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Zweites Kapitel.
Mariens Rettung.

Am kalten, stürmischen Sonntagnachmittage hatte Erich für den Papa Briefe auf die Post zu tragen, welche die Schaluppe am andern Morgen mit nach Kuxhaven nehmen sollte; der kurze Wintertag neigte sich bereits zu Ende, und Erich bat die Mama, sich nicht um ihn zu ängstigen, wenn er lange fortbleibe, da ihm heute der alte Hamke sein letztes Abenteuer erzählen wolle.

Der biedere Seemann hatte sich gerade sein Pfeifchen gestopft, die Gattin ihm ein warmes Glas Grog bereitet, und die kleine Marie saß hochbeglückt durch eine wunderschöne Puppe mit langen Flechten – das erste Geschenk der neuen Pflegemutter – auf seinen Knien und bewunderte ihr herrliches Spielzeug, als Erich, die Schneeflocken abschüttelnd, eintrat.

»Das ist schön, junger Herr!« rief der einstige Quartermeister, ihm die Hand schüttelnd, »recht schön von Ihnen, daß Sie den zweiten Robinson Crusoe gleich einmal aufsuchen, denn wie jener habe ich erst vor kurzem auf einer einsamen Insel im großen Weltmeere gelebt und gelitten, gelt Marie, du hast's erlebt, dich sandte der barmherzige Gott, um den armen Einsiedler zu trösten und wieder mit dem Leben auszusöhnen, den gesunkenen Mut wieder anzufachen.«

Die Kleine verstand wohl trotz ihrer sechs Jahre den Sinn seiner Worte, denn sie legte liebreich den einen Arm um den Hals ihres Lebensretters, während sie mit dem andern die große Puppe fest umklammert hielt.

»Waren Sie wirklich ganz allein längere Zeit auf einer Insel?« fragte Erich überrascht, »wie ging denn das zu?«

»Ja, was kann nicht so ein alter Seebär alles erleben, Herr Erich, davon kann ich Ihnen viele merkwürdige Dinge erzählen; fünfzig Jahre bin ich auf den Wogen umhergeschaukelt und war nicht viel älter als Sie, als der kleine rote Felsen hier, auf dem ich geboren und nun mein Leben beschließen will, mir schon zu enge wurde. Immer trieb es mich hinaus in die Ferne, ich ruhte nicht, bis mein Vater mich jedesmal auf seiner Schaluppe mit nach Hamburg nahm, wenn er Fische dorthin brachte und Waren für den Winterbedarf auf die Insel holte. Dort bewunderte ich dann nicht die schönen Paläste der reichen Leute, sondern am meisten die großen, stolzen Dreimaster aus allen Weltteilen, die im Hafen vor Anker lagen, und bat und flehte, daß mein Alter mich auf einem solchen als Schiffsjunge anbringen solle. ›Erst deine Schuljahre durchlernen und, wenn du vierzehn Jahre alt bist, dein Glaubensbekenntnis vor unserm Herrgott ablegen‹, gab er mir dann stets zur Antwort, und er hielt Wort, und tat recht daran. Ich aber lernte von da an doppelt so fleißig, damit es schnell ginge, und als ich mit guten Zeugnissen aus der Schule entlassen, zum erstenmal zur heiligen Kommunion gegangen war, da ging mein heißer Wunsch in Erfüllung, der Vater brachte mich nach Hamburg, und auf dem stolzen Schiffe ›Neptun‹ trat ich die erste große Reise nach Afrika an. Dreimal habe ich seitdem Schiffbruch erlitten, bin gar oft in Gefahr gewesen, von den Haifischen verschlungen oder von den Kannibalen verzehrt zu werden –, aber unser Herrgott kam immer zur rechten Zeit mit seiner Hilfe.«

»Bitte erzählen Sie mir das alles, lieber Herr Hamke, aber zuerst Ihr letztes Abenteuer, wie und wo Sie Marie gerettet haben.«

»Also das Beste zuerst!« lachte der Quartermeister, »eigentlich heißt das Sprichwort: ›Das Beste zuletzt‹, nun meinetwegen um dieses kleinen Blondkopfs willen, der die Hauptrolle dabei spielt. Gelt Mutter, es sind jetzt ungefähr sechs Jahre her, als ich zuletzt von dir Abschied nahm und du mich nach Hamburg begleitetest, um deine Waren einzukaufen?« – »Ja, sechs lange Jahre, Gott sei's geklagt!« sagte die gute Frau, »und du hattest mir versprochen, höchstens drei fortzubleiben; was wäre wohl aus mir bei dem einsamen Leben geworden, wenn mir nicht mein Geschäft soviel Arbeit gebracht hätte, über die ich den Kummer und die Sorge um dich mitunter vergaß.«

»Ja, Mutter, du weißt doch, wie es im Seemannsleben hergeht, da kann man nicht über seine Zeit bestimmen, wenn man bald nach dem Norden, bald nach dem fernsten Süden verschlagen wird, und man dann noch dazu acht Monate auf einer einsamen Südseeinsel zubringen muß.«

