestellt zu werden, während jetzt erst schwere Vorbereitungsjahre in einer Kadettenanstalt und auf Schulschiffen durchgemacht werden müssen.

»Ein Uniformschneider soll hier in der Nähe wohnen, können Sie mir das Haus zeigen?« fragte Erich den Kellner, der ihm sein kleines Schlafzimmer im »Admiral Nelson« angewiesen hatte.

»Gewiß Herr, ganz in der Nähe, gleich das dritte Haus rechts.«

Der Schneider war sehr höflich und diensteifrig, nahm ihm das Maß und versprach die erste Uniform um neun Uhr am nächsten Morgen, die zweite am Nachmittag zu liefern. Er hielt Wort, und gleich nach dem Frühstück konnte der junge Seekadett die neuen Kleidungsstücke mit den blitzenden, goldenen Ankerknöpfen anlegen, schnallte den kleinen Degen um und verließ das Haus, um vor allem sein Schiff zu sehen. Natürlich fühlte er sich anfänglich recht unbehaglich, denn es kam ihm vor, als ob jedermann seine Uniform betrachte und etwas daran nicht in Ordnung sei, aber sie kleidete seine hübsche, hochgewachsene Gestalt ganz vorzüglich, und niemand beachtete ihn als er in Gedanken versunken an den Strand kam. Gespannt betrachtete er alle dort ankernden Schiffe, bemerkte gar nicht, daß das Boot einer Fregatte gelandet war und ein Offizier mit Federhut und Epauletten dicht an ihn herankam.

»Wissen Sie denn gar nicht, was sich gehört, junger Herr?« hörte er plötzlich eine ernste Stimme fragen, »daß Sie einen Kapitän vorübergehen lassen, ohne zu salutieren? Zu welchem Schiff gehören Sie denn?«

»Verzeihung! Zur ›Viktoria‹, Herr,« sagte Erich und grüßte, vor Schreck errötend.

»Zur ›Viktoria‹? Und wann sind Sie eingetreten, wie heißen Sie?«

»Erich Walder aus Helgoland, aber ich bin noch nicht eingetreten.«

»Nun, da ist's erklärlich«, lachte der Kapitän, »wohlan denn, Herr Walder, da ist's hohe Zeit, daß Sie sofort Seemannsdienst und Seemannssitten kennen lernen; James,« rief er dann dem ältesten Manne der Besatzung seines Bootes zu, »führen Sie diesen jungen Herrn sogleich an Bord und sagen dem ersten Leutnant, daß derselbe den Dienst bei uns antritt.«

Damit wendete er sich zum Gehen, und als Erich – der den Vorwurf verstanden und verdient, nun ehrerbietig gegrüßt und der Offizier ihm gütig zugewinkt hatte – jetzt den Bootsmann fragte, ob das vielleicht der Kommandant der »Viktoria« sei, erwiderte derselbe: »Ja gewiß, junger Herr, und was für ein braver Kommandant ist Kapitän Ellis; wohl dem Schiffe, das von ihm geführt wird, ich segele nun schon seit Jahren mit ihm und verehre ihn wie keinen zweiten zuvor!«

Der alte Seemann hätte offenbar gern noch eine längere Lobrede über die guten Eigenschaften seines Befehlshabers gehalten, aber das erlaubte der Dienst nicht – »niemals im Boote reden« – heißt die Vorschrift für die Untergebenen, und schweigend ging die Fahrt nun vonstatten, während Erich sich vergebens nach der Brigg umsah, als sie sich jetzt einer alten abgetakelten Fregatte mit der Vizeadmiralsflagge näherten.

»Die ›Viktoria‹ liegt noch im Trockendock, Herr,« sagte der Bootsmann, der sein verwundertes Gesicht bemerkt hatte, »und die Besatzung ist einstweilen auf dieser alten Fregatte ›Phoebe‹ einquartiert.«

»Ich bin an Bord gekommen, um mich zum Dienst zu melden, Herr Oberleutnant,« sagte Erich salutierend zum ersten Offizier, als er das Quarterdeck der Fregatte betrat.

»Sehr wohl, gehen Sie hinunter und lassen Sie sich vom Zahlmeister einschreiben; wie heißen Sie?«

»Erich Walder, Herr Oberleutnant!«

»Gut, Sie können auch später eingeschrieben werden, und wollen jetzt schnell jenen Kutter besteigen, um die Arbeiter ans Land zu bringen.«

Erich war entzückt, daß er sofort seine Tätigkeit beginnen sollte, und sprang in das große Boot, hatte aber nichts weiter zu tun, als ruhig neben dem Steuermann zu sitzen, und kehrte, nachdem die Arbeiter gelandet waren, auf die Fregatte zurück, um sich beim Zahlmeister zu melden, der ihm mitteilte, daß die ›Viktoria‹ nachmittags aus dem Dock, und die Besatzung dann gleich an Bord käme.

Erich ging nun wieder auf das obere Deck, wo er Herrn Scharf, den ersten Offizier, traf, der sich mit ihm in ein Gespräch einließ; er war ein sehr gutherziger, tüchtiger Seemann von etwa dreißig Jahren, aber im Dienst war seine Art und Weise ganz zu seinem Namen passend, sehr streng und scharf gegen seine Untergebenen. Als er hörte, daß Erichs Gepäck im Gasthause zurückgeblieben, weil er nur durch zufälliges Zusammentreffen mit Kapitän Ellis so frühmorgens an Bord gekommen war, befahl ihm der Offizier, jetzt gleich ans Land zu fahren, um dasselbe zu holen. – »Kommen Sie dann pünktlich um fünf Uhr auf die ›Viktoria‹!« rief er ihm nach, als Erich sofort die Strickleiter hinunter in ein bereit liegendes Boot stieg, »wir gehen morgen nachmittag schon in See.« – Am Lande angekommen, bezahlte er sofort seine Gasthausrechnung und auch den Schneider, der die zweite Uniform, ebenfalls vollendet, schon in die dazu besorgte Seekiste packte, auf der in großen Buchstaben Erichs und des Schiffes Namen standen.

Um fünf Uhr nachmittags legte er mit dem Boote, das ihn und sein Eigentum trug, bei der schmucken Sechzehnkanonenbrigg ›Viktoria‹ an, und strahlend überflog sein Blick das stolze Fahrzeug mit den vielen Rahen und aufgerollten Segeln, das ihn so bald schon für mehrere Jahre in weite Ferne tragen sollte – wohin? das wußte noch niemand von der Besatzung, das sollten sie erst in Portsmouth erfahren.

Kapitän Ellis ging auf dem Quarterdeck auf und ab, als Erich, mit einem Briefe in der Hand, ehrerbietig salutierend, sich bei ihm meldete.

»Ah, Herr Walder!« rief er freundlich und streckte ihm die Rechte entgegen, »wir haben uns schon gestern kennen gelernt, da bringen Sie mir wohl gar einen Brief aus Helgoland von meinem Jugendfreund, dem Gouverneur, der bei der Admiralität den besonderen Wunsch ausgesprochen hat, daß Sie bei mir Ihre ersten Heldentaten verrichten sollen. Seien Sie mir herzlich willkommen! Ich werde Ihnen ein strenger Vorgesetzter im Dienste sein,« setzte er dann gütig lächelnd hinzu, nachdem er das Schreiben durchflogen, – »aber ein zweiter Vater in den Freistunden, wenn Sie stets brav und tüchtig sind und Vertrauen zu mir haben – und nun lassen Sie sich durch James in die Kadettenkajüte führen, damit Sie Ihre Kameraden kennen lernen.«

Als Erich mit dem Quartermeister eine kleine Treppe dicht vor dem Hauptmast hinuntergegangen war, fand er auf dem Unterdeck ein gar buntes Gewirr, die Mannschaft hatte ihre Abendmahlzeit vollendet, und die Leute waren von ihren Frauen und allerlei Freunden umgeben, welche die Erlaubnis erhalten, zum letzten Lebewohl an Bord zu kommen, denn am folgenden Morgen durfte kein Fremder mehr das Deck betreten. Hier sah man zwei Freunde miteinander reden, dort weinte eine zärtliche Gattin mit ihrem Kleinsten auf dem Arme, das größere Schwesterchen auf des scheidenden Vaters Knien schaukelnd, während die laute Stimme eines Handelsjuden im dichtesten Menschengewühl seine schlechten Waren anpries, die Matrosen mit Tabak für die lange Reise versorgte und hie und da unbrauchbare Uhren verkaufte, die nach wenigen Tagen nicht mehr ticken konnten.

Der Kadett bahnte sich einen Weg durch das Gedränge zum Ende des Decks und trat in die offene Tür einer großen viereckigen Kajüte, welche durch eine Hängelampe hell erleuchtet war, und wo sein Führer ihn mit den Worten »ein neu eingetretener junger Herr« sechs jugendlichen Kadetten vorstellte, welche, um einen großen Tisch gelagert, ihr Abendessen einnahmen.

»Treten Sie näher, fürchten Sie sich nicht!« rief die schrille noch nicht ganz gesetzte Stimme eines blonden Jungen, der wenigstens zwei Jahre jünger und einen Kopf kleiner als Erich war.

Ein schallendes Gelächter erfolgte und ein lautes: »Bravo Milford! Kaum ist der Knirps acht Tage hier bei uns an Bord, und jetzt spielt er sich schon als Protektor auf.«

»Kümmern Sie sich nicht um den schlimmen Burschen,« sagte der Kleine errötend und machte dienstfertig einen Platz neben sich auf der Bank für Erich frei. »Setzen Sie sich hier zu mir, was wollen Sie trinken, Tee oder Grog? Ich nehme stets Grog, denn Sie wissen ja, das ist das richtigste Getränk auf See,« und der kleine Junge setzte ein großes Glas mit der dunkeln Flüssigkeit an die Lippen und machte einen vergeblichen Versuch, so auszusehen, als wenn sie ihm vortrefflich schmeckte.

Erich hatte sich anfänglich über seinen kleinen Beschützer amüsiert, aber jetzt sagte er doch sehr ernst und entschieden, während er sich eine Tasse Tee einschenkte: »Ich berühre niemals Spirituosen, und es wäre Ihnen viel besser, wenn Sie es auch nicht täten.«

»Ja, vielleicht haben Sie recht, Tee ist wohl erfrischender,« erwiderte Milford erleichtert und offenbar sehr froh, daß er nicht länger den lustigen Seemann zu spielen brauchte.

Bald darauf ertönte das Kommando: »Alle Fremden von Bord!« und als das Deck von sämtlichen Besuchern verlassen war, nahm Milford seinen neuen Kameraden mit sich, um ihm das prächtige Schiff zu zeigen.

Die erste Nacht an Bord war nicht gerade sehr erquickend für Erich, das Getrampel über seinem Kopfe, sowie das Anschlagen der großen Glocke beim Ablösen der Wache raubte ihm den Schlaf, und da seine Hängematte dicht an einer offenen Kanonenluke angebracht war, sauste eine starke Brise zu ihm herein, die gewiß sehr erfrischend in den Tropen sein mochte, aber nicht in einer kalten Oktobernacht auf der Nordsee. Aber diese kleinen Unannehmlichkeiten waren bald vergessen, als am andern Nachmittag der Kommandoruf: »Anker gelichtet!« erscholl, und die Mannschaft geschäftig auf dem Deck hin und her lief. Dann wurden die Segel gespannt, der Kompaß gerichtet, und unter einer förmlichen Wolke von großen Segeln ging die »Viktoria« in See und salutierte im Vorbeifahren die Admiralsflagge mit sechzehn Kanonenschüssen. Ein starker Nordost jagte sie schnell in den Kanal hinein, und Erich war glückselig, als er an den Großmast gelehnt, nun so mitten ins herrliche Seeleben eingeführt war, bis jetzt hatte er aber nur den Zuschauer gespielt und sehnte sich sehr, auch tätig zugreifen zu dürfen, was denn auch bald genug geschehen sollte.

