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Sechstes Kapitel.
Der Kapitän des Norddeutschen Lloyd.

Als die Postschaluppe am 24. Dezember desselben Jahres in der Abenddämmerung auf Helgoland vor Anker gegangen war, entstieg ihr ein hochgewachsener, sonnverbrannter, junger Offizier, der den Schiffern befahl, seine verschiedenen, von London mitgebrachten Kisten, bei Anbruch der Dunkelheit zur Christbescherung ins Oberland zum Doktor Walder zu bringen. Nur eine derselben ließ er durch einen Gepäckträger, in seiner Begleitung, in das Haus des alten Quartermasters Hamke, am Fuße der Treppe, tragen. Der schön geputzte Laden der Besitzerin strahlte im hellen Lichterglanz, und sie war mit Hilfe einer Verkäuferin sehr beschäftigt, alle die Leute zu befriedigen, die noch in letzter Stunde Christgaben für ihre Lieben auswählten. Unbemerkt schlüpfte der Offizier mit seinem Begleiter in das ihm wohlbekannte Besuchszimmer des Hauses, in dessen Mitte ein hoher, reich verzierter Christbaum stand.

»Den hat der gute Alte für Marie angeputzt,« dachte Erich, den der Leser wohl längst in dem schmucken, gebräunten Leutnant erkannt haben wird, »jetzt holt er sie sicher vom Oberlande in meinem elterlichen Hause ab, und ich kann eiligst eine kleine Überraschung für ihn anbringen.«

Von dem Gepäckträger unterstützt, öffnete er mit einem kleinen Schraubenzieher die lange, schmale Kiste und entnahm ihr sein eigenes, wohlgetroffenes Bild, das fast in Lebensgröße in der kleidsamen Leutnantsuniform aus schön vergoldetem Rahmen gar stattlich hinter dem dunkeln Tannenbaum hervorblitzte. Ja, Erich verstand es, allen seinen Lieben große freudige Überraschungen zu dieser Weihnachtsfeier zu bereiten, nachdem sein guter Kommandeur ihn selbst durch die unverhoffte Urlaubsgewährung so hoch beglückt hatte. Niemand sollte daheim von seiner Landung in England etwas erfahren, das hatte er fest beschlossen. Er reiste nach herzlichem Abschied von Vorgesetzten und Kameraden von Portsmouth nach London, und eingedenk der von seiner Mutter wiederholt ausgesprochenen Bitte, sich in dem ersten größeren Hafen, wo das möglich, doch recht bald photographieren zu lassen, erkundigte er sich im Hotel gleich nach dem besten Atelier in der Nähe. Der Künstler mußte ihm versprechen, binnen drei Tagen drei große Bilder von ihm anzufertigen, die er für seine Eltern, den alten Hamke und für seinen einstigen Lehrer in Goslar als Christgeschenke mitnehmen wollte. Seine Bestellung wurde auch ganz vorzüglich und sehr pünktlich ausgeführt, und er benutzte die Wartezeit, um die interessante Riesenstadt gründlich zu besehen und in den wunderschönen Kaufläden viele hübsche und nützliche kleine Gaben für all seine Lieben in der Heimat und für seine Kameraden auszuwählen, denn zu seinem Gehalt hatte er auch wiederum bedeutende Prisengelder, besonders für die »Sylphide« erhalten, die er nun zum Teil für andere verwendete.

Die schönste Überraschung und Freude für seine Familie und Freunde auf Helgoland war aber natürlich sein so ganz unerwarteter Besuch. Ganz leise schlich er sich in das Schweizerhaus am Felsenhang, öffnete unbemerkt das beste Zimmer, wo er, wie zur Kinderzeit, sein Mütterchen beim Anputzen des Christbaumes vermutete und hatte sich nicht getäuscht, sie wendete der Tür gerade den Rücken zu und schrie laut auf, als zwei starke Arme sie plötzlich umschlangen, und eine liebe, wohlbekannte Stimme jubelnd rief: »Da hast du deinen großen Jungen wieder, du liebe Mama, ich komme gerade zur rechten Zeit, zum lang entbehrten deutschen Weihnachtsbaum!«

»Mein Erich, mein Liebling!« sagte sie immer wieder und küßte unter Freudentränen das tief zu ihr herabgebeugte Antlitz, das die Sonne der Tropen bis auf die weiße Stirn so arg gebräunt hatte.

»Warum hast du denn so lange nicht geschrieben, du böser Liebling? Gerade eben suchten dich meine wehmütigen Gedanken im fernen schwarzen Weltteil, und es betrübte mich, daß niemand einen Christbaum für dich schmücke.«

»Weil Weihnachten das Fest der Überraschungen ist, das hast du, liebe Mutter, uns ja stets gelehrt, als wir Kinder waren und es uns so schwer wurde, unsere kleinen für das ersparte Taschengeld gekauften Gaben geheimzuhalten. Schwer genug ist's mir selbst jetzt geworden, mein Geheimnis nicht auszuplaudern, das ich übrigens erst vor sechs Tagen in Portsmouth erfuhr. Eine stille Hoffnung, daß der gütige Kapitän mich für kurze Zeit zu euch schicken würde, hatte ich wohl auf der ganzen Reise von Lagos nach England, aber es war ja keine Gewißheit, die konnte erst die Admiralität geben. Und nun sag' selbst, Mütterchen, ist es nicht hübsch, wenn wir den Baum angezündet haben und der Papa und Helga hereintretend, mich plötzlich beim strahlenden Kerzenschein erblicken?«

»Mit Helga wollen wir es so einrichten, mein Erich, aber den Papa könnte die große Überraschung für die Nacht zu sehr aufregen, ihn muß ich jedenfalls vorbereiten!«

»Ich dachte, die Freude würde ihm guttun,« sagte der junge Seemann, »geht es ihm denn nicht mehr so gut wie vor zwei Monaten, als ich deinen letzten Brief in Lagos erhielt?«

»Nein, mein Liebling, der Arzt sagt freilich, daß es nicht besorgniserregend sei, aber er leidet wieder sehr an Atemnot, da er die rauhen Nordostwinde der letzten Zeit nicht vertrug und meistens im Zimmer bleiben muß. Aber nun will ich dich vor allem auf die kalte Reise mit heißem Kaffee stärken und den Papa benachrichtigen; Helga ist mit Hamkes Marie bei des Gouverneurs Töchtern und kommt erst um sechs Uhr, wenn ich, wie alle Jahre, den Baum anzünde, von den drei Freundinnen begleitet, heim. Das wird ein Jubel sein, wenn sie den großen Bruder erkennt, du bist ja ein wahrer Riese geworden, mein Erich, und die prächtige Uniform dazu verrät mir den Leutnant!«

Ja, das war ein Jubel, wie er nie zuvor im Schweizerhause stattgefunden hatte, selbst das ernste Antlitz des Vaters sah heute glückstrahlend aus, wenn er bald seinen einzigen Sohn, bald dessen schönes, so ähnliches Bild betrachtete, während Erich seine Kisten öffnete und all die mitgebrachten Schätze verteilte, für jedes der jungen Mädchen hatte er eine hübsche Kleinigkeit, selbst die alte Köchin war nicht vergessen worden. Am meisten aber hatte er Helga beglückt, da er für sie eine reizende, kleine Taschenuhr gewählt, die ihr natürlich in der nächsten Nacht den Schlaf kostete, denn sie hielt dieselbe immer wieder ans Ohr, um sich zu überzeugen, ob sie wirklich fortticke. Aber ehe die glückliche Familie die Nachtruhe aufsuchen konnte, kam spät abends noch der alte Hamke ins Schweizerhäuschen, obgleich ihm die hohe, steile Treppe zum Oberland bei dem heftigen, kalten Winde nicht leicht wurde. Die Freude beim Anblick des Bildes von seinem geliebten, einstigen Zögling, das er unter dem Christbaume so unerwartet entdeckte, hatte ihn ganz überwältigt, und als ihm Marie dann über die unverhoffte Heimkehr des ferngeglaubten, jungen Offiziers berichtete, konnte er nicht widerstehen und unternahm, sobald die Kerzen des Christbaumes erloschen, noch zu später Stunde den mühseligen Weg ins Oberland.

Erich lief ihm jubelnd entgegen, und als er ihn mit dem Rufe: »Da bin ich wieder, Vater Hamke, und Ihnen ganz über den Kopf gewachsen,« in die starken Arme schloß – da glänzten Freudentränen in den guten, alten Augen, und er versicherte, daß dies der schönste Weihnachtsabend seines Lebens sei.

Ganz Helgoland nahm innigen Anteil an der Freude im Doktorhause, und aller Augen waren auf den schmucken Seemann mit dem biedern, strahlenden Antlitz gerichtet, der am ersten Feiertag zwischen Mutter und Schwester aus der Kirche trat, und alle lieben Bekannten herzlich begrüßte, um dann dem Gouverneur seine Aufwartung zu machen, dem er schon in der Frühe eine sinnreiche Christgabe gesandt, die er eigenhändig verfertigt hatte. Viele Monate arbeitete er in seinen Freistunden an dem reizenden Modell der »Viktoria«, das mit seinen sechzehn kleinen, messingenen Kanonen, die er in London dazu kaufte, genau das schöne Kriegsschiff darstellte, auf dem er vor vier Jahren durch des Gouverneurs Vermittlung angestellt und so glücklich wurde.