»Die ersten zwei Jahre blieb ich auf dem Walfischfänger, das hübsche starke Schiff, auf dem du mich damals von Hamburg abfahren sahst, aber das Leben auf demselben, und die schmutzige Arbeit, der stete Trangeruch gefielen mir nicht recht, und ich ging auf die schmucke, große englische Brigg ›Meridian‹ als Quartermeister, dessen braver Kapitän Hudson mir auf den ersten Blick Vertrauen einflößte. Ich habe es auch nie bereut, denn er ist nicht nur ein sehr tüchtiger Seemann, sondern auch gutherzig und menschenfreundlich, so wie ich keinen zuvor gefunden. Die Brigg gehörte zur Hälfte ihm selbst und zur Hälfte einem Reeder in Liverpool, und brachte das kostbare Sandelholz, das Kapitän Hudson auf den Inseln des Stillen Ozeans von den Eingeborenen im Tauschhandel holte, nach China, wo es sehr gesucht und gut bezahlt wird. – Drei Jahre war ich mit ihm ungefähr gefahren, da hörten wir eines Tages von dem Holzhändler einer großen, von gefährlichen Felsenriffen und Sandbänken umgebenen Insel, der zu uns an Bord kam, daß tags zuvor in der Nähe eine englische Brigg verunglückt sei. Der hartherzige Mensch hatte sich aber nicht die Mühe gegeben, seine Leute auszuschicken, um nach den armen schiffbrüchigen Seeleuten zu suchen, trotzdem er wußte, daß die Inseln in der Nähe von heimtückischen Wilden bewohnt sind, die im Verdacht stehen, Kannibalen zu sein. Mein hochherziger Kapitän wagte freilich nicht, unsere Brigg den gefährlichen Riffen zu nahe zu bringen, aber er befahl mir, sofort unser größtes Boot zu bemannen und herabzulassen, welches er dann selbst mit mir bestieg. Wir nahmen Lebensmittel und auch Waffen mit für den Fall, daß wir von den Eingeborenen angegriffen würden, und ruderten sofort nach der Richtung, wo das Schiff gestrandet war. Bald fanden wir dasselbe als völliges Wrack, mit gebrochenen Masten und ganz auf der Seite liegend, und waren überzeugt, daß die Besatzung von den hochgehenden Wellen hinweggespült, wohl teilweise ertrunken sei. Obwohl wenig Aussicht, noch einige der Unglücklichen zu finden, versuchten wir es natürlich doch und ruderten in die Bucht, wo schon zahllose Schiffstrümmer angetrieben waren; der Kapitän ließ eine Wache zurück, und führte uns dann durch die Klippen quer über die felsige, dicht bewachsene Insel; da sahen wir von der entgegengesetzten Seite ein Boot rasch heranrudern. Für den Fall, daß es von Eingeborenen bemannt war, mit denen wir nicht gern in Konflikt kommen wollten, verbargen wir uns schnell hinter dichtem Gebüsch, hörten aber bald darauf das Geschrei eines Kindes, den Ruf: ›Rette mich, Mutter, rette mich!‹ Schnell stürzten wir aus unserm Versteck und kamen gerade zur rechten Zeit, um eine arme weiße Frau, die ihren fünfjährigen Knaben umschlungen hielt, und in ihrer Todesangst auf die Knie gesunken war, von den Wilden, die sie gepackt hatten, zu befreien. Ein Schuß aus meinem Revolver traf den Anführer in den Arm, und mit wüstem Geschrei liefen alle, als sie unsere bewaffneten Matrosen erblickten, zum Strand in ihr Boot zurück. In diesem Augenblick kamen auf den Lärm von einer andern Seite noch sechs schiffbrüchige Engländer, die uns erzählten, daß sie abends zuvor nebst der Frau des ertrunkenen Kapitäns und ihrem Kinde von den Wellen ans Land getrieben seien.

»Wie glücklich waren sie und auch wir über diese unverhoffte Rettung, denn ohne unsere Ankunft wären die armen erschöpften Menschen, die seit langem ohne alle Nahrung und ohne Waffen waren, sicher den Wilden in die Hände gefallen, die auf all diesen Inseln für sehr schlimme Kannibalen gehalten werden.

»Wir führten sie nun eiligst nach unserem großen Boote, erquickten sie mit Speise und Trank, und kehrten dann mit ihnen zu unserer Brigg zurück, wo sie uns ihre Schicksale erzählen mußten. Die arme junge Frau war offenbar sehr krank und ihr Herz fast gebrochen über den jähen, schrecklichen Tod ihres Mannes, der sie in der höchsten Gefahr mit ihrem Knaben an den gebrochenen Mast gebunden hatte, mit dem sie an den Strand getrieben waren und erst am folgenden Morgen von den Matrosen, welche durch Schwimmen die Küste erreichten, losgebunden wurden.

»Unser braver Kapitän tat zu ihrer Pflege alles, was möglich war; ehe wir weitersegelten, sandte er noch ein Boot ab, um das Wrack aufzusuchen und wenn möglich, noch einiges von dem Eigentum der Unglücklichen zu retten. Wie froh waren wir, als die Leute mit mehreren Kisten zurückkamen, worin nicht nur Geld und Wertpapiere, sondern auch Kleider und Wäsche für sie und ihren Knaben verpackt waren, sie selber schien völlig teilnahmlos, bekam ein heftiges Fieber und Gelenkrheumatismus, und Kapitän Hudson beschloß, sie so rasch als möglich in die Behandlung eines Arztes nach Valparaiso und von da nach England zu ihren noch lebenden Eltern, wenn es möglich war, zu bringen, da er ohnedies Sehnsucht nach seiner eigenen Familie in Liverpool hatte.