»Der erste Offizier beordert all die jungen Herren auf Deck,« sagte ein Bootsmann, seinen Kopf in die Kajüte steckend, wo gerade der Abendtee eingenommen wurde. Schnell liefen sie sämtlich hinauf, und Herr Scharf teilte Erich mit, daß er mit ihm die mittlere Nachtwache zu übernehmen habe und sich deshalb sofort zur Ruhe begeben möge. Der Kadett gehorchte, war aber so aufgeregt und so besorgt, daß er nicht zur rechten Zeit erwachen würde, daß es elf Uhr vorüber war, als er endlich die Augen schließen konnte, und er infolgedessen schrecklich schläfrig war, als sehr bald seine Hängematte stark geschüttelt wurde und eine rauhe Stimme ihm ins Ohr rief: »Acht Glockenschläge, Herr, Mitternacht vorüber!«

Schnell stolperte er, halb im Schlafe, aus seiner Hängematte und war noch nicht mit dem Ankleiden fertig, als ein Quartermeister mit dem Rufe eintrat: »Beeilen Sie sich, der erste Offizier wartet darauf, daß Sie die Wache mustern.« Erich stürzte die Treppe förmlich hinauf, unterwegs die Jacke zuknöpfend, und las dann beim matten Schein des Kompaßlichtes unter strömendem Regen die Namen der Matrosen ab. Wie leid tat ihm seine schöne, neue Uniformsjacke! Von Jugend auf hatte die Mutter ihn daran gewöhnt, seine Kleider zu schonen, und nun hatte er in der Eile nicht einmal den Gummiüberzug anlegen können. Das Wetter war schrecklich, heftige Windstöße warfen ihn ab und zu gegen die eiserne Schutzwand des Deckes, das Hauptsegel war so tief herabgelassen, daß die nassen Zipfel seinen Kopf streiften, und tropfenweise floß das kalte Wasser seinen Nacken hinunter. Aber er durfte seinen Platz nicht verlassen, denn jeden Augenblick mußte er eines Befehles gewärtig sein, jetzt erscholl auch schon das Kommando: »Toppsegel reffen, Herr Walder, steigen Sie schnell in die obersten Rahen.«

Das war selbst für einen gewandten Seemann keine leichte Aufgabe in dieser stockfinsteren Nacht, bei dem stark arbeitenden Schiffe und den heftigen Windstößen, die so leicht einen Mann von der Höhe über Bord schleudern. Da hieß es sich krampfhaft festhalten, aber das geteerte Takelwerk war naß und schlüpfrig, mehr als einmal glitten seine Füße von der Strickleiter, so daß er förmlich in der Luft schwebte, nur noch von den Händen oben gehalten. Aber mit der ihm eigenen Besonnenheit und Geistesgegenwart kletterte er weiter, sah er doch, wie groß die Gefahr, daß der Sturm die flatternde Leinwand da oben in Fetzen riß.

Endlich war das Toppsegel gerefft, und er blieb noch eine Weile oben und betrachtete beim matten Schimmer des ab und zu hinter den schwarzen Wolken hervorbrechenden ersten Viertels des Mondes das wilde, schaurig schöne Schauspiel ringsum, bis der erste Offizier ihn herunterrief und freundlich zur Loge schickte, weil er die Feuerprobe brav bestanden und für die erste Nachtwache genug getan hatte. Bei der starken Brise jagte die Brigg sehr schnell den Kanal hinauf, und am zweiten Tage wurden bei Spithead die Anker ausgeworfen. Wie gern hätte unser Held dort landen mögen, um Portsmouth, den größten englischen Kriegshafen, zu besehen, besonders Peter Simpels Wirtshaus »Die blaue Post«, wie gern hätte er das besucht! Aber Urlaub wurde nicht gewährt, nur der Kapitän ließ sich abends durch einige Matrosen ans Land bringen, und wie froh war Erich, als er am andern Morgen den Befehl erhielt, ihn von den Docks abzuholen, doch auch da durfte er das Boot nicht verlassen, denn Kapitän Ellis erschien schon nach fünf Minuten auf der Landungsbrücke, von mehreren Herren und Dienern mit Gepäck begleitet. Der eine war ein hoher, ehrwürdig aussehender Offizier, und James, der Quartermeister, flüsterte dem Kadetten ins Ohr, das sei der Admiral.

»So leben Sie denn wohl, Ellis,« sagte derselbe, ihm herzlich die Hand schüttelnd, »ich wünsche Ihnen günstige Winde, viel Glück und Vergnügen hinter der hohen Mauer und später reiche Prisengelder.«

»Prisengelder!« Bei diesem magischen Worte nickten die Matrosen einander fröhlich zu, denn die waren jetzt in Friedenszeiten nur an der Westküste von Afrika bei der Verfolgung der Sklavenschiffe zu erhoffen. Nun wußten sie endlich, wohin das Schiff bestimmt war, bis jetzt war das für die Besatzung ein Geheimnis geblieben, und Kapitän Ellis sah sehr zufrieden aus, als das Boot nun abfuhr, aber was war nur mit der hohen Mauer gemeint, von welcher der Admiral sprach, und wer waren die drei von Dienern und vielem Gepäck begleiteten Herren? »Der eine sieht fast wie ein Prediger aus,« dachte sich Erich, und wie gleich darauf der Kapitän ihm freundlich zunickte, als er sich zu ihm auf die Bank setzte, konnte er sich nicht enthalten, zu fragen, ob die »Viktoria« nach Afrika segele. Eigentlich war das nicht recht passend für einen Seekadetten, aber Kapitän Ellis war offenbar in sehr gütiger Stimmung und erwiderte lächelnd: »Ja, mein junger Freund, wir haben eine schöne Aufgabe vor uns, und es wird Ihnen sicher gefallen, daß wir für die Station an der Westküste bestimmt sind, um die elenden Sklavenjäger zu fangen. Sie haben auch Ursache, sich darüber zu freuen, denn in zwölf Monaten lernen Sie dabei mehr als in drei Jahren bei der Mittelmeerflotte, wir müssen aber zuvor einen großen Umweg machen, der uns gut acht Monate Zeit kostet, und jene Herren nach China bringen. Mr. Maxwell war schon früher längere Zeit dort als englischer Konsul in Canton, aber die Söhne des himmlischen Reiches, wie die Chinesen sich gern nennen, hatten sich ja wieder einmal gegen das Eindringen der Europäer empört, und Canton mußte von unserer Flotte bombardiert werden, bis sie, zahm gemacht, beim Friedensschlusse einige wenige ihrer Häfen für unsere Schiffe freigaben. Nun wird es hoffentlich bald besser dort für unsere Handelsbeziehungen, und der Konsul geht mit seinen Sekretären zurück. Jener Herr im schwarzen Anzuge gehört zu der englischen Missionsgesellschaft, welche sich mit schwachen Erfolgen bemüht, die Chinesen zum Christentum zu bekehren, er war auch schon mehrere Jahre in Canton tätig, aber als die Feindseligkeiten gegen die Engländer dort zu arg wurden, kam er nach England, wo er bis jetzt als Prediger wirkte, und will nun aufs neue versuchen, in China Missionsstationen anzulegen.«

Erich hatte mit so leuchtenden, glückstrahlenden Blicken diesen Mitteilungen zugehört und dankte dem gütigen Kapitän so herzlich dafür, daß dieser ihn wohlgefällig betrachtete und ihm versprach, den Prediger zu bitten, ihn über das chinesische Volk, das sich von den Europäern so hartnäckig abschließt, ein wenig zu unterrichten. »Ich habe meinem Freunde, dem Gouverneur, Ihrem warmen Beschützer, gestern abend geschrieben, wohin wir segeln, damit Ihre Eltern Sie in Gedanken auf unserer interessanten Reise begleiten können,« schloß der freundliche Kapitän seinen Bericht, als die »Viktoria« jetzt nahe war, »und wenn Sie, wie ich vermute, recht lange Briefe für dieselben schreiben, so übergeben Sie diese stets dem Zahlmeister, der sie auf unserer nächsten Anlegestation durch die Admiralität befördert, welche uns auch alle für uns bestimmten Nachrichten aus der Heimat in die Seehäfen schickt, die wir berühren werden.«

Die Benennung » Briefe« verdienten die ausführlichen Berichte, welche Erich in Madeira, wo frisches Wasser eingenommen wurde, ablieferte, eigentlich nicht mehr, es war schon mehr eine Art Tagebuch, das er dem Zahlmeister zur Beförderung übergab, in dem er den Eltern alle seine bisherigen Erlebnisse und die Personen genau schilderte, mit denen er am meisten zu tun hatte. Er bat sie, die Blätter, nachdem alle seine Freunde auf Helgoland dieselben gelesen, auch nach Goslar an seinen unvergeßlichen Lehrer zu senden, dem Gouverneur aber schrieb er einen besonderen Dankesbrief für die große Güte, seine Anstellung auf der »Viktoria« bewirkt und ihn dem freundlichen Kapitän Ellis empfohlen zu haben. Dadurch war aber auch sein Leben doppelt interessant und befriedigend geworden, denn derselbe beschäftigte sich häufig und gern mit dem jungen, braven Helgoländer, dessen fließende englische Sprache gar nicht den Deutschen verriet, wohl aber sein treuherziges, offenes, biederes Wesen, das ihn bald zum Liebling aller Offiziere und Kameraden gemacht hatte. Auch die Vorgesetzten verkehrten, trotz aller Strenge im Dienst, in den Freistunden gern mit dem geistig hervorragenden, jungen Kadetten und erstaunten über seine bedeutenden Schulkenntnisse.

Einen sehr interessanten Beschützer erwarb er sich nach und nach in dem Missionar, mit dem Kapitän Ellis ihn gleich zu Anfang der Reise bekannt gemacht hatte. Als der alte Herr eines Morgens zu sehr früher Stunde auf dem Deck spazieren ging, fiel ihm auf, daß der junge Helgoländer, mit ernstem Ausdruck in dem hübschen, von der Seeluft gebräunten Antlitz, auf einer niederen Bank am Vorderbug des Schiffes saß und offenbar ganz vertieft in das Lesen eines kleinen Buches schien. Unbemerkt trat er näher und sagte, ihn freundlich begrüßend: »Darf ich einmal sehen, was Sie da so sehr fesselt, mein junger Freund?«

Erich sprang ehrerbietig auf und überreichte ihm das aufgeschlagene Kapitel der Bergpredigt in einer kleinen Taschenbibel, auf deren erstem Blatte seiner teueren Mutter Hand die Worte geschrieben hatte:

»Wer stets nur seine Zuversicht
Auf Gott setzt, den verläßt er nicht.«

»Vergiß das nie, mein geliebter Erich, bleib immer Deinem Gott getreu, das ist der heißeste Wunsch

Deiner Mutter.«

»Sie haben offenbar eine brave, fromme Mutter, mein lieber Sohn,« sagte der Missionar ernst, »beherzigen Sie ihre Mahnung und diesen schönen Spruch, dann wird es Ihnen stets gut gehen auf der stürmischen Reise des Lebens, und auch die unausbleiblichen Prüfungen, die keinem Menschen erspart bleiben, werden Ihnen zum Segen gereichen.«

Seit jenem Morgen verkehrte der ehrwürdige Herr viel mit dem wißbegierigen Deutschen, dem es weit interessanter war, dessen Schilderungen der Menschen und Verhältnisse im ungeheuren chinesischen Reiche zuzuhören, als stets an dem leeren Geschwätze in der Kadettenkajüte teilzunehmen. Zu jener Zeit, vor etwa vierzig Jahren, wußte man ja noch weit weniger als jetzt von diesem merkwürdigen, arbeitsamen Volke, das, aus lauter Furcht vor Änderungen ihrer aus uralter Zeit stammenden Sitten und Gebräuche, einen Teil des Landes durch eine gewaltige Mauer von der Außenwelt abgeschlossen hat. Dieselbe erstreckt sich über Berge und Täler über fünfzehnhundert Meilen, und der Bau wurde schon vor Christi Geburt begonnen und unter allen Kaisern fortgesetzt, an manchen Stellen ist sie sechsundzwanzig bis dreißig Meter hoch und dreieinhalb Meter breit, so daß Wagen und Pferde bequem darauf Platz haben. Sie ruht auf Granitplatten, besteht aus Erde und Backsteinen und ist alle zwei- bis dreihundert Schritt von Türmen und Schießscharten unterbrochen. Die Zahl der Einwohner des weiten Reiches, das viel größer als ganz Europa ist und etwa 250 000 Quadratmeilen umfaßt, soll sich auf 472 Millionen belaufen. Sie sind kein kriegerisches Volk, aber ränkesüchtig, schlau, feige und betrügerisch, dabei sehr geschickt, besonders in Verfertigung von Seide, Porzellan und Schnitzwaren aus Elfenbein. Sie sind auch geborene Handelsleute und der Handelsverkehr im Innern des Landes ist sehr rege, aber verhältnismäßig noch immer gering mit dem Auslande. Erst zu Anfang des 17. Jahrhunderts gelang es den Engländern nach vielen Anstrengungen, die Erlaubnis zum Einlaufen ihrer Schiffe in Canton zu erlangen, aber zu Anfang des 19. Jahrhunderts brachen deshalb viele Streitigkeiten aus, die zum Kriege und der Beschießung Cantons durch die Engländer führten. Ein 1842 abgeschlossener Vertrag öffnete den Europäern noch einige andere chinesische Häfen und den christlichen Missionaren beschränkten Zutritt in einigen Teilen des Landes, das Volk war aber so erbittert darüber, daß es wiederholt deshalb zur Empörung gegen ihren Kaiser kam, der sonst so sklavisch und abgöttisch verehrt wird, daß jeder Untertan, der ihm nahe kommt, niederknien und den Kopf bis zum Boden vor ihm beugen muß. Derselbe – Himmelssohn genannt – wird stets von seinem Vorgänger gewählt und hat viele Frauen, aber nur eine führt den Titel Kaiserin; er hat das Recht über Leben und Tod und kann jeden Chinesen, selbst von höchstem Range, ohne vorherige Untersuchung der Richter, zum Tode verurteilen.