»Willkommen, mein lieber Leutnant,« rief ihm der gütige Freund seines Vaters entgegen, »herzlich willkommen, ich bin sehr erfreut, über die Berichte, die mir mein Jugendfreund Ellis stets über dich gesandt hat, ebenso über deine hübsche, geschickte Arbeit dort, das prächtige, kleine Schiff. Du hast uns allen eine liebe Überraschung durch deinen unerwarteten Besuch gemacht, ich bedaure nur, daß meine beiden Söhne dich nicht sehen können, sie stehen noch immer bei ihrem Regiment in Indien; dein Vater wird gewiß gesund vor Freude über seinen tapferen Sohn und angehenden Admiral einer Fregatte Ihrer Majestät der Königin!«

»Das werde ich niemals, Exzellenz,« erwiderte Erich errötend, und ein leichter Schatten flog über sein frisches, glückliches Antlitz bei dem Gedanken, daß der Gouverneur und vielleicht auch sein Vater über seine geheimen Zukunftspläne sehr verstimmt sein würden. Als aber die Mutter ihm einige Tage später vollkommen beigestimmt, teilte er, von ihr ermutigt, auch dem Papa mit, daß es sein höchster Wunsch sei, früher oder später den englischen Dienst zu verlassen und sich um eine Anstellung beim »Norddeutschen Lloyd« zu bewerben. Da war denn seine Freude sehr groß, als er auf gar keinen Widerstand stieß, und der Vater völlig damit einverstanden war; er verhehlte ihm freilich nicht, daß er eine glänzendere Laufbahn in der englischen Kriegsmarine damit verscherze, freute sich aber offenbar sehr darüber, daß die deutsche Vaterlandsliebe seinem Sohne über Ruhm und Ehre ging. Auf Erichs ausgesprochene Besorgnis, daß es ihm schwer werden würde, bei dem großen Andrange zu den Lloydoffiziersstellen berücksichtigt zu werden, erzählte ihm der Papa, daß er den Direktor des »Lloyd«, Herrn Crüsemann, im vergangenen Sommer flüchtig in einer Gesellschaft beim Gouverneur kennen gelernt habe und demselben baldigst schreiben und anfragen wolle, ob Aussicht für Erich sei, wenn sein Name jetzt auf die Liste käme, in nicht gar zu ferner Zeit als vierter Offizier eintreten zu können.

»Wenn es dir recht ist, lieber Papa,« erwiderte Erich, »versuche ich mein Glück jetzt gleich persönlich, ich bin nun alt genug, um selber zu handeln, und muß mich nicht mehr wie vor vier Jahren auf die Fürsprache anderer verlassen. Ich habe den Plan, am Donnerstag nächster Woche nicht über Hamburg nach London zu reisen, sondern mit dem Lloydpostdampfer am Sonnabend von Bremerhaven nach Southampton, von dort bin ich in einer Stunde mit der Bahn in Portsmouth und kann am Dienstag, wenn mein Urlaub abgelaufen ist, daselbst eintreffen. Am Freitag möchte ich dann versuchen, Direktor Crüsemann selbst zu sprechen und ihn über meine Aussichten für die Zukunft zu befragen.«

Doktor Walder billigte diese Idee sehr, und der treue Vater Hamke ließ es sich nicht nehmen, den jungen Offizier, den er als sechzehnjährigen Knaben nach Hamburg geleitete, dieses Mal in seiner Schaluppe nach Bremen zu bringen. Auch der brave, alte Helgoländer hatte ein echtes deutsches Herz; es freute ihn, daß der junge Mann, den er ebenso sehr liebte wie seine Pflegetochter Marie, deutsch sein und bleiben und dem teuren Vaterland seine Kräfte widmen wollte. Der Abschied wurde allen Beteiligten dieses Mal nicht so schwer wie vor vier Jahren, da diese Reise ja nicht in so weite Ferne, nur bis zum Mittelländischen Meere ging, und die Eltern hofften sehr, daß Erichs Vorsatz, nur noch ein Jahr in englischen Diensten zu bleiben, durchgeführt werden könne.

Am Freitag früh traf der junge Offizier mit seinem alten Freunde in der berühmten, alten Hansastadt Bremen ein; letzterer besah die prächtige Ansghariikirche, während Erich in das danebenliegende, großartige Direktionsgebäude des »Norddeutschen Lloyd« ging, um sich ein Billett für den am andern Morgen von Bremerhaven nach Southampton und New York abfahrenden Dampfer zu lösen. Er übergab einem Diener seine Karte mit dem Ersuchen, den Direktor zu fragen, ob er ihn wohl einige Augenblicke sprechen könne, und stand bald darauf mit klopfendem Herzen dem Manne gegenüber, in dessen Händen die Erfüllung seiner Zukunftspläne lag. Die gewinnende Erscheinung des jungen Offiziers machte offenbar einen sehr angenehmen Eindruck auf Direktor Crüsemann, er bot ihm einen Sessel an und fragte freundlich, nicht im gewöhnlichen, kurzen Geschäftstone, nach seinen Wünschen.

»Ich komme mit der Frage zu Ihnen, Herr Direktor, ob es möglich ist, mich als vierten Offizier beim ›Norddeutschen Lloyd‹ anzustellen?« sagte Erich freimütig. Der Direktor blickte auf die Visitenkarte in seiner Hand, »wie kommen Sie zu diesem Wunsche, junger Mann?« fragte er überrascht, »Sie sind der zweite Adjutant des Vizeadmirals Ellis, eines so hervorragenden, englischen Seemannes, mit dem ich zufällig vor sechs Jahren in England bekannt wurde. Das ist in Ihrem Alter eine Auszeichnung; warum wollen Sie denn eine vielleicht glänzende Karriere verlassen und die weit untergeordnetere Stellung eines vierten Offiziers der deutschen Handelsmarine übernehmen?«

»Weil ich ein Deutscher bin, Herr Direktor, in den grünen Harzbergen geboren, und mein deutsches Vaterland über alles liebe. Wohl verehre ich Admiral Ellis wie meinen zweiten Vater, und die Trennung von ihm wird mir, wenn Sie meine Wünsche erfüllen können, unendlich schwer werden,« fügte er, mit zitternd erregter Stimme bei dem Gedanken daran, hinzu, »aber ich habe höhere Pflichten für mein deutsches Heimatland und meine Familie zu erfüllen. Mein Vater, Doktor Walder auf Helgoland, ist sehr herzleidend, auch meine arme Mutter schwächlich, sie beide, wie meine junge Schwester, bedürfen meiner Stütze, meines starken Armes; ich weiß, daß es ihnen allen ein Trost sein würde, wenn ich nicht immer für lange Jahre in so weiter Ferne in englischen Diensten bin.«

»Sie sind ein braver Sohn, ein echter Deutscher,« rief der wohlwollende Direktor und reichte ihm herzlich die Hand, »vorigen Sommer habe ich Ihren kranken Vater kennen gelernt, und stände es in meiner Macht, so würde ich Sie mit Freuden im Dienste des ›Norddeutschen Lloyd‹ willkommen heißen, aber für jetzt kann es leider nicht sein, denn alle Stellen sind besetzt. Das aber verspreche ich Ihnen, Herr Walder, Sie sollen nicht vergessen werden; wir werden in diesem Jahre mehrere große transatlantische Dampfer bestellen, hoffentlich sehr bald eine zweite amerikanische Postlinie nach Baltimore eröffnen, dann will ich Ihren Wunsch erfüllen. Sehen Sie diese Liste,« fügte er hinzu, ein Blatt Papier von seinem Arbeitstisch nehmend, »hier stehen neunundvierzig Offiziersaspiranten verzeichnet, die auf eine Anstellung hoffen, ich setze sofort Ihren Namen an die Spitze. Sie sollen der erste sein, den ich in etwa fünfzehn Monaten berücksichtigen werde, wenn Ihre Wünsche dann wirklich noch dieselben sind. Ich glaube aber, daß Ihr heutiger Besuch eine Übereilung infolge des Wiedersehens ihrer Eltern ist.«

»Gewiß nicht, Herr Direktor!« versicherte Erich aufstehend, »es sind jetzt vierzehn Tage her, als Admiral Ellis mich in Portsmouth mit der Erlaubnis, nach Helgoland reisen zu dürfen, hoch beglückte und gleichzeitig zu seinem Adjutanten ernannte. An jenem Tage schon wollte ich ihm meinen Wunsch, in deutsche Seedienste zu treten, der mich seit meinem zwölften Jahre beseelt, mitteilen, aber der kommandierende Admiral trat gerade herein, und ich wurde entlassen, auch wußte ich ja noch nicht, ob Sie mich jemals anstellen würden.«

»Ich gebe Ihnen dieses Versprechen mit freudigem Vertrauen, Herr Leutnant, melden Sie sich in etwa einem Jahre wieder brieflich bei mir.«

Erich empfahl sich hochbeglückt, um seinem draußen harrenden, alten Freunde die gute Botschaft für seine Eltern zu verkünden, und am nächsten Morgen führte er ihn, als Passagier des Dampfers »Amerika«, in den großen, luftigen Kajüten umher und winkte ihm die letzten Abschiedsgrüße zu, als das stolze Schiff einige Stunden später, unter den Klängen eines fröhlichen Marsches von der vortrefflichen Schiffskapelle, die Reise über den Ozean antrat.