»Als er mir dies eines Morgens mitteilte, befanden wir uns gerade in der Nähe einer mir bekannten, ganz unbewohnten kleinen Insel, die ich früher mehrmals mit Kameraden besucht und mich stets sehr über die schattigen Bäume und Früchte gefreut hatte. Wir bemerkten dabei, daß Seehunde in großen Scharen gegen Abend an den Strand zu kommen pflegten, und hatten damals große Lust, einige Zeit dort zu bleiben, um die Tiere zu erlegen, deren Felle man in England so gut bezahlt, weil sie zu den kostbaren Pelzmänteln der reichen Damen verwendet werden. Aber ich konnte zu jener Zeit, in welcher ich noch sehr jung war, die Erlaubnis des Kapitäns nicht erhalten; jetzt wandelte mich wieder die Lust an, einige Monate auf der herrlich grünen Insel zu leben, und mir für die alten Tage, wo das Seemannsleben doch zu anstrengend wird, durch den Seehundsfang ein hübsches Sümmchen zu verdienen, da ich durch einen Schiffbruch einige Jahre früher alle Ersparnisse verloren hatte, und nicht mit leeren Händen zu meiner Frau zurückkehren mochte. Durch die aufgenommenen sechs Seeleute, unter denen einer schon lange Bootsmann gewesen, war unsere Besatzung auf dem ›Meridian‹ überzählig, ich konnte gut entbehrt werden, und da drei Kameraden große Lust hatten, an meinem Unternehmen teilzunehmen, sprach ich mit unserm freundlichen Kapitän über den Plan. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, sah auch ein, daß ich nachgerade in dem Alter war, um mich zur Ruhe zu setzen, und daß ich durch den Gewinn vieler Seehundsfelle Aussicht auf einen reichen Verdienst hatte. So versprach er uns denn nach etwa vier bis fünf Monaten, falls ihn kein Unglück träfe, zurückzukehren, um uns von der Insel abzuholen, und gab uns bereitwillig ein Boot, Proviant, Werkzeuge und Segeltuch zum Bau eines Zeltes und einer Hütte, sowie große Fässer mit Trinkwasser und Salz, und einen kleinen eisernen Kochofen mit dem nötigen Geschirr, auch leere Kübel, in denen wir das gewonnene Öl und Fleisch der fetten Seehunde aufheben konnten. Auch mit zwei Laternen und Feuerzeug hatten wir uns versehen, so fehlte uns nichts, und nachdem ich die letzten fünf Jahre immer auf dem Wasser zugebracht, selten festen Boden unter den Füßen gehabt hatte, hoffte ich nun auf der reizenden Insel in dem gesunden Klima einmal ein recht angenehmes, sorgloses Leben mit den Kameraden zu führen und noch dazu auf leichte Weise viel Geld zu verdienen.

»Aber Sie wissen wohl, junger Herr, der Mensch denkt, und Gott lenkt; wie bald bereute ich meinen Schritt, als eine schwere Zeit für mich kam. Schon in dem Augenblick, als der ›Meridian‹ die Anker gelichtet und ich seine Segel in der Ferne verschwinden sah, überkam mich ein mir unbegreifliches, trauriges Gefühl – wie eine böse Ahnung von kommendem Unheil. Ich kämpfte dagegen an mit aller Willenskraft, zu ändern war nun nichts mehr, und da fleißige Arbeit am besten die Grillen vertreibt, machte ich mich schnell mit den drei Leuten ans Werk, um zuerst ein Zelt aufzuschlagen, dann Holz zu fällen und zu sägen, um unsere Hütte damit zu bauen. Nach wenigen Tagen waren wir hiermit fertig; unter den Kameraden war ein Zimmermann und ein Tischler, die ihr Handwerk gut verstanden, sie verfertigten Tische und Bänke, sowie erhöhte Lagerstätten für unsere Matratzen und Decken; der Kochofen stand in der Mitte, so war unsere geräumige Wohnung bald ganz gemütlich. Der dritte Gefährte war Schiffskoch gewesen, er sorgte für unsere Mahlzeiten, kochte das Fleisch der erlegten Seehunde, das freilich gerade kein Leckerbissen war, aber man gewöhnt sich daran, auch sorgte unser Fischfang für Abwechslung, und da wir mehrere Tonnen Mehl vom braven Kapitän Hudson erhalten hatten, bereitete der Koch recht gute Speisen, und selbst das Brotbacken gelang ihm in dem guten Ofen vortrefflich. Wir gruben auch einen Keller für unsere Vorräte und einen Wasserbehälter, um das Regenwasser darin aufzufangen, denn eine Quelle gab es leider nicht auf der Insel. So gingen die ersten vierzehn Tage recht schnell und gut vorüber, und nun mußten wir mit größerem Eifer als bisher an die Seehundsjagd gehen; die Tiere kamen meistens gegen Abend und frühmorgens in großen Scharen an den Strand, wie sie es seit vielen Jahren ungestört so gewohnt waren, wir brauchten sie nur zu töten und dann Fell und Fleisch zu verarbeiten, das Fett zu Brennöl auszukochen.