Die verhängten Strafen für Uebeltäter sind zum Teil schrecklich grausam, bei kleinen Vergehen wird die Prügelstrafe angewendet, dann der »Halskragen«, eine barbarische Tortur, bei der dem Verurteilten ein schweres, viereckiges Stück Holz, das etwa fünf Fuß groß ist, umgelegt wird, welches ihm das Niederlegen unmöglich macht, auch kann er natürlich nicht selbst essen und müßte verhungern, wenn er nicht gefüttert würde. Auch die Todesstrafe wird auf die schrecklichste Weise vollzogen, denn da der Chinese das Enthaupten fürchtet, weil er glaubt, dann in einer anderen Welt ohne Kopf erscheinen zu müssen – werden die Verbrecher häufig zwischen zwei Holzbretter gelegt und damit in Stücke gesägt.

Aber es ist kein Wunder, daß solche barbarische Gebräuche herrschen, da ja nur ein geringer Teil des Volkes die Segnungen der christlichen Religion, der Liebe und Barmherzigkeit, kennt. – Die Reichsreligion ist der Buddhismus, die hauptsächlich aus äußerlichen Formen besteht und aus dem indischen Brahmakultus hervorgegangen ist. Der Stifter Buddha lebte sechshundert Jahre vor Christus und war ein Königssohn, der dem Glanze des Thrones entsagte und sieben Jahre als Einsiedler lebte, bevor er später vierzig Jahre lang als Lehrer mit seinen Schülern tätig war. Seine sterblichen Ueberreste wurden in vierundachtzigtausend kleinen Teilen als Reliquien in kostbaren Schreinen aufbewahrt und unter dem Namen Pagoden verehrt. In China, Hinterindien, Japan, Ceylon und der Mongolei bekennen sich zwei Drittel der Bewohner zum Buddhismus, der dreihundertdreiundvierzig Millionen Bekenner hat.

All diese interessanten Mitteilungen machte der Missionar seinem aufmerksamen Zuhörer nach und nach auf der weiten Reise, und Erich war höchst erfreut, als der fromme Herr sowie auch der gütige Kapitän ihn und seine Kameraden später in Canton häufig mit ans Land nahmen, um das chinesische Volk aus eigener Anschauung näher kennen zu lernen.

Der erste Empfang, der den Engländern zuteil wurde, war nicht sehr ermutigend für sie, denn als die »Viktoria« nach viermonatlicher Reise in der Nähe einer kleinen Insel an der chinesischen Küste vor Anker ging, widersetzten sich die Bewohner hartnäckig dem Landen der Fremden und behaupteten, das dürfe nur auf besondere Erlaubnis der Regierung geschehen. Die Kinder warfen sogar mit Steinen nach dem Boote der »Viktoria«, aber am nächsten Morgen ruderte der Häuptling des Distrikts mit großem Gefolge in mehreren Fahrzeugen nach dem englischen Kriegsschiffe. Er war ein ehrwürdig und vornehm aussehender Greis, in ein weites, hellblaues Seidengewand mit flatternden Ärmeln gekleidet, auf dem Kopfe trug er einen ungeheuren Hut mit wenigstens fünf Fuß breitem Rande, der aus lackiertem Roßhaar geflochten war. Einer seiner Diener hatte sich wahrscheinlich unterwegs etwas zuschulden kommen lassen und erhielt sofort seine Bestrafung, indem er sich auf dem Deck des Bootes niederlegen mußte und ein Dutzend Hiebe mit einem starken Bambusrohr erhielt. Als er bei dieser Exekution ein schreckliches Geheul erhob, stimmten alle seine Gefährten mit ein, und die Seeleute wußten nicht, ob das aus Mitleid geschah oder um sein Geschrei zu übertönen.

Als die Bestrafung vollzogen war, begann ein neuer grausiger Lärm, Trompeten und andere mißtönige Instrumente verkündeten dem fremden Kriegsschiffe die Annäherung des hohen chinesischen Herrn, der mit großer Höflichkeit von Kapitän Ellis und seinen Offizieren empfangen und in die Kajüte geführt wurde, und mittelst eines Dolmetschers, der aber nur wenige Worte Englisch sprechen konnte, die Mitteilung machte, daß das Landen fremder Schiffe nur in Canton und zwei anderen Häfen des Reiches gestattet sei. So segelte denn die »Viktoria« am Nachmittag weiter, und als sie zwei Tage später in den Si-Kiang eingelaufen waren, fanden sie den Fluß nicht weit von Canton förmlich verbarrikadiert durch eine ganze Reihe seltsam geformter Schiffe, die quer darüberlagen, und der Mandarin, der dieselben kommandierte, sandte einen Boten nebst Dolmetscher an Bord, um den Engländern zu sagen, daß er ihnen das Weiterfahren verbiete.

Kapitän Ellis ließ den Überbringer dieser impertinenten Botschaft sofort ins Schiffsgefängnis abführen und dem Absender durch den Dolmetscher antworten, daß die Engländer seit dem Friedensschlusse das Recht hätten, in Canton einzulaufen, und daß er sich mit seinen sechzehn Kanonen die Einfahrt erzwingen würde. Er fügte hinzu, daß er die sämtlichen chinesischen Böte, die den Fluß sperrten, in Brand schießen und den Gefangenen an dem Mastbaum aufhängen ließe, sobald sie nicht binnen einer Stunde Platz machten.

Das half, die Schiffe entfernten sich, und unbehelligt konnte die »Viktoria« einige Stunden später in den Hafen von Canton einlaufen.

Die dortigen Regierungsbeamten kamen sowohl dem Kapitän wie dem Konsul und dem Missionar in jeder Beziehung höflich entgegen, und es war für Erich Walder und seine Gefährten ein unendliches Vergnügen, mitunter in Begleitung eines der Herren das Leben und Treiben des seltsamen Volkes kennen zu lernen. Am meisten amüsierten sich die jungen Seekadetten über die Unzahl von Friseuren, die in den Straßen umherliefen, und alles, was zu ihrem Handwerk nötig, auf Bambusrohren befestigt, über die Schultern gehängt trugen. Die chinesischen Männer haben bekanntlich einen langen Zopf – der ganze Vorderkopf wird alle zehn Tage völlig kahl geschoren, nur hinten auf einem Fleck muß das Haar so lang wie möglich wachsen, und da kein Mann den eigenen Zopf, der sein ganzer Stolz ist, richtig bearbeiten kann, und häufig falsches Haar zu Hilfe genommen werden muß, um ihn zu vergrößern, müssen stets so viele Friseure und Barbiere zur Hand sein, denn einen Schnurrbart darf kein Mann vor dem vierzigsten Jahre tragen, einen Backenbart nicht vor dem sechzigsten.

Noch zwei andere Dinge sind von einem Chinesen unzertrennlich, und zwar der Fächer und die Laterne; der Fächer muß ihm Kühlung verschaffen und als Sonnenschirm nützen, der Schulmeister prügelt auch gelegentlich die unartigen Kinder damit, und den dickleibigen Bürger sieht man oft auf der Straße seine Kleider aufheben, um sich Kühlung zuzufächeln. Ja selbst die Soldaten gebrauchen beim Exerzieren oder bei der Bedienung ihrer Geschütze ab und zu ihre Fächer.

Eine ebenso wichtige Rolle spielt die Laterne, in allen möglichen absonderlichen Formen, meistens als durchsichtige Tierköpfe, mit denen bei sogenannten Laternenfesten alle Häuser geschmückt werden, während alle Leute in den Straßen ebenfalls welche tragen, und einen ungeheuren, aus lauter großen Laternen zusammengesetzten Drachen umherführen. Ein solches Fest fand auch bei der Anwesenheit der »Viktoria« in Canton statt und machte besonders den jungen Seekadetten unendliches Vergnügen. Der Missionar und der zweite Offizier begleiteten sie dabei, da Kapitän Ellis nicht erlaubte, daß sie allein in die Stadt gingen, aus Furcht, daß ihnen von dem feindselig gesinnten Volke Unannehmlichkeiten bereitet werden könnten.

Der würdige Geistliche war sehr bekannt in Canton und machte die jungen Kadetten auf alles aufmerksam, auch auf die Kleidung der Leute, er erzählte ihnen, daß große Schweigsamkeit und tiefer Ernst als Zeichen vornehmer Bildung gelten, und daß alle Sitten heutzutage noch gerade so sind und bleiben müssen wie vor Jahrtausenden, ebenso geht es mit der Kleidung. Die Vornehmen tragen helle, buntfarbige und sehr weite Gewänder, die reich mit goldgestickten Drachen oder anderen Tierköpfen geschmückt sind, aber den Gebrauch von Taschentüchern, Leib- oder Bett- und Tischwäsche kennen sie nicht. Am Gürtel sind zwei Bambusstäbchen befestigt, welche Messer und Gabel ersetzen, dann Fächer, gestickte Tabaksbeutel, eine Uhr und eine Dose mit Stahl und Feuerstein. Bei feierlichen Gelegenheiten kommt noch eine bis zum Gürtel herabhängende Kette aus einhundertundacht ovalen Steinen hinzu, und auf dem Kopfe tragen sie ein kegelförmiges Bambusgeflecht mit einer Quaste aus roter Seide und einem Knopfe auf der Spitze, der den Rang des Besitzers anzeigt.

Die unverheirateten Frauen müssen ihre Haare in zwei herabhängenden Zöpfen vereinigen, die verheirateten oben auf dem Kopfe, und zwar mit Gold, Silber, Blumen und Perlen verziert; haben die letzteren Söhne, so werden sie hoch geachtet, sonst nicht, denn auf Mädchen legen die Chinesen keinen Wert, und dieselben werden deshalb sehr häufig, gleich nach der Geburt, getötet oder ausgesetzt. Männer und Frauen der reichen und vornehmen Stände lassen ihre Fingernägel sehr lang wachsen, zum Zeichen, daß sie nicht zu arbeiten brauchen, und den vornehmen Frauen werden die Füße durch gewaltsames Herunterbiegen der Zehen und durch viel zu kleine Schuhe von klein auf förmlich verstümmelt. Sie bekommen nach und nach die Form von Hufen, und die armen Wesen können nur sehr unbeholfen und unsicher damit gehen, werden deshalb meistens in Sänften getragen. Aber das ist nur bei reichen Leuten gebräuchlich, denn das gewöhnliche Volk muß angestrengt arbeiten, und zwar das ganze Jahr, das ganze Leben hindurch, denn Sonn- und Feiertage kennt man in China nicht. Ihre Nahrung besteht hauptsächlich aus Reis und Tee, aber sie essen auch Fleisch, wenn sie es haben, und zwar von allem möglichen Getier; Ratten, Katzen und Hunde, ja selbst Spinnen und alles dem Europäer widerliche Gewürm sind Leckerbissen für sie.