Direktor Crüsemann hielt Wort, fünfzehn Monate später nahm der junge Adjutant Abschied von seinem geliebten Admiral und den Kameraden, nachdem er eine sehr glückliche Zeit im Mittelmeere verlebt, mit seinem Gebieter die zaubervolle Riviera und viele Häfen des herrlichen Italiens und Spaniens besucht hatte. Die Liebe, welche der Admiral seit Jahren für den biedern, jungen Deutschen hegte, wurde durch die Hochachtung für dessen Patriotismus und Sohnesliebe nur noch vermehrt, als Erich ihm freimütig, bald nach der Rückkehr von seinem Besuche beim Direktor des »Norddeutschen Lloyd« und den Beweggründen, die ihn hingeführt, erzählt hatte. Es tat ihm fünfzehn Monate später, als die Abschiedsstunde kam, ebenso leid, sich von ihm zu trennen wie dem zum obersten Kadetten avancierten Milford, der sich gar nicht darein finden konnte, daß er nun ohne seinen Freund und Lebensretter weiterleben müsse, und in der ersten schmerzlichen Überraschung auf den tollen Einfall kam, sich ebenfalls bei der Direktion des »Norddeutschen Lloyd« um eine Anstellung bewerben zu wollen, was ihm Erich aber als aussichtslos darstellte und ihn daran verhinderte.

*

Acht Jahre waren seitdem vergangen, acht große, halb Europa erschütternde Jahre – was der patriotische Lehrer in der alten Reichsstadt Goslar seinem Schüler so lange schon prophezeit, was zum höchsten Herzenswunsch des feurigen, jungen Seemannes geworden, ihn auf fernen Meeren, bei einsamer Nachtwache, so oft beschäftigt hatte – das war in Erfüllung gegangen. Der von seinem König zum Fürsten ernannte, größte Mann unserer Zeit – der eiserne Reichskanzler von Bismarck – der Mann von Blut und Eisen – wie seine Feinde ihn nannten – war zum Baumeister des neuen Deutschen Kaiserreiches geworden. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts hatte der französische Tyrann, Napoleon I., der idealsten deutschen Frau, der edlen, von ihrem Volke vergötterten Königin Luise das Herz gebrochen, und ihrem hochherzigen Sohne, König Wilhelm, war es um die zweite Hälfte des Jahrhunderts vorbehalten, mit seinen Ratgebern Bismarck und dem Schlachtenlenker Moltke das Deutsche Reich wieder aufzurichten. Auch der zweite Kaiser Napoleon zwang das deutsche Volk in frevelhaftem Übermut zum blutigen Kriege und bereitete sich selbst dadurch den Untergang – aus den Trümmern des französischen Reiches ging der wiedererrichtete deutsche Kaiserthron hervor. – Wohl nie zuvor hat Berlin, die Reichshauptstadt, hat ganz Deutschland solchen Jubel erlebt, als damals, wie Königin Luisens Heldensohn von allen deutschen Fürsten einstimmig zum Oberhaupte gewählt, als Kaiser Wilhelm I. an der Spitze der siegreichen deutschen Heere aus Frankreich heimkehrte und, mit fester Hand, vom großen Reichskanzler unterstützt, die Zügel des bald immer mächtiger werdenden Deutschen Reiches ergriff.

Der schönste Traum seiner Jugendjahre war zur Wirklichkeit geworden, daran dachte mit dankerfülltem Herzen der junge Kapitän eines großen, deutschen Lloyddampfers auf hoher See, als er sein stolzes Schiff nach Amerika führen wollte. Wohl flog mitunter ein trüber Schatten über seine treuherzigen, männlichen Züge, wenn sein Blick auf den schwarzen Kreppstreifen an seiner Uniform fiel, es war ja erst so kurze Zeit vergangen, seit die Trauerbotschaft ihn in New York erreichte, daß Gott seinen teuren Vater heimgerufen, daß ein Herzschlag ihn plötzlich von langjährigen Leiden befreit hatte. Aber es war ihm noch vergönnt gewesen, die ganze, große Zeit zu durchleben, die Wiedererstehung des Deutschen Kaiserreichs beglückte sein patriotisches Herz unendlich, und dazu freute er sich so innig darüber, daß sein Erich sich alle diese Jahre hindurch im Dienste des »Norddeutschen Lloyd« so befriedigt fühlte. Der Direktor hatte ihm persönlich wiederholt bei seinen kurzen Besuchen auf Helgoland Glück gewünscht zu seinem braven, tüchtigen Sohne, der binnen wenigen Jahren die drei untersten Rangstufen überstanden und nun schon lange als erster Offizier auf verschiedenen großen, transatlantischen Dampfern gefahren war.

Nun war es bald ein Jahr, da wurde im Schweizerhause auf Helgoland ein Doppelfest gefeiert – die Verlobung Erichs mit Marie, der Pflegetochter seines alten Freundes Hamke, und Helgas mit dem Sohne des Predigers auf der Insel, der, nachdem er Theologie studiert, sich entschlossen hatte, als Missionar nach Afrika zu gehen, um die armen Heiden die christliche Religion der Liebe zu lehren. Am Abend dieses schönen Festes traf ein Brief der Lloyddirektion ein, der das allgemeine Glück noch vermehrte, durch die überraschende Nachricht, daß der Verwaltungsrat in seiner letzten Sitzung einstimmig den ersten Offizier, Herrn Erich Walder, trotzdem er das vorgeschriebene dreißigste Jahr noch nicht ganz erreicht, zum Kapitän des Lloyddampfers »Weser« ernannt habe. Das war eine ganz unverhoffte Freude, und als alle den jungen Kapitän beglückwünschten, rief er fröhlich: »Hätte ich doch nicht heute früh, als Vater Hamke uns seinen Segen gab, ihm versprochen, noch einige Jahre zu warten und dich den Pflegeeltern noch ein wenig zu lassen, meine Marie, denn nun möchte ich am liebsten, daß wir gleich morgen unsere Hochzeit feiern könnten, und dann um Erlaubnis bitten, dich auf meiner ersten Reise als Kapitän mitnehmen zu dürfen.«

»Die würde der Verwaltungsrat dir schwerlich geben, mein Sohn,« sagte Doktor Walder, »erst mußt du dir deine Lorbeeren als junger Schiffskommandant verdienen, außerdem ist die Brautzeit für ein junges Mädchen die schönste ihres Lebens, gönne sie Marie nur einige Jahre, und wenn dann unser Missionar die Gattin nach dem schwarzen Weltteile holt, wo du deine ersten Heldentaten verrichten durftest, dann feiern wir, so Gott will, eure frohe Doppelhochzeit.«

Wie lebhaft erinnerte sich der junge Kapitän auf dem Atlantischen Ozean seines Vaters, und nun ruhte er schon seit Wochen unter dem grünen Hügel des Friedhofes neben der Kirche von Helgoland, den Marie und Helga, wie sie ihm geschrieben, stets mit frischen Blumen schmückten und auf Erichs Anordnung mit einem prächtigen Marmorkreuze versehen hatten.