»Aber sehr bald gingen die ersten Sorgen für mich dadurch an, daß meine Kameraden schon nach kurzer Zeit dieser Arbeit überdrüssig wurden, sie mochten viel lieber in unserm Boot umherkreuzen und Fische fangen, mehr als wir brauchten. Sie waren eben noch jung, kannten den Wert des Geldes, die Sorge für das Alter gar nicht, und alle meine Vorstellungen waren vergebens, was dann anfangs Anlaß zu kleinen Streitigkeiten zwischen uns gab. Da ich aber ein sehr friedliebender, nachgiebiger Mensch bin, ließ ich sie endlich ihre Wege gehen, und ich ging die meinigen und arbeitete allein, warnte sie nur immer, sich in dem kleinen Boote nicht zu weit von der Küste zu entfernen.

»Ich alter, erfahrener Quartermeister kannte ja besser wie sie die Gefahr, wenn in diesen Gegenden ein Sturm mit furchtbar zerstörender Gewalt losbricht, aber die Jugend glaubt leider nicht immer dem Alter und befolgt nicht immer guten Rat. So sah ich denn eines Tages mit Schrecken, daß die Kameraden sich sehr weit aufs Meer hinausgewagt hatten, die tiefe Windstille hatte sie dazu verleitet, und sie bemerkten sicher nicht wie ich die kleine Unheil drohende Wolke am fernen Horizont, die sich immer weiter ausbreitete, und mit großer Schnelligkeit näher kam und die Sonne verdunkelte.

»Mit großer Angst beobachtete ich ihr jetzt aufgezogenes Segel in der Ferne und betete zu unserm Herrgott, er möge sie noch die Bucht erreichen lassen, ehe das Unwetter losbrach – aber in jenen Zonen geht es gar schnell. Sie glauben gar nicht, junger Herr, was es heißt um so einen Tornado, er dauert nicht lange, aber er ist desto furchtbarer, und wehe den kleinen Fahrzeugen, die er ergreift und umherschleudert wie einen Spielball. So wartete und betete ich denn vergebens, unser Herrgott hatte den Untergang meiner armen Gefährten beschlossen.

»Als die Nacht hereinbrach und der Sturm vorüber war, zündete ich auf dem höchsten Hügel der Insel ein großes Feuer an, das ihnen als Wegweiser dienen konnte, falls sie noch am Leben waren. Ich unterhielt dasselbe die ganze Nacht hindurch und fachte es zu großer feuriger Lohe an, und als dann der neue Morgen mit völliger Windstille und blauem Himmel anbrach, spähte ich mit dem Fernrohr wieder nach ihnen aus. Aber kein fernes Segel, kein Boot war zu entdecken, dann tröstete ich mich noch mit der leisen Hoffnung, daß sie vielleicht aus einer benachbarten kleinen Insel Schutz vor dem Sturme gesucht und endlich zurückkehren würden, aber ich hoffte vergebens und wußte nun, daß sie durch ihren Leichtsinn, ihre Waghalsigkeit, ihr junges Leben eingebüßt hatten, und daß ich fortan allein – ganz allein auf der Insel weiterleben mußte, bis Kapitän Hudson mit dem ›Meridian‹ vielleicht erst in vier Monaten zurückkehren würde, um mich zu erlösen.

»Die armen Kameraden, ich bedauerte sie sehr, bedauerte mein eigenes schweres Los – aber was half's, ich mußte es tragen, mußte auf unsern Herrgott hoffen und bauen, der vielleicht bald ein anderes Schiff vorüberführen würde, das mich mitnehmen könnte. Dieser Gedanke rüttelte mich endlich aus meinem dumpfen Hinbrüten, und ich machte mich schnell ans Werk, um an einer hohen Stange auf der Spitze des Hügels ein Stück Segeltuch als Notflagge zu befestigen. Dann ging ich wieder an meine gewöhnliche Beschäftigung, machte mir eine tägliche Arbeitseinteilung, las zuerst jeden Morgen ein Kapitel in der Bibel, wie ich das von meiner Kindheit an gewohnt bin, machte dann in einen großen Stock einen Einschnitt und am Sonntage zwei, um die Zeit zu berechnen. Wir hatten leider vergessen, vom ›Meridian‹ einen Kalender und Papier und Tinte mitzunehmen; dann ging ich auf die Seehundsjagd, richtete nachher Fell und Fleisch her und bereitete zwischendurch meine Mahlzeiten. So vergingen doch drei Monate – wenn auch einsam und in oft schrecklich trüber Stimmung – weit schneller, als ich gedacht, aber kein einziges Schiff war an der einsamen Insel vorübergefahren, und ich hatte täglich scharf danach ausgespäht.