Es tat den jungen Seekadetten unendlich leid, daß die »Viktoria« schon nach drei Wochen das ihnen so interessante Land verlassen mußte, aber sie trösteten sich mit der Aussicht auf die Jagd nach Sklavenschiffen und sollten auch unterwegs noch verschiedene ihnen merkwürdige Inseln und deren Bewohner kennen lernen. Ein Segelschiff gebraucht ja viel längere Zeit zu einer Reise wie ein Dampfer, und so mußte Kapitän Ellis etwa alle sechs Wochen einen größeren Hafen aufsuchen, um frisches Trinkwasser und Proviant für seine Besatzung einzunehmen. Erich hatte eines Tages in Canton die Beobachtung gemacht, als der Missionar ihn und Milford in einen Barbierladen führte, wo der Besitzer den Zopf eines Kunden bearbeitete, daß derselbe immer mit dem Kopf schüttelte, wenn ihm ein Befehl erteilt wurde, und der Prediger erklärte ihm auf sein Befragen, daß die Chinesen, entgegengesetzt von den Europäern, statt zu nicken, den Kopf schütteln, wenn sie eine Frage bejahen. Er hatte ihnen dabei auch erzählt, daß in Neuseeland, wo er in früheren Jahren eine Missionsstation gründete, die seltsame Sitte herrsche, daß die Menschen, die sich freundlich begrüßen wollen, statt sich wie wir die Hände zu schütteln oder zu küssen, die Nasen aneinanderreiben. Einst hatte er einem Feste beigewohnt und mit angesehen, wie die eintretenden Gäste sich alle, der Reihe nach, eine ganze Weile mit den Nasen berührt und sie hin und her gerieben hatten, ehe sie sich zum Festmahle niedersetzten.

Diese Erzählung rief unbändige Heiterkeit in der Kajüte der Seekadetten hervor; mehrere Tage machten sie sich das Vergnügen, zur Begrüßung vor dem Abendessen das »Nasenreiben« zu probieren, und Milford kannte keinen größeren Wunsch, als daß die »Viktoria« in einen Hafen Neuseelands einlaufen möchte, um Proviant einzunehmen. Aber Erich führte ihn nach dieser Äußerung hinauf ins Navigationszimmer und zeigte ihm auf der Karte, wie weitab jenes Land von ihrem Kurse nach Afrika läge, und gab ihm den Rat, vor allem seine geographischen Kenntnisse zu verbessern, wenn er einmal ein tüchtiger Seemann werden wolle. Der Kleine hatte einen großen Respekt, eine enthusiastische Liebe und Bewunderung für seinen deutschen Kameraden gefaßt, folgte ihm in allen Dingen, und Erich nahm sich dafür stets energisch seiner an, wenn die anderen übermütigen Jünglinge den kaum fünfzehnjährigen Milford oft arg neckten und ärgerten. Die Offiziere hatten dies Verhältnis auch bald bemerkt, und da sie Erich sehr schätzten und erkannten, daß sein Schützling viel von ihm lernen konnte, richteten sie es stets so ein, daß die beiden gleichzeitig die Wache bezogen, oder miteinander ans Land gehen durften.

Der nächste Hafen, den die »Viktoria« anlief, war Kalkutta, wohin die Admiralität Briefe und Zeitungen für die Besatzung gesandt hatte, und großer Jubel herrschte in der Kadettenkajüte, als die Post hereingebracht wurde. Erich bekam ein dickes Paket ausführlicher Schreiben von allen seinen Lieben und war glückselig über die günstigen Berichte von seines Vaters Gesundheit, er schrieb ihm selbst, daß er sich freilich sehr schonen müsse und nur seine Patienten im Oberlande besuchen könne, da ihm das Ersteigen der hohen Treppe nicht erlaubt sei wegen seines Herzleidens. Auch die Mutter teilte ihm voll dankbarer Freude mit, daß die Stimmung des Vaters wieder hoffnungsvoller sei und alles geschehe, um ihn bei Kräften zu erhalten und vor Sorgen und Aufregungen zu hüten.

Eine große, bange Sorge war durch diese Briefe auch von Erich genommen; der für seine Jahre oft recht ernste, sinnende Ausdruck seines hübschen, offenen Antlitzes, der dem Kapitän mitunter aufgefallen war, verlor sich mehr und mehr, und häufiger als sonst nahm er jetzt an den heiteren Unterhaltungen seiner Kameraden teil. Es war nun bald ein Jahr seit er Helgoland verlassen, als die »Viktoria«, nachdem sie sich in Madagaskar und Kapstadt einige Wochen aufgehalten, endlich ihre Bestimmungsstation für die nächsten Jahre, die Westküste von Afrika erreichte. Die noch neue festgebaute Brigg hatte glücklich verschiedene sehr schlimme Kämpfe mit Sturm und Wogen überstanden, und Offiziere und Matrosen freuten sich sehr, daß nun die lustige Treibjagd auf die schändlichen Sklavenhändler angehen sollte, die ihnen in den nächsten Jahren außerdem reiche Prisengelder eintrug.

Alle von ihnen gefangenen Sklavenschiffe wurden nach St. Helena gebracht, durch die Admiralität verkauft und die dafür eingenommenen Gelder nebst einer Belohnung unter die Besatzung verteilt, so daß jeder nach seinem Range einen größeren oder kleineren Anteil erhielt. Wie empört war Erich jedesmal, wenn er mit dem ersten Offizier solch ein von ihnen ergriffenes Schiff betrat, und die armen, halb verhungerten Opfer menschlicher Grausamkeit und Gewinnsucht, an Ketten geschmiedet, in dem dunkeln Schiffsräume Kopf an Kopf auf vermoderter Streu liegend, befreien half. Wiederholt hatte er in den letzten Jahren mit einem seiner Vorgesetzten ein solches Prisenschiff nach St. Helena gebracht, wo die von ihnen gefesselten schändlichen portugiesischen oder brasilianischen Seelenverkäufer ihre verdiente Bestrafung erhielten, und vorher Hunderte der befreiten Gefangenen in Sierra Leone, an der Küste des Negerfreistaates Liberia, ans Land gesetzt. Unterwegs nahm er sich aufs liebevollste dieser unglücklichen Menschen an, und einer von ihnen, ein Häuptlingssohn, der etwas Englisch sprach, schilderte ihm, wie sein Dorf in einer Nacht von den grausamen arabischen Sklavenhändlern, welche seit Jahrhunderten auf diese Weise Afrika entvölkern, überfallen worden sei. Im Schlafe wurden die Greise und kleinen Kinder von der bewaffneten Bande ermordet und alle arbeitsfähigen Männer und Weiber aneinandergekettet, mit Peitschenhieben Hunderte von Meilen durch Wüsten und Urwälder, mit elender, weniger Nahrung, an die Küste getrieben, wo sie dann in den im dichtesten Gebüsch an den zu Lagune führenden Creeks oder Kanälen liegenden Sklavenfaktoreien an die brasilianischen und portugiesischen schändlichen Schiffsführer verkauft und nach Südamerika, besonders Brasilien, gebracht wurden.

»Wie ist es möglich,« schrieb Erich an seinen geliebten Lehrer nach Goslar, als er solche Greuel zuerst mit eigenen Augen erblickt, »daß im neunzehnten Jahrhundert solch ein Menschenschacher geduldet wird? Meine Achtung vor den Engländern ist bedeutend gestiegen, nun sehe ich, wie sie alles aufbieten, um ihn zu unterdrücken, und zahllose Kriegsschiffe mit großen Kosten deshalb an der Sklavenküste kreuzen lassen, aber warum werden sie nicht kräftiger von allen europäischen Nationen dabei unterstützt? O, warum haben wir kein mächtiges deutsches Reich mit vielen Schiffen, um diesen Schandfleck unseres Jahrhunderts zu vertilgen? Ich habe immer gehört, daß die deutsche Nation zu arm ist, und selbst die tüchtigsten Menschen nicht genug Arbeit finden, daß die Fabriken, Handel und Industrie in Deutschland daniederliegen, weil nicht genug Absatz und Verbindung mit fernen Weltteilen vorhanden ist. Aber warum haben wir denn nicht auch Kolonien wie die Engländer, die dadurch ihren Reichtum erwarben, ebenso wie das kleine Holland? Ich weiß, was Sie mir antworten werden, lieber, hochverdienter Herr Direktor, weil Deutschland zu schwach ist durch seine Uneinigkeit und Zerfallenheit, o! wann wird die Stunde schlagen, wo wiederum ein mächtiges, deutsches Kaiserreich ersteht – wie Sie es stets erhoffen und prophezeien. Wie sehr interessiere ich mich für diesen Herrn von Bismarck, den Sie mir als einen so hervorragenden Ratgeber des Königs von Preußen in Ihrem letzten lieben Briefe schilderten – bitte, schicken Sie mir bald mehr Nachrichten über ihn und interessante Zeitungen. Wie glücklich wäre ich, wenn Sie recht hätten, und dieser starke Ratgeber des hochherzigen Königs Wilhelm in nicht ferner Zeit Deutschland stark und mächtig machen würde. Wenn jene deutschen Männer einmal wie ich das Elend der unglücklichen Bewohner Afrikas sehen könnten, wie würde es sie erbarmen und sie alles aufbieten, helfend einzugreifen – freilich erst gibt es ja so viel für sie im armen, zerstückelten deutschen Vaterlande zu tun!«

Durch sein braves, von Mitleid beseeltes deutsches Herz begeistert, zeichnete sich Erich in den nächsten drei Jahren durch Mut, Pünktlichkeit und Entschlossenheit bei den Verfolgungen der Sklavenschiffe so sehr aus, daß er ein großer Liebling des Kommandanten und aller Offiziere wurde. Lange schon trug er den weißen Strich auf den Ärmeln seiner Uniform, der ihn als obersten Seekadetten bezeichnete, und seine Kameraden prophezeiten ihm mit der nächsten Post aus London das Leutnantspatent. Seine bedeutenden Ersparnisse hatte er wiederholt durch die Admiralität nach Helgoland senden lassen und die Mutter dringend gebeten, das Geld stets zur Pflege des Vaters zu verwenden, damit er sich so wenig als möglich in seinem ärztlichen Beruf anstrenge. Aber sie schrieb ihm jedesmal, daß zu ihrer Freude noch kein Pfennig davon ausgegeben werden müsse, da die Einnahme zur Badezeit, wo so viele Kurgäste im Oberlande vom Vater behandelt würden, für das ganze Jahr ausreiche, und Erichs Ersparnisse sicher für ihn in der Sparkasse angelegt würden. Das war ihm aber gar nicht recht, er hätte so gern seinem kränklichen Vater eine Erleichterung verschaffen mögen und sandte von da an größere Summen an seinen Lehrer nach Goslar, mit der Bitte, den Eltern guten deutschen Wein und hübsche, nützliche Geschenke für die Haushaltung und die nun bald vierzehnjährige Schwester Helga zu besorgen und zur Weihnachts- und Geburtstagsfeier nach Helgoland zu senden.

Im Herbst 1864 ging die »Viktoria« in der Bucht von Benin, nicht weit von Quittah, vor Anker, um frisches Wasser und Südfrüchte einzunehmen, denn der gütige Kapitän Ellis verschaffte seinen Leuten oft und gern in diesem heißen Klima solche Erfrischungen. Sehnsüchtig betrachtete Milford die Küste mit der brausenden Brandung und die prächtigen Fächerpalmen, unter deren Schatten die dänische Flagge über einer kleinen Festung wehte, welche malerisch von den zahlreichen Hütten der Eingeborenen umgeben war. »Wie kommt denn nur die dänische Flagge in diese Wildnis?« fragte er, seinem Freunde das Fernrohr zurückgebend, und Erich, der viel über die Westküste gelesen hatte und durch Kapitän Ellis über alle europäischen Niederlassungen gut unterrichtet war, erzählte ihm, daß die kleine, unternehmende dänische Nation in früheren Zeiten viele Handelsstationen an der Westküste von Afrika gründete, von denen Quittah allein noch übrig geblieben sei.