»Wie wird die arme Mutter diesen schweren Schlag ertragen!« so dachte der junge Kapitän auf fernem Meere, das seit einer Stunde durch heftigen Wind wild bewegt wurde. »Wenn nicht alle Anzeichen trügen, bekommen wir heute nacht einen schweren Sturm,« sagte er zu seinem ersten Offizier, »Gott bewahre uns vor Unglück mit den fünfhundert Passagieren, wir müssen auf unserer Hut sein, es ist ein Glück, daß wir eine so starke Maschine und tüchtige Ingenieure und Zimmerleute an Bord haben.«

Seine Befürchtung ging bald genug in Erfüllung, es brach ein so furchtbares Unwetter los, wie er es noch nie auf einem Lloyddampfer erlebt hatte, mit der ganzen Energie seines Charakters kämpfte er mit Hilfe seiner Leute gegen den Orkan und die turmhohen Wogen, und verließ die Kommandobrücke nur dann und wann auf fünf Minuten, um den angsterfüllten Passagieren Mut einzusprechen. »Fürchten Sie nichts, meine Herrschaften, legen Sie sich ruhig nieder,« redete er ihnen zu, »wir haben ein festes Schiff, und die Maschine besitzt die Kraft von zweitausend Pferden, wenn der Mond um zwölf Uhr aufgeht, wird sich der Sturm, so Gott will, legen, und wir kommen glücklich hindurch.«

Seine große Ruhe, die Güte und Menschenfreundlichkeit des starken Seemannes, der für alle seine Schutzbefohlenen, auch für die armen Auswanderer im Zwischendeck, stets eine warme Fürsorge, ein freundliches Wort hatte, flößte sowohl den Passagieren wie den Untergebenen eine große Verehrung, ein unbegrenztes Vertrauen zu dem jungen Kapitän ein. Sie wußten, daß er die ganze Nacht für sie auf der Kommandobrücke wache und alles für ihre Sicherheit geschehe, was in menschlicher Macht stand, und suchten beruhigter ihre Kabinen auf. Die ganze Nacht hindurch heulte der Sturm, und donnernd schlugen die Wogen über das Schiff und rissen das ganze Navigationszimmer mit Karten und Instrumenten mit sich über Bord. Wohl floh der Schlaf jedes Auge, manch angstvolles Gebet aus schwachen Frauenherzen stieg empor zu dem allmächtigen Lenker dort oben, der Sturm und Wogen in seiner Hand hat, – aber all die fünfhundert Menschen hielten die Nacht über ruhig unten aus, wie der Kapitän es gewünscht, sie wußten ja, daß von Gott und ihm und seiner Umsicht ihre Rettung abhing.

Da plötzlich, gegen Morgen, erschütterte ein furchtbarer Stoß – ein Krach das ganze Schiff, es schien einen Moment ganz still zu liegen, dann wurde es von den Wogen bald rechts, bald links geworfen, und mit furchtbarem Angstgeschrei stürzten gleich darauf Männer und Frauen aus der zweiten Kajüte, zum Teil in Nachtkleidern, die Treppe hinauf mit den Rufen: »Wasser im Schiff, Hilfe, Rettung!«

Kapitän Walder war bei der heftigen Erschütterung des Schiffes sofort mit den Ingenieuren in den Maschinenraum hinuntergeeilt, und bald entdeckten sie, daß der linke Schraubenflügel, welcher die Fortbewegung des Dampfers bewirkt, gebrochen und dadurch ein Leck im Schiffskiel entstanden war, durch welches das Wasser mit solcher Schnelligkeit eindrang, daß es schon alle beweglichen Sachen in der zweiten Kajüte umhertrieb.

»Wenn Gott nicht ein Wunder tut, sind wir verloren,« flüsterte Erich dem ersten Offizier ins Ohr, denn niemand durfte oben die Schreckensbotschaft erfahren, sonst wäre das Entsetzen und die Verwirrung aufs äußerste gesteigert worden. »Wir müssen sofort mit eisernen und eichenen Planken den Teil des Schiffes, wo das Leck ist, absperren,« befahl er den Ingenieuren und Zimmerleuten, »rufen Sie die ganze Besatzung zu Hilfe, nur die Deckwache bleibt oben, dann gilt es vor allem, die Menschen von dieser Seite fort auf das Vorderteil des Schiffes zu bringen, ich werde das sogleich mit dem vierten Offizier besorgen.«

Mit dem stillen Gebete: »Hilf Du vor allem, allmächtiger Gott!« lief er an Deck, und mit größter Ruhe und Geistesgegenwart bat er die dort in der Dämmerung des anbrechenden Tages jammernd umherlaufenden Passagiere, um ihrer eigenen Sicherheit willen, ruhig zu sein und sämtlich in die Säle und Gänge der ersten Klasse zu gehen. Die Macht seiner vertrauenerweckenden Persönlichkeit tat auch diesmal Wunder: die meisten folgten seinen Anordnungen, und ein amerikanischer General, ein hervorragender Prediger, sowie ein deutscher Arzt, mit denen er leise gesprochen, unterstützten ihn nach Kräften. Sie versammelten besonders die jammernden Frauen und Kinder um sich in den großen Speise- und Lesesälen erster Klasse, sprachen ihnen ermutigend zu und lasen ihnen abwechselnd Gebete vor.

Der Kapitän war bald unten im Raum, um die Mannschaften zu angestrengter Arbeit und Eile anzufeuern und umsichtige Anordnungen zu treffen, dann erschien er wieder für wenige Minuten im großen Salon und sagte ernst zu den ihn angstvoll umringenden Frauen: »Flehen Sie zu Gott, daß der Sturm sich legt, dann kann noch alles gut werden!« Als er die Treppe hinaufstieg, hörte er furchtbares Geschrei und Umherlaufen auf Deck, und der wachhabende vierte Offizier stürzte ihm mit der Meldung entgegen, daß ein junger Herr, Passagier der zweiten Kajüte, der seit mehreren Stunden große Aufregung gezeigt, wahrscheinlich in einem Anfall von Geistesverwirrung über Bord gesprungen sei. Ein schmerzlicher Ausdruck flog über des Kapitäns ernstes Antlitz, als er zu einer Gruppe von erregten Menschen am Bug des Schiffes tretend, vergeblich nach dem Unglücklichen spähte, in der Hoffnung, daß er vielleicht noch durch Zuwerfen von Tauen gerettet werden könne, denn es war ja unmöglich, bei den turmhohen Wogen ein Boot herunter zu lassen, um nach ihm zu suchen. Aber nirgends war eine Spur von ihm zu entdecken, erbarmungslos hatte die brüllende See ihr Opfer verschlungen.

»Er hat es kurz gemacht und schnell die Qual überstanden,« hörte Erich einige Schritte entfernt einen furchtbar aufgeregten Herrn sagen, »ich werde seinem Beispiele folgen und weiß einen noch bessern Weg, dieser langen Todesqual zu entgehen, mein Kamerad liegt unten in der Kabine sinnlos betrunken und schläft jetzt, er wird aber doch zur schrecklichen Wirklichkeit erwachen, ich wähle die sichere Kugel!«

In diesem Augenblick entriß ihm der Kapitän mit Blitzesschnelligkeit den Revolver, den er bei diesen Worten aus der Tasche gezogen hatte, faßte ihn unter den Arm und sagte mit ruhiger Entschiedenheit: »Sie sind krank, mein Herr, es ist meine Pflicht, Sie der Fürsorge des Arztes zu übergeben.« – Als das geschehen, befahl er dem Obersteward, sämtliche geistige Getränke streng zu überwachen, niemand mehr als eine Flasche Wein zu verabfolgen, dann lief er wieder zu den hundertundfünfzig Arbeitern, die mit großem Erfolg unten im Schiffsraum den linken Teil des Schiffes von dem andern wasserdicht abschlossen.

Und Gott erhörte die heißen Gebete der Schiffbrüchigen, der Sturm legte sich plötzlich gegen Abend, und der Kapitän ließ mehrere Fässer Öl auf die empörten Wogen gießen, die sich allmählich glätteten; dann wurde auf seinen Befehl ein großes Feuer von Teer und Öl auf Deck angezündet, und mit seinem ruhigen, freundlichen Antlitz trat er mit den Worten in den großen Salon: »Meine Herren und Damen, die Gefahr ist vorüber, das Wasser ist abgesperrt, beunruhigen Sie sich nicht mehr und suchen Sie nach der großen Aufregung den Schlaf in Ihren Kabinen. Mit Gottes Beistand wird uns irgend ein anderer Dampfer zu Hilfe kommen, wenn seine Besatzung unser Notsignal sieht, und uns ins Schlepptau nehmen, denn unsere Schraube ist gebrochen, mit eigener Dampfkraft können wir keinen Hafen erreichen.«

Seine unerschütterliche Ruhe flößte den erregten und zugleich erschöpften Passagieren wiederum so viel Vertrauen ein, daß sie sich angekleidet auf ihr Lager legten, mit der Überzeugung, daß ihr sicherer Führer die Wahrheit gesprochen. Sein Gottvertrauen hatte ihn nicht getäuscht, denn gegen drei Uhr morgens beleuchtete das immerwährend brennend erhaltene Notsignal einen herannahenden, großen, amerikanischen Dampfer, den der Kapitän mit einem innigen »Gott sei Dank!« entdeckte. Bei Tagesanbruch ließ er ein langes Drahtseil in das größte Rettungsboot bringen, es wurde aufs Wasser gelassen, mit tüchtigen Matrosen bemannt, und der erste Offizier fuhr damit, nicht ohne Gefahr, auf der noch immer wild bewegten See, zu dem in vorsichtiger Entfernung liegenden Amerikaner, der den verunglückten Lloyddampfer binnen sechs Tagen nach Irland schleppte. Wohl verlangte er eine ungeheure Summe für diesen Dienst – fast eine Million –, aber sie wurde ihm bereitwillig von der Lloyddirektion ausgezahlt, denn mehr als sechshundert Menschenleben waren ja dadurch gerettet, und dazu das kostbare Schiff. Als dasselbe langsam im Hafen von Queenstown einlief, prangte eine dort vor Anker liegende englische Kriegsfregatte im Flaggenschmuck. Die Besatzung war in Parade aufgestellt, und die Musikkapelle spielte zu Ehren der schiffbrüchigen Deutschen »die Wacht am Rhein«. Der Admiral kam sofort an Bord und bot Kapitän Walder, der ihm von seiner englischen Dienstzeit her wohl bekannt war, sein Haus als Wohnstätte und das englische Admiralitätsdock zur Reparatur des Dampfers an. Die geretteten Passagiere aber ließen dem braven, allverehrten Kapitän durch den amerikanischen General eine Dankadresse überreichen, worin sie ihm den innigsten Dank für seine Umsicht, Geistesgegenwart und Fürsorge aussprachen, ebenso der ganzen Besatzung für die musterhafte Haltung und Ausdauer bei angestrengter Arbeit in furchtbarer Lebensgefahr. Auch seine Vorgesetzten drückten ihm ihre vollste Zufriedenheit über seine Anordnungen bei dem schweren Unglück aus, und das war sein Trost, als er nun monatelang in der Fremde die große Reparatur des Dampfers überwachen mußte. –