»Eines Abends war ich wie gewöhnlich vor Dunkelwerden mit meinem Fernrohr zur Fahnenstange auf den Hügel gestiegen, von wo ich den weitesten Auslug über den Ozean nach allen Seiten haben konnte und bemerkte, daß da oben eine scharfe Brise durch die Bäume pfiff, sowie alle Anzeichen eines nahen Orkans. Schäumend und brüllend brachen sich die Wogen gegen die felsige Küste der Insel, und der Horizont war im Westen geradezu pechschwarz, ich wollte daher eiligst den Schutz meiner Hütte aufsuchen, da entdeckte ich, mich umdrehend, in weiter Ferne ein großes Segel. Mein Herz klopfte heftig, teils vor Freude, aber auch vor Angst; der ›Meridian‹ konnte es noch nicht sein; würde das fremde Schiff vorübersegeln, oder würde der Kapitän den Kurs nach der Insel einschlagen, um in der Bucht Schutz vor dem Sturme zu suchen, würde er dabei nicht zwischen die gefährlichen Riffe an der Ostküste geraten? Diese sorgenvollen Gedanken kreuzten sich in meinem Kopfe, und jedenfalls mußte ich ihnen zum Wegweiser an der Westküste ein Leuchtfeuer anzünden. Schnell trug ich alles dazu herbei, und bald blies der Sturm die hellen Flammen empor, die ich stundenlang unterhielt, obgleich ich mich kaum aufrecht halten konnte bei dem gewaltigen Toben des Orkans, aber kein Schiff kam in die Nähe, und überzeugt, daß es nicht den Kurs nach der Insel gesteuert, ging ich nach Mitternacht, als der nun strömende Regen mich bis auf die Haut durchnäßt hatte und die Wucht des Tornados sich zu legen anfing, zu meiner Hütte zurück. Nachdem ich meine Kleider gewechselt, und mich müde und tranig auf mein Lager geworfen hatte, schlief ich trotz Wogengebrüll und sorgenvoller Gedanken sehr schnell ein, aber nach einigen Stunden erweckte mich plötzlich ein heftiges Hundegebell. Ueberrascht und noch nicht klar darüber, ob ich wohl nicht lebhaft geträumt, zündete ich die Laterne an, sah auf meiner Uhr, daß es zwei Uhr morgens war und horchte aufmerksam, aber alles blieb still, und schon wollte ich mich wieder niederlegen, da hörte ich wieder ganz in der Nähe heftiges Bellen, und gleich darauf ein Scharren und Kratzen an meiner Tür. Voll Freude öffnete ich schnell genug, und richtig, da stand ein großer, prächtiger Neufundländer vor mir, blickte mich mit den klugen Augen an, sprang an mir empor, zerrte an meiner Jacke, lief dann wieder zur Tür und schaute sich nach mir um, als ob er sich überzeugen wolle, daß ich ihm folge, und fest überzeugt, daß das kluge Tier mich zu Menschen in großer Gefahr holen wollte, nahm ich meine Laterne und ging mit. Er lief freudig bellend voran, aber nicht nach der Ostseite, wo die Bucht einen sicheren Hafen für große Schiffe bildete, sondern quer über die Felsen bergauf und bergab, immer wieder von Zeit zu Zeit stehen bleibend, um nach mir zu sehen, da ich bei meinem Alter und nicht so schnellfüßig wie er, natürlich oft weit zurückblieb.

»Endlich hatten wir den Strand erreicht, das Unwetter war ganz vorüber, der Mond brach durch die Wolken, und bei seinem matten Schein erblickte ich in einiger Entfernung zwischen Sandbänken und Klippen ein Schiff ohne Masten, von dessen Deck die Wellen des noch immer aufgeregten Meeres tobend und zischend alles hinwegfegten. Der Hund war ins Wasser gesprungen, und als ich keuchend und erschöpft von dem schnellen nächtlichen Gange über die beschwerlichen Felsen so nahe wie möglich an die wild schäumende Brandung trat, sah ich, wie er an einem langen Stücke des zerbrochenen Mastbaumes zerrte, und es mit lautem Gebell an den Strand zu ziehen suchte. Schnell erfaßte ich dasselbe und entdeckte zu meinem Schrecken, daß nebst zerfetzten Segelresten ein kleines menschliches Wesen daran befestigt war. Mit verdoppelter Anstrengung und laut klopfendem Herzen hatte ich endlich das arme Kind ans Land gezogen und sah beim Schein der Laterne, daß die Augen geschlossen und das marmorbleiche Gesichtchen kein Zeichen des Lebens verriet. Ich konnte kaum atmen vor Angst und Aufregung, und schnitt mit zitternden Händen die dicken Taue los, die das anscheinend tote kleine Mädchen an das Holz fesselten.«

Selbst jetzt in der Erinnerung an jene angstvollen Stunden atmete der biedere Bootsmann tief und schwer, und blickte liebevoll auf die kleine Heldin seiner Erzählung, die offenbar nicht zuhörend neben dem großen prächtigen Neufundländer am Boden saß, ihm abwechselnd den Kopf streichelte, und die Puppe auf seinem breiten Rücken reiten ließ. Frau Hamke trocknete sich die Augen mit dem Schürzenzipfel, und Erich schüttelte erregt und mit leuchtenden Augen dem braven Retter die Hand.

»War sie lange scheintot?« fragte er in großer Spannung, während der Alte die Asche aus seiner Tonpfeife klopfte, aus der er von Zeit zu Zeit bei seiner Erzählung einen Zug getan, und seine Gattin ihm ein zweites Glas Grog einschenkte.