»Jedenfalls eine sehr ärmliche,« bemerkte Milford, »wenn jenes wunderliche Individuum dort in dem näher kommenden Boote der höchste Repräsentant der Stadt ist, der das englische Kriegsschiff, wie es scheint, bewillkommnen will; als zweiter Midshipman der Wache muß ich mir wohl jetzt die Ehre geben, ihn zu empfangen.«

Es war wirklich eine sehr wunderliche Erscheinung – dieser afrikanische Häuptling, der jetzt die herabgelassene Strickleiter erklommen hatte, ein Neger in einem alten, schäbigen, scharlachroten, englischen Uniformsrock, mit einem Tuch um die Hüfte geschlungen aber ohne Beinkleider und Schuhe. Er sprach einzelne englische mit spanischen untermischte Worte, und das einzige, das er richtig betonte und wiederholt hervorstieß, war »Rum!«

Er sagte das erst mit ruhig ernster Miene und blickte dabei gen Himmel, als wenn er erwartete, daß eine Flasche mit Gläsern aus den Wolken herabfallen müsse, als aber nichts dergleichen erschien, wiederholte er, sehr ungeduldig, befehlend: »Rum!« und blickte dieses Mal die laut lachenden Kadetten dabei an. Als dann wieder kein Steward mit dem ersehnten Nektar die Kajütentreppe heraufstieg, stieß er nochmals brüllend das Wort »Rum!« hervor, so daß es wie das kurze Bellen eines Hundes klang. – Alles vergebens! Der hinzugetretene Kapitän schüttelte ernst verneinend den Kopf, und die naseweisen Kadetten lachten noch lauter. Da drehte ihnen der beleidigte Häuptling den Rücken zu und wollte, trotzig, nun auch keine Handelsgeschäfte mit den Engländern unternehmen, obgleich seine Leute das unten wartende Boot mit Südfrüchten, Geflügel und Eiern ganz bepackt hatten. Aber unterdessen waren viele andere »Kanoes«, wie die afrikanischen Boote genannt werden, reich mit allen diesen Artikeln beladen, herangerudert, die nicht gegen Geld, sondern gegen bunte Kattuntücher, blanke Metallknöpfe und dergleichen wertlose Dinge eingetauscht wurden. Rum und Branntwein ist aber das Höchste für die Neger, sie geben für eine Flasche Feuerwasser ihr Bestes her, und die Europäer, welche dasselbe bei den unwissenden, wilden Völkern einführen, laden eine große Verantwortung auf sich, da sie ihnen dadurch Veranlassung zu dem schrecklichsten aller Laster, der Trunksucht, geben.

Zwei Stunden später wurden Erich und Milford, zu ihrer großen Freude, beordert, den Kapitän ans Land zu begleiten, und als sie sich in der Kajüte die bessere Uniform anlegten, prophezeite ihnen Sefton, ein durch seine schwarzsehende, stets Schlimmes befürchtende Stimmung oft von ihnen geneckter Kamerad, daß sie sich in der verrufenen Lagune von Quittah entweder den Tod oder das Fieber holen würden.

Der Kutter wurde herabgelassen und brachte den Kapitän bald mit seinem Gefolge bis nahe zum Strande, aber das Wasser war dort so flach, daß die Landung nur mittelst eines Kanoes der Eingeborenen möglich war, das von Dutzenden großer, gefräßiger Haifische verfolgt wurde, und Milford konnte einen leichten Schauder nicht unterdrücken, als er sah, wie nur die dünnen Planken des leichten Fahrzeuges sie alle vor einem schrecklichen Tode schützten. Die Neger schlugen beständig mit den Rudern nach den Ungetümen, und der jüngste Kadett atmete erleichtert auf, als sie endlich den Fuß ans Land setzten, und von einem Schwarm neugieriger Afrikaner gefolgt, durch die brennende Sonnenglut schreitend, das Tor der kleinen, verfallenen Festung erreichten. Eigentlich verdiente dieselbe nicht mehr den Namen einer solchen, das gestand der kränklich aussehende dänische Kommandant dem englischen Kapitän selbst zu, als er ihm seine wenigen schwarzen Soldaten und seine verrosteten Kanonen zeigte und den Herren erzählte, daß er der einzige weiße Mann in der Umgegend sei.

»Quittah war einst eine blühende Stadt,« fügte er hinzu, »aber seit die dänische Regierung natürlich die Engländer bei der Unterdrückung des schändlichen Sklavenhandels soviel als möglich unterstützt, verfällt sie gerade wie meine Festung mehr und mehr,« – dabei zeigte er auf die zerbröckelten Wälle ringsum.

»Und wie weit reicht Ihr Gebiet, Herr Kommandant?« fragte der Kapitän.

»Gerade so weit wie meine Kanonen reichen, oder, wie die Eingeborenen sich einbilden, reichen könnten, denn sie glauben, daß jene uralten, ziemlich unbrauchbaren Zweiunddreißigpfünder ihre Kugeln in unabsehbare Ferne schicken können, und ich lasse sie natürlich bei dem Glauben.«

Auf Milfords ihm zugeflüsterte Bitte fragte Erich jetzt den Kapitän, ob er mit dem Kameraden für einige Stunden die Umgegend besuchen dürfe, und sie erhielten die Erlaubnis, mit der Ermahnung, sehr vorsichtig zu sein und stets in der Schußweite der Festung zu bleiben. Nach wenigen Minuten waren die beiden jungen Leute in der Stadt, die sie aber völlig still und menschenleer fanden, die Bewohner hielten offenbar während der heißesten Stunden ihre Mittagsruhe, und die einzigen lebenden Wesen, die ihnen begegneten, waren lange, hungrige, magere Schweine, welche gierig die Abfälle in den schmutzigen Straßen verzehrten. Als Erich zuschaute, wie zwei derselben um eine große, fette Ratte kämpften, gelobte er sich, nie in den Tropen Schweinefleisch zu essen.

Milford, der voll Neugierde vorausgeeilt war, rief ihm jetzt mit Ausrufen des Entzückens zu, er möge sich doch beeilen, und als er ihn erreicht hatte, war er ebenso begeistert über den Anblick der herrlichen Landschaft, die sich vor ihnen entfaltete. Ein langsam dahinfließendes, breites Wasser war von der einen Seite von einem hohen, kühlen, tropischen Urwald begrenzt, dessen Unterholz, mit riesigen Schlinggewächsen verwachsen, bis in das Wasser hineinreichte. Das war die verrufene Lagune von Quittah, vor deren Fieberdünsten Sefton sie am Morgen gewarnt hatte, welche sich von Lagos bis zum Kap St. Paul die Meeresküste entlangzieht.

Die unternehmenden, jungen Seeleute konnten natürlich der Versuchung nicht widerstehen, sie mußten die brennende Sonnenseite für ein Stündchen verlassen und schnell ein kleines, angekettetes Fahrzeug besteigen, um zum jenseitigen Ufer in den verlockenden Waldesschatten zu rudern.

»Eins mußt du mir jetzt aber versprechen, Milford,« sagte Erich ernst, »du darfst dich nicht rühren und gar nicht reden, mußt gut acht auf alles geben und vorsichtig rudern, denn du siehst, wie schmal und klein dies Kanoe ist, es kann sehr leicht umschlagen, und dann würden wir sofort von den Krokodilen verschlungen, sieh nur jenes große Ungeheuer dort unter der Fächerpalme, das schon gierig den Rachen öffnet.«

Bald hatten sie das jenseitige Ufer erreicht, aber kein Platz zum Landen war zu finden, die dunkeln Mangrovebüsche standen so dicht nebeneinander, und ihre verschlungenen Wurzeln reichten so weit hinein in das sumpfige Uferwasser, daß es unmöglich war, das Boot durch den übelriechenden Schlamm zu bringen. So gaben sie denn das Landen auf und fuhren etwa eine halbe Stunde auf der Lagune hinunter, ganz begeistert über den eigenartigen Anblick des tropischen Urwaldes und der Ungetüme, welche die Lagune barg. Bald kam ein gefräßiges Krokodil dem Kanoe so nahe, daß Erich mit dem Ruder danach schlug, worauf es dann eiligst verschwand; dann wieder tauchte der riesige Kopf eines Hippopotamus aus dem Wasser und stieß ein kurzes Gebrüll aus; dann entdeckten sie hoch oben, um den Stamm einer Palme geringelt, den widerlichen Leib einer giftigen Schlange, und ruderten eiligst aus dem Bereich des Waldes, mehr auf die Mitte der Lagune. Leider hatten sie nur zwei kurze Stunden Urlaub, und die Hälfte war schon verstrichen, so wollte Erich gerade umkehren, da erblickte er zu seiner Überraschung, nur wenige Schritte weiter, die Mündung eines Seitenkanals, eines sogenannten »Creeks«. Natürlich war die Neugierde der jungen Entdecker zu groß, sie mußten wissen, wie breit derselbe war, jeder Seemann hat ja auch die Pflicht, unbekannte Gewässer zu erforschen; so ruderten sie denn noch eine kurze Strecke in den Kanal hinein, und alle Vorsicht vergessend, bat Milford, als er ein Plätzchen zum Landen entdeckte, nur für kurze Augenblicke in den Wald gehen zu dürfen. Erich sah nach der Uhr, »höchstens zehn Minuten dürfen wir darauf verwenden, denn in einer Stunde müssen wir schon wieder in der Festung sein, also schnell, wir wollen nur jene hohe Palme erklimmen, da können wir vielleicht sehen, wohin der Kanal führt und wie lang er ist.«

Schnell war das Boot befestigt, und voll Entzücken betrachteten sie die großartige Landschaft ringsum, aber zehn Minuten sind schnell verflossen; Erich, gewissenhaft wie immer, war der erste, der wieder unten war, und hatte rasch das Kanoe losgebunden und bestiegen, seinem Gefährten dabei fortwährend Ermahnungen zur eiligen Rückkehr zurufend. Da kam er endlich und sprang, unbesonnen, von einem großen Mangroveast mit einem Satz in das kleine Fahrzeug, das sofort umschlug, und die beiden Insassen lagen im Schlamm.

Mit furchtbarer Anstrengung arbeitete sich der kräftige Erich empor, richtete das Kanoe auf und schaute sich, ernstlich erzürnt, nach dem leichtsinnigen Gefährten um, da entdeckte er, zu seinem Entsetzen, wie ein riesiges Krokodil, nur noch etwa zwei Schritte von Milfords Rücken entfernt, auf denselben zuschwamm. Mit Blitzesschnelligkeit ergriff er das Ruder und schlug mit solcher Gewalt auf den geöffneten Rachen, daß der Schlamm bald blutig gefärbt war, und das Ungetüm in demselben versank. – Es war das Werk weniger Sekunden, Erichs Geistesgegenwart hatte ihn keinen Augenblick verlassen, nun packte er den vor Schrecken todbleichen, halb bewußtlosen Kameraden mit Riesenkraft und zog ihn vorsichtig in das Boot, denn jede Minute konnten ja andere schreckliche Ungeheuer aus dem Sumpfe tauchen und sie beide verschlingen.

Es war ein hervorragender Charakterzug des biederen, jungen deutschen Seemanns, daß er, je größer die Gefahr, desto ruhiger und gefaßter wurde. Kein Wort des Vorwurfs kam über seine Lippen, als er nun, das Ruder ansetzend, in das bleiche, traurige Antlitz des jüngeren Gefährten blickte, der ihm mit den Worten die Hand gab: »Gott lohne es dir, Erich, du hast mir durch deine Geistesgegenwart und treue Hilfe das Leben gerettet, das ich ohne dich, durch eigene Schuld und Unbedachtsamkeit, eingebüßt haben würde.«

»Wir haben fast eine Viertelstunde bei dem Unfall verloren,« antwortete Erich ruhig, »und müssen nun beide angestrengt rudern, um zur rechten Zeit in der Festung zu sein; was wird aber der Kapitän sagen, wenn er uns mit Schlamm bedeckt wiedersieht.« – Das war alles, und schweigend erreichten sie, nach einer guten halben Stunde, das Ufer der Lagune, als gleichzeitig, zu ihrem Schrecken, ein Signalschuß von der »Viktoria« ertönte. Atemlos liefen sie durch die Stadt und begegneten Kapitän Ellis, schon außerhalb der Festung, auf dem Wege zum Strande. Schnell wurde das wartende Boot bestiegen, und die englischen Matrosen berichteten ihrem Kommandanten, daß ein großes, verdächtiges Segel, vom Lande herkommend, im Nordosten aufgetaucht, dann aber bald wieder verschwunden und der Kurs des fremden Schiffes geändert worden sei, sobald die Besatzung den englischen Kreuzer bemerkt zu haben schien.

Kapitän Ellis war zu sehr mit dieser Meldung und seinen Plänen beschäftigt, um jetzt seine jungen Kadetten zu befragen, auf welche Weise ihre Uniform in diesen schmutzigen Zustand geraten sei, und als die »Viktoria« erreicht war, schlüpften die beiden jungen Abenteurer eiligst in ihre Kajüte, um sich der schlammigen Anzüge zu entledigen. Erich hatte das Sumpfbad nichts geschadet, aber Milford war ganz erschöpft und aufgeregt nach dem ausgestandenen Schrecken, und Seftons Achselzucken und die dem Arzt zugeflüsterten Worte: »Nicht wahr, der Anfang des gelben Fiebers?« machten ihn noch elender, so daß er ins Lazarett beordert wurde.