Ein Jahr später machte er die Hochzeitsreise mit seiner geliebten Marie nach Goslar, um dem treuen Lehrer seiner Kindheit die Gattin vorzustellen und mit ihm die alte, herrliche Kaiserworth zu bewundern, die bald nach der Wiedererstehung des Deutschen Kaiserreiches restauriert, in ihrem alten Glanze hergestellt und mit reichen Freskomalereien aus der Geschichte Deutschlands von der Hand des berühmten Künstlers Professor Wislicenus geschmückt wurde. – Darauf reiste das glückliche, junge Paar nach Berlin, nur um im Opernhause, oder mittags an dem bekannten Eckfenster des Kaiser Wilhelm-Palais, »unter den Linden«, die ehrwürdige Gestalt des geliebten, alten Heldenkaisers zu sehen. Wenn dann die Wache vorüberzog, der Vorhang gelüftet und das greise Haupt freundlich grüßend sichtbar wurde, dann stimmte der deutsche Kapitän im lauten Kommandotone das donnernde Hurra an, in das Hunderte von Menschen aller Stände einstimmten, die vornehmsten Damen und die geringsten Arbeiter, wie die Schulkinder mit der Büchertasche, die jeden Mittag am Denkmal des großen Friedrich, trotz Sonnenbrand, oder Sturm und Regen, geduldig aus diesen Augenblick warteten.

Von Berlin reiste das junge Paar für mehrere Monate nach Schottland, in Greenoek sollte der Kapitän den Bau eines großen, prächtigen Dampfers beaufsichtigen, dessen Kommando ihm bestimmt war, eine schöne Zeit, in welcher ihn der Dienst nur einen Teil des Tages von seiner jungen Gattin fernhielt, und sie so viel beisammen sein durften. Wie oft dachte die junge Frau später an diese glücklichen Monate zurück, wenn sie ihn nur selten für wenige Tage in dem hübschen Heim bewirten konnte, das die Pflegeeltern für das junge Paar in Bremerhaven eingerichtet hatten. Es war ja so herrlich, im eigenen Hause für den Gatten zu wirtschaften, aber wenn er fort war, wurde es ihr doch viel zu einsam dort, und sie reiste am selben Tage, wenn sein Schiff in See ging, mit der Post nach Cuxhaven, und dort holte sie Vater Hamke meistens selbst in seiner Schaluppe ab, wenn die Gicht, welche ihn jetzt im Alter häufig plagte, es nur irgend gestattete. Herz und Pflicht fesselten die junge Frau stets an die liebe Felseninsel, wo sie den teuren Pflegeeltern und Erichs kränklicher, einsamer Mutter die letzten Lebensjahre verschönte, denn Helga war nun auch dem Gatten für lange Jahre in den fernen, schwarzen Weltteil gefolgt.

»Dieses Mal darfst du nicht in den Dezemberstürmen die Schaluppenfahrt machen, meine Marie,« hatte ihr Erich geschrieben, »es trifft sich so glücklich, daß wir, so Gott will, wenige Tage vor Weihnachten in Bremerhaven eintreffen; da mein Schiff für längere Zeit ins Trockendock zur Reparatur kommt, hoffe ich, ein bis zwei Wochen Urlaub zu bekommen, und überrasche die Mama, wie einst als englischer Leutnant, zum Christabend. Solange uns Gott die lieben Alten läßt, ist es unsere Pflicht, wenn möglich – und ich gerade an Land bin – mit ihnen auf Helgoland das Christfest zu feiern; im Januar fahren wir dann mit Vater Hamkes Schaluppe nach Bremerhaven, nehmen ihn mit und pflegen und zerstreuen ihn nach Kräften in unserm hübschen Häuschen. Er muß durchaus den neuen, stolzen Dampfer bewundern, den ich jetzt kommandiere; wie gerne zeigte ich ihn auch meiner teuren Mama, aber sie fürchtet sich ja ebenso sehr vor der bösen Seekrankheit wie Mutter Hamke und schrieb mir auch neulich, zu meinem Kummer, daß sie das liebe deutsche Vaterland wohl nie wiedersehen würde und ihre Kräfte immer mehr schwinden fühle.«

Daß dieses Weihnachtsfest das glücklichste, befriedigendste seines ganzen Lebens werden sollte, das ahnte Kapitän Walder nicht, als er diese Zeilen in New York schrieb. Acht Tage später stand er auf der Kommandobrücke, auf hohem Ozean – nicht weit von dem Schauplatze, wo einige Jahre früher, nur durch Gottes gnädige Führung, sein Schiff mit fünfhundert Passagieren und Besatzung nach dem Schraubenbruch gerettet wurde. Es wehte, wie damals, wenn auch kein Orkan, doch ein tüchtiger Sturm, und die See ging hoch, als er um drei Uhr plötzlich abseits von seinem Kurse in Nordwest eine aufsteigende Rauchsäule entdeckte. »Ich glaube, es ist Nebel, Herr Kapitän!« sagte der herbeigerufene erste Offizier – »oder irgend ein Dampfer,« fügte er nach längerer Beobachtung hinzu.

»Kein Dampfer schlägt jenen Kurs ein, wenn ihn nicht die Not dazu zwingt,« erwiderte Erich und ließ sich sein schärfstes Fernrohr aus dem Navigationszimmer bringen, und sowie er eine Weile durch dasselbe geblickt, gab er durch das Sprachrohr Befehl, mit voller Dampfkraft eiligst nach jener Richtung zu fahren. »Meine scharfen Augen trügen mich nicht, dort ist ein Schiff in Not,« sagte er, »wir müssen so schnell als möglich Hilfe bringen,« und binnen wenigen Minuten war der riesige Dampfer gedreht und steuerte nach Nordosten, wo die Rauchsäule, ohne sich fortzubewegen, immer stärker emporstieg. Schon nach einer Viertelstunde wurden die Umrisse eines großen Schiffes sichtbar, das die Notflagge aufgehißt, von Zeit zu Zeit hörte man auch Schüsse, und als der Lloyddampfer, mit Aufbietung der ganzen Maschinenkraft, näher kam – da hörte man deutlich die furchtbarsten Angst- und Hilferufe, und die deutschen Seeleute erkannten mit Entsetzen, daß der englische Dampfer in Brand geraten war, denn dichte Rauchwolken entströmten allen Luken und Fenstern.

Als er nahe genug gekommen, um, ohne Gefahr für das eigene Schiff, das Rettungswerk zu beginnen, ließ Kapitän Walder die Maschinen stoppen. »Alle Mann an Deck, alle Boote schnell herablassen!« kommandierte er mit Donnerstimme, alle Körbe, Rettungsgürtel und Seile, die an Bord waren, wurden hineingepackt und mit den kräftigsten Ruderern bemannt. Wie gerne hätte er selbst das erste, größte Rettungsboot bestiegen, aber das verbot ihm die Pflicht – ein deutscher Kapitän darf nie auf See sein Schiff verlassen – erst wenn es völlig verloren, dem Untergange nahe, darf er als der letzte von der Besatzung dem sinkenden Wrack entfliehen, um das nackte Leben zu retten. So leitete er denn, vom Deck aus, mit seiner gewöhnlichen Umsicht und Ruhe das kühne, schwierige Wagnis, – denn das war es bei der hohen See und dem starken Schneesturme. Mit Herzklopfen beobachtete er die zehn Boote und freute sich über seine tüchtigen, deutschen Seeleute, wie sie mit Riesenkraft ruderten und gegen die hohen Wogen ankämpften und dann die vor Kälte und Nässe erstarrten, so lange Stunden mit der Todesangst ringenden Menschen herunterholten von dem brennenden Schiff und mit festem Arm im rettenden, schwankenden Boote bargen.

»Laß sie glücklich zurückkehren, allmächtiger Gott!« flehte Erich und rannte die Treppe hinunter, um den Stewards und Köchen Anweisung zu geben, wo die Geretteten untergebracht werden sollten, die Betten für sie zu wärmen und heiße, stärkende Getränke in Bereitschaft zu halten.