»Nicht gar so lange, denn ich nahm sie auf meine Arme und lief mit ihr auf einem kürzeren weniger beschwerlichen Wege nach meiner Hütte, da keine Minute zu verlieren war, um die Belebungsversuche anzustellen. Ich riß ihr die nassen Kleider vom Leibe, während der treue Hund immerfort ihre kalten Hände und Arme leckte, dann legte ich sie in mein Bett und wärmte schnell am Ofen, der in jener ziemlich rauhen Jahreszeit Tag und Nacht heiß war, ein Flanellhemd, wickelte sie hinein, rieb ihr die Füße und flößte einen Löffel voll Branntwein in ihren kleinen Mund. Auch die Stirn rieb ich ihr damit, kurz ich versuchte alles, was mir für solche Fälle bekannt war, und, Gott sei gedankt, endlich gelang es, ich jubelte laut, als sie die großen braunen Augen aufschlug und mich erschreckt anblickte. ›Fürchte dich nicht, liebes Kind‹, tröstete ich, ›du bist bei einem Freunde‹, und als der Hund seine Tatzen auf das Lager legte und ihr Gesicht und Hände leckte, schien sie offenbar etwas beruhigt, denn sie sah nicht mehr so angstvoll zu mir auf, konnte aber offenbar vor Schwäche noch nicht sprechen. Ich wärmte nun schnell etwas Kaffee, den ich sie trinken ließ, aber sie lag doch noch etwa eine Stunde ohne ein Wort zu sagen, schloß abwechselnd die Augen, dann blickte sie wieder scheu umher.

»Endlich überredete ich sie, etwas von dem Mehlbrei zu essen, den ich inzwischen gekocht hatte, das arme Ding hatte wahrscheinlich seit dem Mittage zuvor, wo der Sturm zu wüten anfing, nichts genossen, dann all die Angst und Aufregung ausgestanden, und die halbe Nacht bei dem kalten Wetter im Wasser gelegen. Als ich sie im Bette aufgerichtet hatte, mußte ich sie mit einer Hand stützen, mit der andern ihr den Löffel zum Munde führen, so schwach war sie, aber endlich schien die Nahrung und der heiße Kaffee, den ich ihr wiederholt gab, sie doch zu kräftigen, und sie fragte leise, ob ihr Vater und ihre Mutter auch da wären. Als ich das verneinen mußte, weinte sie so bitterlich, daß ich es nicht ansehen konnte, ich hatte ein Gefühl, als ob mir etwas die Kehle zuschnürte und mich am Sprechen hinderte.

»Die Dämmerung war inzwischen angebrochen, und ich suchte sie damit zu trösten, daß ich, sobald es völlig Tag geworden, fortgehen wolle, um ihre Eltern zu suchen, da weinte sie sich endlich in den Schlaf, und als sie spät am Vormittag erwachte, sah ich zu meiner Freude, daß sie bedeutend kräftiger und völlig außer Gefahr sei. Der Puls ging ruhig und war wieder stärker, sie hat jedenfalls eine starke Natur, denn sie trug nicht einmal eine Erkältung davon, aber gleich wie sie die Augen öffnete, fragte sie wieder nach Mutter und Vater und erzählte mir, daß derselbe Kapitän Winner heiße und aus Hamburg sei, und daß ihr Schiff der ›Abendstern‹ von Sturm und Wellen auf die Klippen geworfen sei und ein großes Leck bekommen habe, deshalb hätte der Papa sie an dem gebrochenen Mast festgebunden. Auf das Weitere konnte sie sich nicht besinnen, wahrscheinlich hatte eine Woge sie über Bord geschwemmt und sie dabei das Bewußtsein verloren. Sie wollte dann aufstehen und durchaus mit mir gehen, um die Eltern zu suchen, sank aber viel zu schwach auf das Lager zurück, und ich versprach ihr, bald wiederzukommen und rief den treuen Hund herein, den sie ›Karo‹ nannte, der draußen vor der Tür in der Sonne schlief, und auch von allen Strapazen etwas erschöpft zu sein schien, aber sofort wieder mit dem Schwanze wedelnd zu seiner kleinen Spielgefährtin emporsprang.

»Das war ein schwerer Gang für mich, denn bald fand ich zwischen den Klippen und Sandbänken, dicht am Strande, halb vom Wasser bedeckt, drei der schiffbrüchigen Matrosen – als Leichen, der Kapitän und seine Frau waren nirgends zu sehen, sie ruhten wohl sicher auf dem Meeresgrunde, denn wenn sie mit dem Leben davongekommen, hätten sie längst sich nach ihrem Kinde umgesehen. Ich bestieg den Hügel und spähte mit dem Fernrohre nach einem Boote, aber vergebens und mit schwerem Herzen kehrte ich zu Marie zurück, und suchte sie mit der Hoffnung zu trösten, daß die Eltern vielleicht auf einer benachbarten kleinen Insel gelandet seien und bald kommen würden, um sie zu holen. Sie schüttelte jedoch den Kopf und sagte, daß die starken Wellen, die den ganzen Nachmittag über ihr Schiff geschlagen wären, alle Boote losgerissen und hinweggeschwemmt hätten, und aufs neue begann sie bitterlich zu weinen, bis ich ihr versprach, gleich nach dem Wrack zu gehen, um in der Kajüte nach den Schiffbrüchigen zu suchen.