Als Erich aufs Oberdeck kam, fand er dort große Aufregung während der Verfolgung des verdächtigen Schiffes; die frische Brise, welche in jenen Breitegraden gewöhnlich um zehn Uhr morgens beginnt und bis gegen Abend anhält, fing schon an, nachzulassen, und Kapitän Ellis beobachtete ängstlich die eigenen und die feindlichen Segel, die immer schlaffer wurden, so wie der Lauf der Schiffe mit jedem Augenblick langsamer. Um fünf Uhr trat völlige Windstille ein, nun mußte die Jagd aufgegeben werden, und bald lag der Kreuzer wie der Schoner ganz still. »Ich würde gern unsere Kutter, stark bemannt, hinüberschicken,« sagte Kapitän Ellis zum ersten Offizier, »doch wer weiß, wie stark die Feinde bewaffnet sind, ich will unnützes Blutvergießen vermeiden, aber die Gegner wenigstens jetzt zwingen, ihre Flagge zu zeigen, lassen Sie die unsrige aufziehen und einen Signalschuß abfeuern.«

Beides geschah, und kaum hatte sich der Pulverrauch verzogen, so wurde das Signal beantwortet, und das fremde Schiff zeigte die französische Flagge.

»Dachte ich's mir doch!« rief Kapitän Ellis, »der Schoner steckt natürlich voll Sklaven, und sie hoffen, uns unter dieser Flagge zu entwischen, aber ich werde auf meiner Hut sein!«

Die Sonne sank jetzt, und bald verhüllte tiefe Dunkelheit beide Schiffe; Erich war froh, als er um acht Uhr seine Wache überstanden hatte, denn er war entsetzlich müde nach den Anstrengungen und Aufregungen des Tages; doch ehe er sein Lager aufsuchte, sah er noch nach Milford, der ihm die Hand entgegenstreckte. »Wie gut von dir, daß du noch zu mir kommst,« sagte er herzlich, »ohne dich wäre ich nicht mehr hier, wie soll ich dir jemals meine Dankbarkeit beweisen, du mein teurer Lebensretter?«

»Dadurch, daß du jetzt sofort einschläfst, mein Junge, und morgen früh um fünf Uhr frisch und gesund den schurkischen Sklavenhändler fangen hilfst!«

Erichs Schlaf war diese Nacht nicht so erquickend wie sonst, immerfort träumte er von Krokodilen, Schlangen und Mangrovesümpfen, und um vier Uhr morgens mußte er wieder auf Deck sein, um seine Wache anzutreten. Die »Viktoria« bewegte sich nur langsam bei dem schwachen Landwinde weiter, und ungeduldig erwarteten Kapitän und Besatzung das Tageslicht, das dann plötzlich, wie stets in den Tropen, die tiefe Dunkelheit ohne vorhergehende Dämmerung vertrieb. – Dort lag das verdächtige Schiff, einige hundert Schritt entfernt, und es kam ihnen vor, als ob große Unruhe an Bord herrsche, sie zogen gerade ein Boot auf, als es Tag wurde, und Kapitän Ellis befürchtete, daß sie ihre Sklaven ans Land geschafft und dort in einem Schlupfwinkel verborgen hielten. Er befahl dem ersten Offizier, sofort den Kutter zu bemannen und hinüber zu dem fremden Schiffe zu fahren: »Sie lassen sich dort die Papiere zeigen, und wenn Sie alles in Ordnung finden und es wirklich Franzosen sind, kommen Sie sogleich zurück; fahren Sie mit, Walder, und halten Sie Ihre Augen offen, Milford und Sefton können Sie ebenfalls begleiten, schnallen Sie Ihre Degen um!«

Milford hatte seinen gestrigen Schrecken ausgeschlafen und war voll neuer Unternehmungslust, hoch beglückt, mit seinem Retter an der Expedition teilnehmen zu dürfen. »Warum können wir denn ein Sklavenschiff unter französischer Flagge nicht nehmen?« fragte er Erich, während der Kutter hinabgelassen wurde.

»Weil die französische Regierung den englischen Kreuzern nicht das Recht gegeben, sich aber nach langen Unterhandlungen verpflichtet hat, ihre eigenen Kriegsschiffe an der Westküste zu halten, um dem Sklavenhandel Einhalt zu tun, seit wir ihnen bewiesen haben, daß die nichtswürdigen portugiesischen und brasilianischen Seelenverkäufer uns sehr häufig unter der ihnen nicht zukommenden französischen Flagge entwischt sind.«

Bald war der fremde Schoner erreicht, ein schönes, schlankes Fahrzeug, das den Namen »Sylphide« mit goldenen Buchstaben am Bug trug, eine Strickleiter wurde herabgelassen, und ein wirklicher Franzose empfing die englischen Offiziere und fragte sehr höflich, was ihnen die Ehre des Besuches verschaffe. Der erste Offizier verlangte im Namen der englischen Regierung die Schiffspapiere zu sehen, die ihm auch sofort mit spöttischem Achselzucken überreicht wurden und völlig in Ordnung schienen, der Schoner wurde darin als die »Sylphide« bezeichnet, die zu Handelszwecken von Bordeaux nach der Westküste gesandt sei.

Herr Scharf mußte unverrichteter Sache in den Kutter zurückkehren, während Erich ihm zuflüsterte: »Es ist ganz sicher ein Sklavenhändler, ich lief die halbe Kajütentreppe hinunter, wo mir eine finstere, portugiesisch sprechende Wache den Weg vertrat, aber ich sah deutlich durch eine offene Tür in einem großen, schmutzigen Raume eine Menge eiserner Ringe und Ketten am Boden. Als ich dann wieder aufs Deck trat, fragte mich ein bräunlicher Aufseher mit einem wahren Halunkengesicht, ob wir in den letzten Tagen einem französischen Kriegsschiffe begegnet seien, er sprach nur gebrochen Englisch, und als ich seine Frage bejahte, ging er zu dem schwarzäugigen, finsteren Kapitän, der ganz in der Nähe stand, und teilte es ihm offenbar mit, aber in einer mir fremden Sprache. Französisch war es nicht, denn das verstehe und spreche ich selbst, nie sah ich eine so große Schurkenbande beisammen!«

Alle diese Beobachtungen teilte Erich gleich darauf seinem Kommandeur mit, und dieser befahl ihm, nach kurzem Besinnen, sofort mit dem noch bemannten Kutter südwärts zu steuern und alles aufzubieten, um die französische Korvette, die ihnen gestern, zwei Stunden vor Quittah, begegnet war, aufzufinden und dort den Vorgang zu melden.

Wie glücklich war unser Seekadett über das in ihn gesetzte Vertrauen, und von Milford, James, dem Quartermeister und sechs tüchtigen Matrosen begleitet, trat er sofort seine Fahrt an. Das Glück begünstigte ihn sehr, denn schon um neun Uhr machte sich eine günstige Brise auf, und nach zwei Stunden trafen sie auf die französische Korvette, deren Kommandant ihn mit großer Freundlichkeit empfing und auf seine Mitteilungen beschloß, sofort nach der verdächtigen »Sylphide« zu fahren. Er schlug ihm vor, seinen Kutter ins Schlepptau zu nehmen, was Erich mit Dank annahm, da er zu gern Zeuge sein wollte, wie die verruchten Sklavenhändler ihre Züchtigung erhielten. Bald nach Mittag näherte sich die Korvette der »Sylphide«, aber zur Überraschung aller Zuschauer wurde plötzlich deren französische Flagge entfernt.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Erich, eben auf die »Viktoria« zurückgekehrt, und gespannt wie alle anderen durch sein Fernrohr die Vorgänge beobachtend.

»Wahrscheinlich als Zeichen der Übergabe,« antwortete der zweite Offizier, und deutlich sahen die Engländer nun das heftige Gestikulieren, die erhobenen Arme des lebhaften französischen Befehlshabers bei der offenbar sehr zornigen Unterredung mit dem verdächtigen, fremden Schiffsführer, bis beide auf der Treppe der Kajüte verschwanden. Aber zur allgemeinen Überraschung bestieg der Franzose nach einer Viertelstunde wieder sein Boot, kehrte aber nicht auf seine Korvette zurück, sondern ließ sich nach der »Viktoria« rudern.

»Wache heraus!« erscholl aus derselben das Kommando, und der französische Befehlshaber wurde mit allen militärischen Ehren empfangen und von Kapitän Ellis in die Kajüte geführt.

Es war kein langer Besuch, aber die erwartungsvoll auf Deck in Parade aufgestellte Besatzung bemerkte bald, daß ihr Kommandant sehr vergnügt aussah, als er den Gast bis an die Schiffstreppe begleitete; und freudestrahlend empfingen Offiziere und Matrosen gleich darauf den Befehl, beide Kutter zu bemannen.

»Was sagen Sie zu der Dummheit dieser Bande, Herr Scharf?« fügte Kapitän Ellis hinzu, »sie haben kurz vor Ankunft der Korvette nicht nur die Flagge entfernt und so gut versteckt, daß sie nicht zu finden war, sondern auch die Schiffspapiere über Bord geworfen, denn die Franzosen hörten und sahen das Plätschern des Wassers, wie wenn etwas Schweres, wahrscheinlich ein eiserner Kasten, versenkt wurde.

»Der Korvettenkapitän ist nun fest überzeugt, daß es ein brasilianisches Sklavenschiff ist, denn er sah, wie Herr Walder, die eisernen Ringe und Ketten in dem großen, schmutzigen Raume, womit die armen Opfer gefesselt waren, die wahrscheinlich im Dunkel der vorigen Nacht, auf Booten gelandet und über die Lagune in einen sicheren Schlupfwinkel gebracht sind, weil sie uns fürchteten.«

»Durch den Kanal, wo du mir gestern das Leben rettetest,« raunte Milford Erich ins Ohr.

»Der schurkische Seelenverkäufer wußte recht gut,« fuhr Kapitän Ellis fort, »daß der französische Kommandant sein Schiff nur nehmen durfte, wenn er falsche französische Papiere und Flaggen fand, deshalb hat er alles entfernt und fest behauptet, die ›Sylphide‹ gehöre den Portugiesen, aber er vergaß, daß die Engländer seit Jahren das Recht haben, alle verdächtigen Schiffe zu nehmen, die nicht die französische Flagge führen, und daß die ›Viktoria‹ noch in der Nähe ist. Also schnell ans Werk, Herr Scharf, Sie werden den zweiten Kutter führen, ich selbst den ersten, gürten Sie Ihr Schwert um und laden Sie den Revolver, Herr Walder, Sie werden mich begleiten.«

Als die Besatzung der »Sylphide« eine Viertelstunde später die beiden englischen Kutter nahen sah, wurde sofort die französische Flagge wieder aufgezogen, und ein spöttisches Lächeln zeigte sich bei diesem Manöver auf Kapitän Ellis' ernstem Antlitz, aber mit finsterer Miene und Donnerstimme rief er, nachdem er das Deck des schmucken Fahrzeuges bestiegen, das so schändlichem Zwecke dienen mußte: »Ich nehme im Namen der englischen Regierung Besitz von diesem brasilianischen Sklavenschiffe.«

»Sie haben kein Recht dazu, wir sind Franzosen,« antwortete wütend der grimmige Eigentümer und wies auf die Flagge.

»So zeigen Sie mir Ihre Papiere!«

»Die sind von Ihrem ersten Offizier schon heute früh für richtig befunden!«

»Ich will sie aber jetzt selbst sehen,« antwortete Kapitän Ellis ruhig.

Der Sklavenhändler wußte nun, daß alles verloren, und mit einem Fluche seinen Dolch hervorziehend, stürzte er sich auf seinen Feind, aber dieser packte mit starkem Griff den erhobenen Arm, während sein Gefolge, Erich voran, den Brasilianer binnen wenigen Sekunden zu Boden geworfen und gefesselt hatten, ohne daß ein einziger Mann von der Schiffsbesatzung seinem Herrn zu Hilfe kam. Sie hatten sich feige in die unteren Räume geflüchtet, wurden aber bald von den englischen Matrosen samt ihrem Gepäck geholt. – »Eine schreckliche Bande!« sagte Kapitän Ellis, als er die finsteren Gestalten betrachtete, »schaffen Sie die Schurken sofort gefesselt ins Gefängnis der ›Viktoria‹, wir werden sie nach Lagos zur Bestrafung bringen, aber es sind ja nur siebenundzwanzig,« fügte er, sie zählend, hinzu, »sagten Sie mir nicht heute früh, es wären fünfunddreißig, Herr Walder?«

»So schien es mir, aber ich habe mich vielleicht geirrt,« erwiderte Erich, »da ich ja nur kurze Zeit an Bord war und die Leute auf Deck hin und her liefen.« – Die unteren Schiffsräume wurden untersucht, aber niemand gefunden, und die siebenundzwanzig unheimlichen Gestalten jetzt in den Kutter gebracht.