Nach fünf Minuten war er wieder oben, und bald kam das erste Boot glücklich zurück, mit seiner Riesenkraft zog er die Körbe mit den halbohnmächtigen Frauen empor, und als eine todesbleiche Mutter mit zwei kleinen Kindern ihm zu Füßen sank und mit heißen Dankestränen des Retters Knie umklammern wollte, da nahm er gerührt die beiden Kleinen auf seine starken Arme und trug sie mit den Worten: »Danken wir Gott, daß er uns zur rechten Zeit gesandt!« hinunter ins warme Bett. Bald war er wieder oben, um ein zweites Boot mit Unglücklichen in Empfang zu nehmen, er wußte, daß die schreckliche Endkatastrophe nahe und noch so viele Menschenleben gerettet werden mußten.

Und es gelang das schöne, herrliche Werk der Nächstenliebe – der unglückliche Kapitän betrat als der letzte der englischen Besatzung das Deck des Lloyddampfers, und als er tief erschüttert Erich um den Hals fiel, mit den Worten: »Gott lohne es Ihnen, wenn Sie eine Viertelstunde später kamen, mußten hundertsiebenundvierzig Menschen verbrennen oder ertrinken!« – da erscholl ein donnerähnliches Getöse, die Flammen sprengten mit furchtbarer Explosion das Deck des brennenden Dampfers. Eine hohe Feuersäule stieg empor zu dem jetzt ganz dunkeln Nachthimmel, ein schaurigschönes Schauspiel, und Kapitän Walder sprang auf seine Kommandobrücke und gab Befehl, eiligst weiter zu dampfen, um das Schiff vor dem Feuerregen in Sicherheit zu bringen.

Als dann all die Unglücklichen, gehegt und gepflegt, ausruhten von allem Jammer und Gott und ihren Rettern aus vollem Herzen dankten, da trat Kapitän Walder mit einem Teller, auf den er selbst den ersten, bedeutenden Beitrag legte, zur Abendtafel in den großen Salon erster Klasse und veranstaltete eine Sammlung unter seinen Passagieren. Er erzählte ihnen, daß die Matrosen, Feuerleute und Auswanderer auf dem verbrannten Dampfer all ihr Hab und Gut verloren, und bald war sein Teller mit reichen Gaben gefüllt; er hatte die Freude, am andern Morgen beinahe zweitausend Mark, nebst viel Wäsche und bereitwilligst geschenkten Kleidungsstücken unter die Unglücklichen verteilen zu können.

Als dann nach vier Tagen Southampton erreicht war, wo die Geretteten das gastliche Schiff verließen, da gab es eine, für alle Augenzeugen ergreifende Abschiedsszene, wiederum wurde dem deutschen Kapitän eine warme, innige Dankadresse überreicht, mit der Versicherung, daß die hundertsiebenundvierzig Menschen, die ihm und seinen Leuten, nächst Gott, ihr Leben verdankten, niemals vergessen könnten, mit welcher Aufopferung und Fürsorge die deutschen Seeleute sich ihrer in höchster Todesgefahr angenommen und sie nachher verpflegt hätten. Ein vielfaches, donnerndes »Kapitän Walder lebe hoch!« erscholl von der Landungsbrücke – als der Lloyddampfer weiterfuhr, und dieser rief seinen dankbaren Schützlingen bewegt ein »Fröhliche Weihnachten!« zu.

»Dies ist doch wirklich der glücklichste Christabend meines Lebens,« sagte Erich einige Tage später unter dem brennenden Tannenbaum zu seinen Lieben auf Helgoland, »denkt euch nur, wie entsetzlich es hätte enden müssen, wenn ich eine Viertelstunde später das brennende Schiff entdeckt hätte. Alle jene unglücklichen Menschen mußten dann verbrennen, denn sie waren schon viel zu erschöpft, um ihre Boote herabzulassen, und bei den hohen Wogen und der anbrechenden Nacht hätten dieselben sich auch nicht halten können, wie dankbar bin ich Gott, daß er mich zum Werkzeuge ihrer Rettung machte und mir die starken Augen gab, die rechtzeitig den Rauch entdeckten.

Viel Ehre und Anerkennung von allen Seiten wurde Kapitän Walder und seiner Besatzung in den nächsten Monaten zuteil; die Eigentümer des verunglückten englischen Schiffes waren die ersten, die ihm eine kostbare Uhr mit Kette und seiner Mannschaft eine Summe Geldes übersandten. Auch Englands Königin ließ ihm eine prächtige Uhr für die Rettung ihrer Untertanen überreichen und ehrte ihn einige Monate später durch einen Besuch auf seinem Schiffe. Marie aber heftete mit gerechtem Stolze die Orden und Denkmünzen, welche Deutschlands alter Heldenkaiser und noch ein anderer regierender Fürst ihrem Gatten verliehen, an seine Uniform und hing die beiden Dankadressen der vielen geretteten Menschen, in kostbaren Rahmen, als schönsten Schmuck in ihrem Wohnzimmer auf. –

Auf der Kommandobrücke.

Und wieder sind Jahre vergangen, das Deutsche Reich ist zu einer Weltmacht emporgewachsen, und mit starker Hand sucht unser Kaiser vor allem Europa den Frieden zu erhalten, die Geißel des Krieges mit eifersüchtigen Nachbarn, mit den deutschen Erbfeinden – den Franzosen, von seinem Volk abzuwenden. Wie unser alter, teurer Heldenkaiser und sein ihm so bald in die kühle Gruft nachgefolgter hochherziger Sohn, Kaiser Friedrich, bemüht sich der dritte Hohenzollernherrscher auf dem Kaiserthrone, Deutschlands Macht, Handel und Industrie mehr und mehr zu heben, besonders durch die Schiffahrt – die Kriegs- und Handelsflotten. Wilhelm II. liebt, wie sein Seemannsbruder, Prinz Heinrich, das Meer, die Schiffe, zur Freude aller Seeleute, und gar stolze, deutsche Kriegsfregatten, Panzerfahrzeuge und Korvetten kreuzen auf allen Weltmeeren und schützen deutsche Untertanen und deutschen Handel, der eine nie geahnte Bedeutung und Ausdehnung erreicht hat. Der Norddeutsche Lloyd besonders hat dabei geholfen und ein großes Verdienst dadurch erworben.