»Ich wußte ja, daß es vergebliche Mühe war, aber ich tat es doch, nachdem ich zuvor eine letzte Ruhestätte für die drei toten Matrosen gegraben hatte. Dann nagelte ich mir von angetriebenen Brettern ein kleines Floß zusammen, mit dem ich leicht das Wrack des ›Abendstern‹ zwischen den Klippen erreichte. Das sehr stark gebaute Schiff war gekentert, lag ganz auf der Seite, und Sturm und Wogen hatten offenbar die Besatzung bald hinweggerissen in das nasse Seemannsgrab, das so viele verschlingt. Mit Mühe gelangte ich in die Kajüte, wo ich eine Menge brauchbarer Sachen, auch Mariens Kleider und des armen Kapitäns Uhr und Wertpapiere fand. Die Ebbe war nun eingetreten, und so war nichts durchnäßt, ich nahm deshalb alles mit, was das kleine Floß tragen konnte, und beschloß, sofort ein größeres zusammenzuzimmern, und an den nächsten Tagen stets bei niederem Wasserstand alles von der Ladung des Schiffes an Land zu bringen, was ich erlangen und allein tragen konnte. Ich wußte ja nicht, wie lange ich noch mit dem Kind und dem Hund auf der Insel leben mußte und wieviel Proviant ich brauchte, vielleicht konnte es noch Monate oder gar Jahre dauern, falls der ›Meridian‹ und Kapitän Hudson ebenfalls verunglückten und kein anderes Schiff nahe genug kam, um uns zu sehen und mitzunehmen.

»Arme Kleine, ich fürchtete die nächste Zeit immer, daß ihr kleines Herz vor Kummer brechen könnte; denn sie sprach fast gar nicht, aß wenig trotz meiner Bitten und fragte nur ab und zu, ob ich wohl glaube, daß Vater und Mutter wiederkommen würden. Als sie endlich kräftiger wurde, suchte ich sie durch Beschäftigung zu zerstreuen, zeigte ihr alle meine Vorräte und sagte ihr, sie müsse nun meine kleine Haushälterin werden und mir beim Kochen helfen. Dies schien ihr sehr zu gefallen, und sie ist ein so geschicktes, kluges Ding, dabei so sanft und liebevoll. Wenn ich des Morgens mein Kapitel aus der Bibel laut vorlas, obgleich sie wohl wenig davon verstand, faltete sie stets ihre kleinen Hände und betete jedesmal, unser Herrgott möge doch ihre Eltern wiederschicken. Dann half sie mir unser Frühstück kochen, trug dürres Holz herbei, streichelte und fütterte Karo, der ihren Kummer zu begreifen schien, denn er beobachtete sie stets mit seinen treuen Augen, und lag nachts vor ihrem Bette.

»Da das Wetter in der nächsten Zeit gut und die See sehr still war, blieb das Wrack des ›Abendstern‹ ohne weiteren Schaden nur bis zur Hälfte vom Wasser bedeckt liegen, und ich fuhr, nachdem ich das Floß bedeutend vergrößert hatte, jeden Tag zweimal hinüber, um alles Brauchbare ans Land zu schaffen. Ich fand viele Lebensmittel, besonders Reis zu meiner Freude, den Marie sehr liebt, auch zahlreiche mir nützliche Gerätschaften, Seekarten, Kompasse, Zimmermannswerkzeuge, alles nahm ich mit und die Kleine – der ich nicht erlaubte, mit zum ›Abendstern‹ hinüberzufahren, weil es sie zu traurig gemacht hätte – half wacker, all die leichteren Sachen nach der Hütte und in unseren Keller zu tragen, selbst Karo packte stets irgend ein Stück mit dem Maul und schleppte es hinter ihr her; da er ein so ungewöhnlich großer, starker Hund ist, banden wir ihm auch mancherlei auf dem Rücken fest, um den Transport der vielen Waren zu erleichtern.

»Eines Tages entdeckte ich zu meiner größten Freude unter der Ladung im Schiffsraume die ganz fertig gezimmerten, zerlegten Teile zu einem sehr großen Boote, das wahrscheinlich zum Verkauf in irgend einem Hafen der Südsee bestimmt war, wo sie sich auf den Schiffbau nicht recht verstehen. Sofort beschloß ich, dasselbe fertig zu machen und damit Marie von der Insel zu führen, falls Kapitän Hudson gar zu lange ausblieb.

»Wenn ich einmal einen festen Entschluß fasse, so führe ich ihn auch stets mit Beharrlichkeit aus trotz aller aufsteigenden Schwierigkeiten, und wenn es auch eine harte Arbeit für mich wurde, ein großes Boot ganz allein zusammenzuschlagen und dann aufs Wasser zu bringen, so gelang es mir doch. Nach etwa vier Wochen war ein hübscher, kleiner Schoner fertig; ich hatte ihn gleich von Anfang an hart am Strande, zum Teil schon im seichten Wasser arbeitend, gebaut, und so gelang es mir, freilich mit furchtbarer Anstrengung, ihn zur Flutzeit flott zu machen, nachdem ich ihn vorher gut verankert hatte, denn Anker und Ketten sowie Seile fand ich ja genügend auf dem ›Abendstern‹. Selbst eine kleine Kajüte für Marie, und einen großen Raum für unsere Vorräte hatte ich wasserdicht hergestellt, und meine zahlreichen Seehundsfelle ringsum aufgehängt, um sie vor Kälte zu schützen, denn es war Winterzeit und in jenen Breitegraden von Südamerika, wo auch unsere Insel liegt, oft recht rauh.

»Die Kleine und Karo halfen wieder treulich, alle Gerätschaften, Kleidungsstücke, Proviant und Brennholz an Bord bringen, ganz zuletzt kam der kleine Kochofen, und dann nahmen wir Abschied von der Insel, auf der ich beinahe acht Monate zugebracht hatte, und dankte unserm Herrgott für alle mir dort erwiesene Hilfe und Gnade, besonders für den großen Schatz, den er mir in dem Kinde geschenkt hatte.