»Selten sah ich so viele Schurken beisammen,« sagte Kapitän Ellis, ihnen schaudernd nachblickend, »und das auf einem so prächtigen Schiffe, die Frage ist nur, wie wollen wir dasselbe nach St. Helena schaffen, Herr Scharf, gerade jetzt, wo wir so großen Mangel an Offizieren haben. Viere sind schon mit ›Prisenschiffen‹ fort, Rutherford ist fieberkrank, und daher nicht imstande, das Kommando der ›Sylphide‹ zu übernehmen, da wird es das beste sein, ich übergebe es Walder, er hat sich in diesen vier Jahren als sehr tüchtig und zuverlässig bewährt und kann es nach Lagos bringen, dort soll ich, nach meinen letzten Nachrichten aus London, in der nächsten Woche mit einem Admiral auf einer englischen Fregatte zusammentreffen.«

Erich, der den Transport der Gefangenen beaufsichtigt hatte, wurde herbeigerufen und hörte, strahlend vor Freude, daß er bestimmt sei, für einige Tage das Kommando der »Sylphide« zu übernehmen. »Ich gebe Ihnen dadurch einen großen Beweis meines Vertrauens, Herr Walder,« sagte der Kapitän, »glauben Sie, daß Sie imstande sind, das Schiff sicher hinüber zu führen?«

»O, ganz gewiß!« antwortete der glückliche Kadett, und hätte es gern übernommen, dasselbe ans Ende der Welt zu bringen.

»Wohlan denn, Herr Scharf, suchen Sie ihm sieben tüchtige Matrosen unter der Besatzung der ›Viktoria‹ aus, dazu James, den Quartermaster, und noch einen Kadetten – Sie nehmen wohl Ihren Schützling Milford am liebsten – ich bin damit zufrieden, holen Sie Ihre notwendigsten Sachen für die etwa fünftägige Fahrt, und morgen früh können Sie die Reise antreten, wir segeln schon heute abend mit dem Landwind, der meistens um neun Uhr eintritt, und erwarten Sie in Lagos, Gott mit Ihnen!«

Vor Sonnenuntergang war die neue Besatzung an Bord der »Sylphide« – sie war sehr klein, aber die »Viktoria« konnte nicht mehr Leute entbehren, und Erich fühlte sich stolz wie ein König, als er das Deck der schlanken Brigg auf und ab schritt. Das war ja auch ganz natürlich für einen zwanzigjährigen Jüngling, und er hatte Ursache, sich über diesen Beweis großen Vertrauens zu freuen, denn wenn auch sein Kommando nur wenige Tage dauern sollte, hatte man doch eine große Verantwortlichkeit für zehn Menschenleben und die Sicherheit des wertvollen Schiffes auf seine jungen Schultern gelegt. Er fühlte das selbst und nahm sich vor, alles aufzubieten, um seinen Posten gewissenhaft auszufüllen; »gib du mir Kraft dazu, du treuer Gott,« betete er leise, als er die erste Nachtwache mit vier Matrosen antrat und bestimmt hatte, daß Milford mit dem Quartermaster die Mitternachtswache übernehmen solle.

Gleichmäßig verfolgte die »Sylphide«, bei einem leichten Landwind, ihren Kurs nach Nordwest, den unser Held auf Rat des Kapitäns eingeschlagen hatte, damit er sich nicht zu weit von der Küste entferne, der größeren Sicherheit wegen. Erich hatte nichts zu tun, er schritt langsam auf der Kommandobrücke auf und ab und überließ sich seinen Gedanken, die in weite Ferne schweiften. »Wird es dir wohl einst vergönnt sein,« dachte er, »so als Kommandant eines großen deutschen Schiffes auf der Brücke zu stehen?« – Das war ja das Ziel seiner Sehnsucht seit seinen Knabenjahren gewesen, denn wenn er auch unter dem gütigen und sehr hervorragenden Kapitän Ellis viel gelernt hatte und sehr glücklich mit den englischen Kameraden auf der »Viktoria« gewesen war, sein deutsches Herz blieb dem geliebten Vaterlande treu, und mit hoher Freude erfüllte ihn seit einigen Monaten der Inhalt eines ausführlichen Briefes von seinem einstigen, teuren Lehrer, Doktor Bucher, aus Goslar. Derselbe teilte ihm mit, daß die so klein begonnene Dampferaktiengesellschaft des Norddeutschen Lloyd in Bremen, welche der hochverdiente dortige Konsul H. Meyer 1857 gegründet hatte, seit kurzem einen hohen Aufschwung genommen und große Bedeutung für deutsche Industrie und Handel gewinne. Ganz glücklich darüber, fügte der Harzer Patriot noch hinzu, daß die Sicherheit und Regelmäßigkeit dieses Dampferbetriebs zwischen Bremen und New York dem Lloyd nun auch die Beförderung der englischen und amerikanischen Post eingetragen habe. Der Personenverkehr, der früher nur durch englische Schiffe betrieben worden sei, habe im letzten Jahre 1863 bereits 9714 Passagiere auf Lloyddampfern betragen, daher müsse von nun an wöchentlich ein solcher von Bremerhaven nach New York abgehen, und der Bau mehrerer neuer, ganz aus Eisen gefertigter, über 300 Fuß langer Schiffe wäre kürzlich beschlossen worden.

Erich frohlockte bei diesen Nachrichten, wie oft hatte Doktor Bucher ihm in seinen Schuljahren gesagt, daß die Deutschen so arm wären, weil die Schiffahrt zu unbedeutend sei und die Erzeugnisse der deutschen Fabriken nicht genügend nach anderen Weltteilen geführt werden könnten, daß England den Handel mit überseeischen Völkern allein in Händen habe. – Nun sollte das alles anders werden, hauptsächlich durch das Verdienst des Norddeutschen Lloyd; o! was würde der junge Kadett darum gegeben haben, auf solch einem deutschen Dampfer angestellt zu werden, aber er fürchtete, daß dazu gar keine Aussicht sei, denn Doktor Bucher hatte ihm auch mitgeteilt, daß seit dem Aufschwung des Lloyd seit einiger Zeit die Söhne der besten Familien, als Gymnasialschüler, Lust bekommen hätten, zur See zu gehen, daß sie alle vom unteren Schiffsjungen auf dienen müßten, um, wenn sie mehrere Jahre als Matrosen gefahren, die Navigationsschule in Bremen zu besuchen und das Offiziers- und später das Kapitänsexamen abzulegen. Er fügte auch noch hinzu, daß zwei seiner früheren Schüler, die auf dem Polytechnikum in Hannover zu Ingenieuren ausgebildet seien, sich zu den Maschinistenstellen auf Lloyddampfern gemeldet hätten, und daß die Zahl der jungen Ärzte und Offiziersaspiranten, die bereits auf der Liste des Lloyd ständen, sehr groß sein sollte, wie ihm seine früheren Schüler bei einem Besuche in Goslar erzählt hätten.

Dieser Nachsatz in Doktor Buchers Briefe machte Erich das Herz sehr schwer, denn wie sollte es ihm bei solchem Andrange und ohne Fürsprache bei der Direktion jemals gelingen, eine Anstellung zu erhalten! Das alles ging ihm in dieser ersten Nacht auf der »Sylphide« durch den Kopf, als er, zu aufgeregt, um zu schlafen, sich nach Mitternacht, als Milford und James die Wache angetreten, unter ein aufgespanntes, leinenes Schutzdach niedergelegt hatte. Sie alle hatten sich nicht entschließen können, die heißen, dumpfen und sehr schmutzigen Kajüten der Sklavenhändler zu bewohnen, und deshalb vorgezogen, ihre Decken und Matratzen von der »Viktoria« mitzubringen und unter den Sonnendächern auf Deck zu ruhen.

Endlich übermannte die Müdigkeit und Abspannung sowie die große Hitze doch den jungen Befehlshaber nach dem aufregenden Tage, er war in eine Art Halbschlummer gesunken, aus dem er plötzlich, durch eine Berührung seines Körpers, erwachte und deutlich, trotz der Finsternis, bemerkte, daß sich jemand über ihn beugte und im Begriff war, sich auf ihn zu werfen. Seine ganze Energie war im Nu erwacht, mit ungewöhnlicher Körperkraft begabt, gelang es ihm, die dunkle Gestalt zurückzustoßen, und aufspringend rief er mit Donnerstimme:

»Wache, hierher!« sah dann beim schwachen Schimmer einer näher getragenen Laterne ein auf ihn gezücktes Dolchmesser blinken, er packte aber den aufgehobenen Arm mit Riesenkraft, und im selben Augenblick fiel sein Angreifer, von des herbeigeeilten Quartermasters Degen durchbohrt, fluchend und stöhnend zu Boden. Ringsum tauchten jetzt dunkle Gestalten auf, wüstes Geschrei und portugiesische Flüche ertönten über das ganze Deck, auf dessen Mitte, dicht unter der Kommandobrücke und neben dem geöffneten Skylight der Kajüte, der junge Befehlshaber mit seiner tiefen, kräftigen Stimme das Kommando: »Englische Besatzung, hierher!« rief. Im selben Augenblick feuerte der Quartermaster seinen Revolver auf einen von der Seite heranschleichenden Brasilianer, der tödlich getroffen zu Boden sank, als Milford, durch ein Messer der Meuchelmörder an der Schulter schwer verletzt, herbeiwankte, und vom Vorderteil des Schiffes die englischen Matrosen ihrem geliebten, jungen Führer zu Hilfe eilten. »Steigen Sie schnell durch das Skylight, John!« rief er einem hochgewachsenen Irländer zu, der sich durch seine Gewandtheit und Kraft stets auf der »Viktoria« hervorgetan hatte, »und reichen Sie uns die drei geladenen Revolver herauf, die ich gestern den Schurken abgenommen und auf den Tisch gelegt habe.«

Binnen wenigen Minuten war die kleine aber tüchtige englische Besatzung bewaffnet, und mit gut gezielten Schüssen wurden die neun dunklen Gestalten empfangen, die sich jetzt mit ihren Dolchen auf sie stürzen wollten, aber feige auf das Hinterteil des Schiffes flüchteten, als drei von ihnen, von Kugeln schwer getroffen, zu Boden stürzten.

»Lassen Sie uns die Meuchelmörder sämtlich niederschießen, Herr Walder!« rief der wütende Quartermaster, seinen Revolver aufs neue ladend.

»Nein!« erwiderte Erich fest, »aber unschädlich müssen sie sofort gemacht werden, laßt sie nicht in die unteren Schlupfwinkel, sie würden das Schiff anbohren und uns alle verderben, bindet sie an Händen und Füßen, und dann werden wir sehen, was wir bei Tagesanbruch mit ihnen beginnen.«

Während der Quartermaster und die handfesten Matrosen die Schurken fesselten, verband Erich mit seinem Taschentuch die stark blutende Schulterwunde seines Freundes beim Scheine des Kompaßlichtes, dann ging er in die Kajüte hinunter, um etwas Wein für den durch Blutverlust und Schrecken völlig erschöpften Kadetten zu holen, und hörte den Bericht des Quartermasters, den er kurz und ernst fragte, ob denn die Wache geschlafen, da niemand das Auftauchen der mitternächtlichen Mörder vor ihm selbst bemerkt habe.