Dieser wurde im Jahre 1857 gegründet und hat sich im Laufe der Jahre zu einer der bedeutendsten Reedereien der Welt entwickelt. Mit drei Schiffen nahm er seinen Dienst auf und heute sucht seine Dampferflotte in der ganzen Welt ihresgleichen. Stets sind die Leiter des Norddeutschen Lloyd bestrebt gewesen, über die schnellsten, sichersten und schönsten Schiffe auf dem Weltmeere zu verfügen. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte der Norddeutsche Lloyd elf Schnelldampfer aufweisen, während in der ganzen übrigen Welthandelsflotte nur neun Schnelldampfer zu zählen waren. Ueberhaupt waren es gerade die Schnelldampfer, die den Weltruhm des Lloyd schaffen und festigen sollten. Die Schnelldampfer haben ihm die größte Zahl der Passagiere gebracht. Keine andere Reederei der Welt dürfte eine solche Menge Passagiere befördert haben, etwas was sich daraus erklärt, daß für das Wohl der Passagiere auf den Lloydschiffen in einer Weise gesorgt wird, die kaum zu übertreffen ist. Jeder, der einmal auf einem Lloyddampfer gefahren ist, ist voll des Lobes über alles, was ihm auf dem Schiffe geboten wurde. Unter den reichen Amerikanern, die häufiger den Ozean kreuzen, um sich im Sommer in europäischen Badeorten aufzuhalten, gibt es viele, die schon jahrelang mit den Schiffen des Norddeutschen Lloyd ihre Reise antreten. Nicht wenige unter ihnen bestehen darauf, immer wieder mit dem gleichen Schiffe zu fahren oder gar dieselbe Kabine wieder zu bewohnen, in der sie schon mehrere Male über den Ozean fuhren. Und nicht allein der Luxus der Lloydschiffe ist es, der sie immer wieder nach diesen hinzieht. Auf den Schiffen finden sie liebe alte Bekannte wieder, mit dem Kapitän haben sie sich auf einer früheren Reise einmal angefreundet und nun ist es ihnen fast zur Selbstverständlichkeit geworden, auch mit dem Schiffsführer zu fahren, dessen Zuverlässigkeit, Berufsfreudigkeit und Liebenswürdigkeit sie schon auf früheren Reisen kennen gelernt haben. Wer einmal amerikanische Zeitungen gelesen hat, wird freudig überrascht sein, mit welcher Gewissenhaftigkeit diese über die Reisen der Lloyddampfer berichten. Täglich kann man während der Reisesaison in amerikanischen Zeitungen lesen, daß diese oder jene bekannten Größen der amerikanischen Finanzaristokratie sich auf einem Lloyddampfer eingeschifft haben, mit ihm angekommen sind oder abfahren. Die Lloydkapitäne gehören zu den beliebtesten Gästen der Amerikaner. Ihnen und ihrer in treuer Pflichterfüllung ergebenen Mannschaft ist deshalb neben der Vorzüglichkeit der Lloydschiffe wohl am meisten zu danken, wenn heute die Zahl der Passagiere des Lloyd eine Höhe erreicht hat, die in der Welt nicht wieder erreicht werden dürfte. Im Jahre 1911 ist die Zahl der Passagiere auf 9 187 057 angewachsen und es dürfte wohl mit aller Wahrscheinlichkeit die Zahl der Passagiere im Jahre 1913 auf 10 Millionen angewachsen sein. Von dieser gewaltigen Menge entfällt ohne Frage der größte Teil auf die Linie Bremen-New York, der eigentlichen Stammlinie des Norddeutschen Lloyd. Trotz aller Konkurrenz, die dem Lloyd auf dieser Linie gemacht wird, steht er doch nach wie vor unter allen Reedereien, die Passagiere von Europa nach New York befördern, an erster Stelle. Wie in den letzten fünfzig Jahren, so ist Bremen noch immer der Hafen, über den der bei weitem größte Teil der Europamüden die Heimat verläßt. Aber nicht allein die Amerikafahrt wird von dem Lloyd gepflegt, längst hat er seinen Geschäftskreis in vorher kaum geahnter Weise ausgedehnt. Der Norddeutsche Lloyd betreibt gegenwärtig zweiundvierzig Schiffahrtslinien, davon gehen acht nach Nordamerika, zwei nach Südamerika, eine nach Kuba, eine nach Ostasien, zwei nach Australien, drei Linien vermitteln den Verkehr im Mittelmeer, eine Linie verbindet die Endpunkte der Austral- und Ostasienfahrt, eine Linie führt von Singapore nach Neu-Guinea, fünfzehn Zweiglinien verbinden die wichtigsten Häfen in der indochinesischen Küstenfahrt und acht Linien werden in der europäischen Fahrt unterhalten. Nicht mit Unrecht kann man heute sagen, daß die Lloydschiffe auf allen Meeren der Welt anzutreffen sind. Wie der Lloyd in der Nordamerikafahrt, so hat er auch in der Ostasienfahrt vorbildlich gewirkt. Auf seinen Linien nach Australien und Ostasien hat er Tropenschiffe in den Dienst gestellt, die anderen Reedereien ein Muster geworden sind, und die dazu beigetragen haben, das deutsche Ansehen in jenen fernen Meeren zu stützen. Früher konnte der deutsche Kaufmann Waren aus dem fernen Osten nur auf fremden Schiffen beziehen, seit aber der Norddeutsche Lloyd regelmäßige Linien nach diesen fernen Gewässern einrichtete, war es ihm möglich, deutsche Waren auf deutschen Schiffen zu transportieren und die Erzeugnisse des fernen Ostens und der Südsee, die nach Deutschland verschifft werden sollten, auf deutschen Schiffen der deutschen Heimat zuzuführen. Ohne Frage hat der Norddeutsche Lloyd gerade durch die Einrichtung der Fahrten nach dem fernen Osten viel zur Hebung des deutschen Namens in jenen Gewässern beigetragen.

Schnelldampfer »Kronprinz Wilhelm«.

Schreib- und Lesezimmer.

Doppelschraubenschnelldampfer »Kaiser Wilhelm der Große« des Norddeutschen Lloyd in Bremen.
Rauchsalon I. Klasse.

Mit der Ausdehnung des Liniennetzes des Norddeutschen Lloyd hat die Vergrößerung seiner Flotte gleichen Schritt gehalten. Mitte 1912 besaß der Norddeutsche Lloyd im ganzen mit den im Bau befindlichen Dampfern vierhundertneunundsechzig mit einem Raumgehalt von achthundertachtundfünfzigtausenddreihundertein Br.-Register-Tons und sechshundertsiebenundzwanzigtausendeinhundertvierundzwanzig Pferdekräften. Von diesen Fahrzeugen waren einhundertneunundzwanzig Seedampfer und sechsundsechzig Nordsee- und Flußdampfer. Einen besonderen Platz unter den Dampfern des Norddeutschen Lloyd wie unter den Dampfern der gesamten Welthandelsflotte nehmen die schon erwähnten Schnelldampfer des Norddeutschen Lloyd ein. Keine andere Reederei hat eine gleiche Anzahl Schnelldampfer mit derartig hervorragenden Eigenschaften aufzuweisen. Die vier prächtigen Doppelschrauben-Schnellpostdampfer »Kaiser Wilhelm der Große«, »Kronprinz Wilhelm«, »Kaiser Wilhelm II« und »Kronprinzessin Cecilie« haben dem Norddeutschen Lloyd für lange Jahre die Führung im transatlantischen Verkehr verschafft. Mit ihnen ist es zum ersten Male einer Reederei gelungen, einen ebenso regelmäßigen Verkehr auf dem Ozean zu unterhalten, wie er auf dem Festlande mit unseren modernen Schnellzugslokomotiven ermöglicht wurde. Eine derartige Regelmäßigkeit war natürlich nur mit Schiffen durchzuführen, deren Maschinen so gleichwertig sind, wie die dieser Bauwerke. Schon als der erste der Schnelldampfer, »Kaiser Wilhelm der Große« im Jahre 1897 in den Dienst gestellt wurde, hatte man die Absicht, die Schnelldampferflotte so auszubauen, daß ein regelmäßiger wöchentlicher Verkehr aufrechterhalten werden konnte. Mit der Vollendung der »Kronprinzessin Cecilie« im Jahre 1907 war dieses Ziel erreicht. Seitdem geht in den Monaten März bis Dezember an jedem Dienstag sowohl von Bremerhaven als auch von New York je einer der mächtigen Schnelldampfer des Norddeutschen Lloyd in See. Die Gleichmäßigkeit der Fahrten der vier Dampfer hat schnell eine gewisse Berühmtheit erlangt und gelegentlich zu der scherzhaften Bemerkung geführt, daß die Leuchtturmwärter an der Weser und am Hudson nach der Ankunftszeit der Dampfer ihre Uhren zu stellen pflegen. Wenn das Scherzwort auch etwas stark aufträgt, so ist ihm seine Berechtigung in gewissem Sinne doch nicht abzusprechen, denn in der Tat sind die Ankunfts- und Abfahrtszeiten aller vier Dampfer seit der Eröffnung des zum Hudson führenden Ambrose-Channel im Schiffahrtsbetriebe fast einzig dastehend. Die ganze Reise von Hafen zu Hafen nimmt etwa eine Woche in Anspruch, während die eigentliche Ozeanreise in zirka fünfeinhalb Tagen zurückgelegt wird. Wer zu einem Besuche der Vereinigten Staaten von Amerika die Schnelldampfer des Norddeutschen Lloyd benutzt, dem ist es möglich, die ganze Amerikareise, verbunden mit einer Reise ins Innere des Landes nach den Niagarafällen, Chicago etc., in drei Wochen zurückzulegen.

Schnelldampfer »Kronprinzessin Cecilie«.
Luxuskabine.

Schnelldampfer »Kaiser Wilhelm II«.
Speisesaal.

Schnelldampfer »Kronprinzessin Cecilie«.
Wiener Café für Nichtraucher.

Der Norddeutsche Lloyd hat es sich seit etwa zwanzig Jahren zum Prinzip gemacht, seine Dampfer auf deutschen Werften bauen zu lassen. Auch die vier großen Schnelldampfer sind sämtlich auf deutschen Werften entstanden. Schon in ihrer äußeren Form unterscheiden sich die Schnelldampfer von anderen Dampfern. Ihre Raumabmessungen geben dem Schiffsleib etwas schlankes, scharf ragt ihr Bug aus dem Wasser, nicht übermäßig hoch liegen die Deckaufbauten auf dem Wasser, vier mächtige Schornsteine ragen aus den Deckausbauten heraus. Alles scheint im Bau dieser Schiffe auf Bewegung abgestellt zu sein. Ihre Schnelligkeit und ihr eigener Typ hat ihnen denn auch den bezeichnenden Namen »Ozeanwindhunde« eingebracht. In ihren Einrichtungen ähneln sie einander, allerdings werden die zuerst gebauten von den jüngeren Schnelldampfern an Pracht ihrer Einrichtungen noch übertroffen.

Oberes Promenadendeck.

Aeußerst interessant ist ein Besuch des Maschinenhauses eines Schnelldampfers. An langen Eisenleitern steigt man hinab, hinab vom Deck in den Raum, in dem alles in rastloser Bewegung ist. An uns vorbei auf mathematisch genau bestimmten Wegen recken und schieben sich, gewaltigen Riesenarmen gleich, glänzende stählerne Kolben, ein Rollen, Zittern, Donnern und Zischen dringt durch den Raum und bringt uns zum Bewußtsein, daß um uns Tausende von Kräften an der Arbeit sind. Ein Bewegungschaos scheint's auf den ersten Blick und doch fängt sich alle die arbeitende Kraft an einer dicht über dem Boden des Maschinenhauses dahinlaufenden blitzblanken Welle. Kaum sieht man, daß sie sich dreht, so sicher und genau ausbalanciert liegt sie in ihren Lagern und dort hinten bricht sie wohl abgedichtet durch die hintere Schiffswand und trägt an ihrem Ende vier riesige aus harter Bronze gefertigte Schrauben, die rasend schnell das Meerwasser peitschen, daß es wütend aufschäumt. Eine eiserne Wand, an deren weißer Farbe dicke Tropfen Wassers wie Schweißtropfen hängen, trennt Maschinen- und Kesselräume. Durch eine schmale Falltür gelangen wir in einen der Kesselräume. Hier ist Wärme des Maschinenhauses zur Glut gesteigert, trotzdem ein dauernder Zug die Luft in Bewegung hält. Ab und zu flammt es im nachtdunklen Raume auf, wie von riesigen Ventilatoren angesogen fällt die Luft in einen glühenden Schlund und schon beeilen sich flinke, rußige Hände, schwarze Kohlenmassen in den schier unersättlichen Rachen zu schleudern. Befriedigt schließt sich das Feuermaul und nun liegt nur wieder der von den dunklen Wänden aufgesogene matte Schein einer Glühbirne auf den sehnigen schwarzen Gestalten der Heizer.

Doppelschraubenschnelldampfer »Kronprinz Wilhelm«
Gesellschaftszimmer I. Klasse.

Schnell vergißt man Hitze und Schwüle, wenn man den Kessel- und Maschinenräumen wieder entstiegen ist und über die hellen und luftigen Decks zum Kartenhaus des Kapitäns emporsteigt. Wie die Maschine das Herz, so ist das Kartenhaus der Kopf des Schiffes. Was im Rumpf des Schiffes aus Kohle und Dampf zu Kraft zusammengebraut ist, erhält von hier aus seine Direktiven und wird dem menschlichen Willen untertan gemacht. Der zwingt's zum Kampfe mit Wind, Wetter und Wogen, so müssen die Kräfte der Natur sich in den Dienst des Menschen stellen und ihm helfen, drohende Naturgewalten zu meistern.

Zu welchen Leistungen der moderne Schiffbau es heute gebracht hat, davon möge uns der Schnelldampfer »Kaiser Wilhelm II.« ein Beispiel geben. Fast zwei Jahre haben deutscher Geist, Kraft und Fleiß benötigt, um diesen Schiffspalast fertigzustellen. Im Beisein Sr. Majestät des Deutschen Kaisers verließ das Schiff den Helgen und wurde dann einige Monate darauf als der dritte der Lloydschnelldampfer in den Dienst gestellt. Mit seiner Länge von über zweihundertfünfzehn Metern übertrifft er seine beiden älteren Schwesterschiffe »Kaiser Wilhelm der Große« und »Kronprinz Wilhelm« und hält sich in den gleichen Maßen wie der jüngste Schnelldampfer des Lloyd, die »Kronprinzessin Cecilie«, die »Königin der See«, wie sie die Amerikaner bei ihrem ersten Eintreffen in New York genannt haben. Von größter Wichtigkeit ist bei einem Passagierdampfer seine Sicherheit. Diese wird dadurch erreicht, daß das Schiff durch Schotten in wasserdichte Abteilungen geteilt wird. »Kaiser Wilhelm II« besitzt außer siebzehn Querschotten im Maschinenraum ein Längsschott und ist so in neunzehn wasserdichte Abteilungen geteilt. Die Maschinen »Kaiser Wilhelm II« haben fünfundvierzigtausend Pferdestärken, vier vierfache Expansionsmaschinen arbeiten in dem Maschinenhause, und zwar zwei an einer Welle. Das Personal zur Bedienung der Kesselanlage beläuft sich allein auf zweihundertsiebenunddreißig Mann. Die Beleuchtungsanlage umfaßt rund dreitausendzweihundert Glühbirnen von je fünfundzwanzig Kerzen. In den Küchen kann für achthundert Passagiere erster Klasse, vierhundert zweiter Klasse und für eintausendeinhundert Zwischendecker gekocht werden. Die Provianträume nehmen siebenhundertsechsunddreißig Kubikmeter ein, das ist etwa der Raum eines ansehnlichen Küstendampfers. Zur Kühlung der Proviantmengen ist eine bedeutende Anlage vorhanden und außerdem wird noch eine ganz erhebliche Menge Natureis mitgeführt. Der große Speisesaal, welcher nahezu sechshundertdreizehn Quadratmeter Bodenfläche hat, ist in der Farbe hauptsächlich in Blau und Weiß gehalten. Die Holzteile sind vom Boden bis zum Plafond in blaugebeiztem Holz ausgeführt, alle anderen Teile weiß lackiert und mit Plafondgemälden geziert.

Die Architektur im Rauchsalon ist im Renaissancestil gehalten. In der Mitte ist der Raum von einem gewaltigen, tonnenförmig gewölbten Oberlichte in feinster farbiger Verglasung überdacht. Die Wand nach dem Hinterschiff zeigt eine architektonisch reich behandelte, durch Säulenstellung flankierte Tür mit einem kräftigen Bogengesims, auf dem in allegorischer Darstellung die von hervorragender Künstlerhand ausgeführten Figuren, Handel und Schiffahrt darstellend, ruhen.

In dem vornehm eingerichteten Gesellschaftssalon finden wir ein von Ludwig Noster gemaltes Bild Sr. Majestät Kaiser Wilhelm II., dessen Namen das stolze Schiff führt.

Der Norddeutsche Lloyd ist bei diesen Schiffen nicht stehengeblieben, noch größere und in ihrer Einrichtung den jüngsten Erscheinungen in der Innenarchitektur nachkommende Dampfer sind gebaut worden.

»Prinz Friedrich Wilhelm«, »Berlin« und »George Washington«, die jüngsten Schiffe des Norddeutschen Lloyd in der Nordamerikafahrt gehören zu den beliebtesten Schiffen bei allen Ozeanreisenden. Der »George Washington« ist meistens schon viele Wochen vor seiner Abfahrt bis auf den letzten Platz besetzt. Die großen Erfolge, die der Norddeutsche Lloyd mit seinen Schiffen errungen hat, haben ihn veranlaßt, seine Flotte noch immer weiter auszubauen. Vier neue Passagierdampfer von ein und demselben Typ, stellt der Norddeutsche Lloyd in den Südamerikadienst ein und für die Linie Bremen – New York ist der neueste Dampfer des Norddeutschen Lloyd bestimmt. Er hat den Namen »Columbus«, des kühnen Entdeckers Amerikas, erhalten und ist ein Schwesterschiff des »George Washington«, des zurzeit größten Schiffes der deutschen Handelsflotte, übertrifft diesen aber noch beträchtlich. Möge auch den jüngsten Schiffen des Norddeutschen Lloyd das Glück treu bleiben, mögen sie dem Lloyd die erhofften Erfolge bringen und sie zu ihrem Teile dazu beitragen, daß das Ansehen des deutschen Namens auf fernem Weltmeere immer mehr wachse.

Der Held dieser Blätter war der erste, dem das Kommando eines der ersten dieser schwimmenden Paläste anvertraut wurde, mehrfach war es ihm auch vergönnt, seine Marie und seine Kinder darauf über das Meer zu führen, um ihnen die Wunder der Neuen Welt zu zeigen, aber das deutsche Vaterland geht ihm über alles. Und wenn er an der heimatlichen Felseninsel von Helgoland vorüberfährt und mit Wehmut seiner und Mariens Eltern gedenkt, die längst auf dem stillen Friedhofe dort oben ruhen, dann leuchtet doch wieder sein Blick voll Stolz und Freude darüber, daß jetzt auch dort die deutsche Flagge weht, seit Kaiser Wilhelm II. die urgermanische Insel durch Tausch von England zurückerworben und zum Schutze der Elb- und Wesermündungen eine starke Festung auf dem Oberlande erbauen ließ. Solange dem Kapitän mit dem treuen, deutschen Herzen auf der Kommandobrücke des Lloyddampfers der hohe, rote Felsen inmitten der wilden Nordsee sichtbar bleibt, muß die Schiffskapelle die Melodie des Liedes spielen, das der Dichter Hoffmann von Fallersleben, schon lange bevor Deutschlands Einigung vollbracht, im Jahre 1841 auf Helgoland gedichtet hat – wie ein ihm dafür dort errichtetes Denkmal der Nachwelt verkündet.

Oft stimmen auch die Matrosen, welche wissen, wie sehr ihr verehrter Kommandeur an dem Liede und an dem Felseneilande hängt, die Verse an:

»Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält;
Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!

Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten ihren alten, schönen Klang
Und zu edler Tat begeistern, unser ganzes Leben lang.
Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang.

Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland,
Danach laßt uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand –
Blüh' im Glanze dieses Glückes, blühe deutsches Vaterland!«


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