»Da das Schiff bei der um elf Uhr eingetretenen Windstille sich kaum fortbewegte, können sie nur mit einem Boote herangekommen und hinaufgeklettert sein,« sagte er, »denn wir haben ja die unteren Räume gestern genau durchsucht.«

»Mit einem Boote sind sie sicher nicht an Bord gekommen, Herr Walder!« erwiderte der brave James, »das kann ich mit einem heiligen Eide beschwören, denn ich habe die Kommandobrücke, von der ich doch alles übersehen kann, keinen Augenblick verlassen. Herr Milford schritt auf dem Deck auf und ab und blieb mitunter einige Minuten bei dem Mann am Steuer stehen, John hatte die Wache am Bug, Jack am Hinterteil des Schiffes, überall herrschte tiefe Stille, da hörte ich plötzlich Ihren Ruf und stürzte die paar Stufen der Brücke hinunter. Mein Messer hat Ihrem Angreifer das Herz durchbohrt, er ist tot wie die vier anderen von unseren Kugeln getroffenen Banditen, die übrigen fünf haben wir mit starken Tauen gebunden!«

»Es ist gut, Quartermaster!« sagte Erich und schüttelte ihm die Hand, »bei Tageslicht müssen wir das Rätsel zu lösen suchen und finden sicher den Schlupfwinkel der Meuchelmörder.«

Endlich war die schreckliche Nacht vorüber, das goldene Licht der ausgehenden Sonne bestrahlte die weißen Segel und das blutgetränkte Deck der »Sylphide«, und der junge Befehlshaber wendete sich mit geheimem Schauder von dem Anblick der leblosen Gestalten der erschossenen Mörder und befahl, die Leichen über Bord zu schaffen. Dann blickte er mit Abscheu auf die fünf gefesselten Portugiesen und Brasilianer, die miteinander flüsterten und wütend fluchten, als der Quartermeister entdeckt hatte, daß es dem einen gelungen war, mit einem irgendwo verborgenen Messer, gleich bei Tagesanbruch, seine linke Hand von dem Tau zu befreien. »Sollen wir wirklich die gefährlichen Schurken fünf Tage, und bei anhaltender Windstille vielleicht noch länger, an Bord haben, Herr Wälder?« fragte James, »sie haben ja den Tod zehnfach verdient, selbst unsere Kugeln sind zu gut für sie, und jeder Befehlshaber eines englischen Kriegsschiffes würde sie aufhängen lassen, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichten.«

»Aber ich bin kein Befehlshaber, Quartermaster,« erwiderte Erich ernst, »ich will sie Gottes rächender Hand überlassen,« fügte er nach kurzem Besinnen hinzu, »die Sicherheit von zehn Menschenleben und des Schiffes ist mir anvertraut, da wäre es freilich gewagt, fünf Meuchelmörder darauf zu behalten, da unsere Besatzung zu schwach ist, mein Kamerad verwundet und die Hälfte der Mannschaft abwechselnd der Ruhe bedarf. Wir besitzen zwei Boote, lassen Sie das eine hinab und versehen Sie es mit so viel Proviant und Trinkwasser, wie es tragen kann, und dann schaffen Sie die Gefangenen hinein, aber erst unten im Boote lösen Sie die Fesseln.«

Des jungen Befehlshabers Beschluß wurde vollführt, und der finstere, angstvolle Ausdruck auf den Schurkengesichtern veränderte sich in ein teuflisches Grinsen, als sie im Boote angelangt waren; sie hatten offenbar den verdienten Tod erwartet, hatten aber kein Wort des Dankes für die unverhoffte Freiheit, nur wilde Flüche wurden den Engländern hinaufgerufen, als sie ihnen auf Erichs Befehl ein Segel und Ruder hinunterreichten.

»Die Schurken verdienen nicht zu leben!« rief James empört, »ich würde sie am liebsten jetzt in den Grund bohren!«

»Gott wird sie schon richten!« erwiderte Erich ernst, und es war eine Prophezeiung, die bald genug in Erfüllung gehen sollte. Jedermann an Bord atmete erleichtert auf, als die dunkeln Gestalten in der Ferne verschwunden waren und der unheimliche Ausdruck dieser Schurkenphysiognomien die Matrosen, welche sie in das Boot gebracht hatten, nicht mehr ärgerte, und die »Sylphide« dann von einer günstigen Brise schnell weitergeführt wurde. Um zehn Uhr trat aber wieder die gewöhnliche Windstille und erschöpfende, schwüle Hitze ein; der junge Befehlshaber ließ das Schiff von den Spuren des nächtlichen Überfalls reinigen, dann legte er sich zu dem verwundeten Freunde auf das Deck unter dem Sonnendach nieder, um einige Stunden zu ruhen. Als er um drei Uhr zu neuer Pflichterfüllung frisch und gestärkt erwachte, sah er sofort, daß die kleine Wolke, die er schon am frühen Morgen am westlichen Horizont entdeckt hatte, eine große Ausdehnung gewonnen hatte, und eins der furchtbaren, tropischen Gewitter im Anzuge war, die, wenn auch nur von kurzer Dauer, doch meistens von einem Tornado begleitet, so manchem stolzen Schiffe den Untergang bereiten.

Noch herrschte bei unerträglicher Hitze tiefe Windstille, und so hatte die kleine Besatzung, die sich abwechselnd ebenfalls durch Ruhe und Schlaf gestärkt hatte, Zeit, die nötigen Vorsichtsmaßregeln zu treffen, dann untersuchte Erich, während der Quartermaster die Deckwache übernommen, von einigen Matrosen mit Laternen begleitet, nochmals gründlich die dunkeln, untersten Räume des Schiffes, um zu erforschen, wo sich die portugiesischen Meuchelmörder verborgen gehalten hatten. Es wurde ihnen sehr schwer, den Schlupfwinkel zu entdecken, und erst nach langem Suchen fand Erich hinter der großen, schrecklichen Kajüte – deren am Boden befestigte eiserne Ringe und Ketten verrieten, daß hier die armen Sklaven gefangen gehalten wurden – eine kaum bemerkbare Türe, die zu einem dunkeln, modrigen Loche führte, wo etwa zehn Menschen mit Mühe Platz finden konnten.

»Hier haben sich die Schurken sicher so lange verborgen gehalten, bis Mitternacht vorüber war,« rief er, »um sich dann leise in der Finsternis unbemerkt an Deck zu schleichen und uns zu überfallen. Ich wäre meuchlings im Schlafe ermordet worden, wenn mich Gottes Güte nicht gnädig beschützt und zur rechten Zeit erwachen ließ; nie können wir ihm dankbar genug sein, daß er uns den Sieg verlieh, er wird uns auch jetzt bei dem kommenden Sturme beschützen, wenn wir unsere Pflicht erfüllen!«

Schnell und mit furchtbarer Gewalt brach jetzt das Gewitter los, aber die »Sylphide« blieb unversehrt, es dauerte auch nur zwei Stunden, und während Erich im strömenden Regen unter Donner und Sturm auf der Kommandobrücke stand und mit einem Gefühl von Beklemmung nach allen Richtungen durch sein Fernrohr spähte, trat James zu ihm, der den trüben Ausdruck auf dem sonst so frischen, heiteren Antlitz des jungen Befehlshabers schon eine Weile beobachtet hatte, und sagte treuherzig: »Die Elenden haben ihr Schicksal hundertfach verdient, Herr Walder, bei des Sturmes Gewalt ist ihr kleines Boot längst umgeschlagen, Sie spähen umsonst danach, Gott hat sie vor seinen Richterstuhl gefordert!«

»Ich fürchte es auch!« erwiderte Erich ernst, »aber ich konnte ja nicht anders handeln, wagte die Meuchelmörder keine zweite Nacht an Bord zu behalten bei unserer schwachen Besatzung, da ihre und des Schiffes Sicherheit mir anvertraut ist. Ich kenne ja die englischen Gesetze, Kapitän Ellis mußte sie sofort aufhängen lassen, sobald sie in seine Gewalt kamen – ich habe sie dem allmächtigen Gott überliefert, der die Strafe nun über sie verhängt hat!«

Drei Tage später erreichte die »Sylphide« den Hafen von Lagos, und die kleine Besatzung wurde mit jubelnden Hurras von den Kameraden auf der »Viktoria« begrüßt, die neben einer großen englischen Fregatte ankerte, auf deren Topmast die Admiralsflagge wehte. Sehr bald meldete sich unser junger Held bei seinem Kapitän und stattete ihm Bericht über die furchtbare Mordnacht ab; wie hocherfreut war er da, als dieser ihm herzlich die Hand mit den Worten schüttelte: »Sie haben recht gehandelt, mein junger Freund, ich selbst hätte die Schurken sofort an dem obersten Mast aufhängen lassen müssen, und kein Vorwurf hätte Sie getroffen, wenn Sie Ihren erbitterten Untergebenen freie Hand gelassen und diese ihre Kugeln auf die letzten fünf Mörder abgefeuert hätten. Aber es macht Ihrem menschenfreundlichen Herzen Ehre, daß Sie ihnen ein Boot und die Freiheit gaben; war es Gottes Wille, so konnte er sie erhalten, aber er sandte in weiser Absicht den Sturm, der sie verderben mußte, um die menschliche Gesellschaft für immer von den gefährlichen Verbrechern zu befreien. – Es freut mich sehr, mein lieber Walder,« fügte der Kapitän hinzu, »daß ich Ihnen heute auch eine Anerkennung höheren Orts für treue Pflichterfüllung überreichen kann, der Admiral legte gestern das Patent in meine Hände, das Sie zum Schiffsleutnant der englischen Marine ernennt.

»Und noch eine zweite gute Nachricht kann ich Ihnen zugleich mitteilen, wir segeln binnen drei Tagen nach England zurück zu einer kurzen Reparatur und werden dann wahrscheinlich zur Mittelmeerflotte kommandiert. Das gibt Ihnen Gelegenheit, das malerische Gibraltar, die herrliche Riviera, überhaupt die Küsten von Italien und Spanien kennen zu lernen, und nun richten Sie sich in Ihrer neuen Leutnantskajüte auf der ›Viktoria‹ ein und lesen die zahlreichen Briefe, die für Sie eingetroffen sind.«

Dankerfüllt und glückstrahlend begrüßte Erich die ehemaligen Kameraden, jetzt seine Untergebenen, von denen nur Sefton gleich ihm avanciert war, dann zog er sich in die Einsamkeit seiner kleinen Kabine zurück, um die umfangreichen Briefe aus der Heimat zu lesen, welche der Zahlmeister ihm eingehändigt hatte. Was sollte er da alles erfahren, das ihn mit Überraschung und Freude erfüllte. Die teure Mutter, deren Zeilen er zuerst las, teilte ihm mit, daß zwischen dem Deutschen Bunde und Dänemark über den Besitz von Schleswig-Holstein ein Krieg ausgebrochen sei, und vor fünf Monaten, am 9. Mai 1864, bei Helgoland ein Seegefecht stattgefunden habe, zwischen den österreichischen Fregatten »Schwarzenberg« und »Radetzky« und den preußischen Kanonenbooten »Blitz« und »Basilisk« gegen die dänischen Kriegsschiffe »Nills Juel«, »Heimdel« und »Dagmar«, und daß die Dänen, obgleich der Sieg unentschieden, sich zurückgezogen und das Schlachtfeld geräumt hätten.

Auch Schwester Helga und der alte Hamke schilderten ihm in langen Briefen das große Ereignis, das die Bewohner von Helgoland, besonders seinen schwachen Vater, in gewaltige Aufregung versetzt hatte, aber zu seiner Beruhigung erwähnte die Mutter nichts von bösen Folgen für seine Gesundheit.

»Erkennst Du nicht bei diesem Kriege, daß die feste Hand des Gesandten von Bismarck den bisher so ohnmächtigen Deutschen Bund etwas aufrüttelt, mein lieber Erich?« schrieb ihm sein treuer Lehrer aus Goslar, »glaube mir, dieser hervorragende, starke Mann wird mit seinem Könige das ganze schwache Deutschland aus dem Schlaf erwecken, wie der Märchenprinz das Dornröschen, Gott gebe, daß die Stunde nicht allzu fern ist!«

»O, wenn er recht hätte!« dachte der junge Offizier oft auf stiller Nachtwache hoch oben auf der Kommandobrücke des englischen Kriegsschiffes, »und wenn es mir doch vergönnt wäre, einst die deutsche Seemannsuniform zu tragen!«

Vier Wochen später ankerte die »Viktoria« bei Portsmouth, und als Erich geholfen, sie ins Trockendock zu bringen, wo eine etwa dreiwöchentliche Reparatur vorgenommen werden mußte, verkündete ihm Kapitän Ellis am Abend mit freundlichem Lächeln die freudige Überraschung, daß Leutnant Walder am nächsten Morgen für achtzehn Tage eine Urlaubsreise nach Helgoland antreten dürfe. »Auch für mich hat die Admiralität heute eine Überraschung gesandt,« fügte er hinzu, »ich bin zum Vizeadmiral der Mittelmeerflotte ernannt, und als solcher wähle ich Sie mir, mein lieber Walder, zu meinem zweiten Adjutanten.«


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