»Bei prachtvollem Wetter und unter Karos Freudengebell traten wir unsere Reise an, und als ich glücklich alle gefährlichen Riffe und Sandbänke hinter mir hatte, spannte ich die Segel, richtete den Kompaß und steuerte den Kurs nach Südamerika. Ich mußte die Küste und irgend einen Hafen dort nach meiner Berechnung, wenn das Wetter so blieb, in zwei bis drei Wochen erreichen. Marie saß neben mir, Karo lag zu unsern Füßen, Lebensmittel hatten wir im Ueberfluß, so war ich denn sehr froh und bat unsern Herrgott, uns vor Sturm zu bewahren und uns stets eine günstige Brise zu senden, denn dabei schwamm das kleine, leichte Schiff schnell wie ein Kork. Bei Windstille kürzte ich die Segel, trug Marie auf, gut auszuspähen, während ich für einige Stunden ruhte, mich aber sofort zu wecken, wenn sie etwas Ungewöhnliches sehen oder der Wind sich aufmachen sollte, und gewissenhaft blieb sie dann auf ihrem Posten.

»Einmal hatten wir drei Tage lang so starke Brise, daß ich mich keinen Augenblick niederlegen konnte, das Kind mußte unten bleiben, weil oft Wellen über Bord kamen, und ohne daß ich es ihr aufgetragen, schickte sie mir stets Nahrungsmittel in einem Korbe, den Karo im Maule trug, dann sah ich sie häufig in der offenen Kajütentür mit gefalteten Händen, traurig und besorgt zu mir heraufblicken. Und unser Herrgott erhörte ihre Angstgebete, der Sturm kam nicht recht zum Ausbruch; am dritten Nachmittag wurde es wieder ruhiges Wetter, Marie nahm meinen Posten ein, und ich legte mich auf dem Decke nieder und schlief volle sechs Stunden, während die brave Kleine tapfer Wache hielt.

»Auf ihres Vaters Schiffe hatte ich auch einen Kalender gefunden, danach wußte ich, daß wir achtzehn Tage unterwegs waren, als Marie mich eines Vormittags, während ich schlief, am Arme schüttelte, und mir ins Ohr rief: ›Onkel! ein Segel, ein großes, schönes Schiff!‹

»Schnell sprang ich auf, ergriff mein Fernrohr, und jubelte vor Freude, als ich in der großen, schlanken Brigg den ›Meridian‹ erkannte. Hoch auf der Kommandobrücke stand der brave Kapitän Hudson, und mit einem Hurra! wurde ich begrüßt, als ich schnell darauf zugesteuert war, und von ihm und der Besatzung erkannt wurde.

»›Ich bin Euch wohl zu lange ausgeblieben, Quartermeister?‹« rief er, ›und nun habt Ihr Euch in so einer Nußschale auf den großen Ozean gewagt und statt der drei Matrosen ein kleines Mädchen und einen großen Hund als Besatzung; ja in aller Welt, wie geht denn das zu?‹

»Das war ein Fragen und Erzählen ohne Ende, als der brave Kapitän mir einige Leute heruntergeschickt hatte, und ich mit meiner kleinen Pflegetochter auf der Strickleiter zu ihm hinaufgeklettert war. Er hörte mit großem Interesse meine wunderbaren Abenteuer, und sagte mir, daß erst eine schwere Krankheit seiner Frau, dann widrige Winde ihn so lange fern gehalten, daß er mich endlich auf der Insel vergebens mit den Kameraden gesucht hätte, und wir jetzt nur noch etwa zwei Tagereisen von Valparaiso entfernt wären. Er wollte Marie bei sich behalten, bis ich mit meinem kleinen Schoner, dem er drei Matrosen geben wolle, nachfolge, aber die Kleine weigerte sich standhaft, auf dem großen Schiffe zu bleiben, sie mochte sich durchaus nicht von mir trennen, und ich war's zufrieden, denn bei dem guten Wetter erreichten auch wir bald nach dem ›Meridian‹ den sicheren Hafen.

»Kapitän Hudson half mir dort mein Schiff sehr gut zu verkaufen, und als er nach einigen Wochen seine Geschäfte erledigt hatte und mir sagte, daß die Sorge um seine Frau, die sehr leidend geworden sei, ihn in die Heimat zurücktriebe, segelte ich mit Marie und Karo auf dem ›Meridian‹ nach England, von wo wir Hamburg leicht erreichen konnten. In Liverpool verkaufte ich meine Seehundsfelle um eine hohe Summe, so daß ich nun genug habe, um mich für den Rest meines Lebens hier auf dem heimatlichen Felsen zur Ruhe zu setzen, und meiner Frau und unserm Pflegetöchterchen einst ein hübsches, kleines Kapital hinterlassen kann. Die arme Kleine hat sich nun wohl nach und nach darein gefunden, daß ihre Eltern nie wiederkehren, daß sie nun ganz zu uns gehört, denn sie hat gar keine näheren Verwandten auf der Welt, das erfuhr ich in Hamburg, wohin der ›Abendstern‹, das verunglückte Schiff ihres Vaters, das sein Eigentum war, gehörte. Derselbe sollte der Erbe einer alten, reichen Base werden, welche ihm das Geld zum Ankaufe der Brigg vorgestreckt, und seine Frau, Mariens Mutter, erzogen hatte, da sie das einzige Kind ihrer verstorbenen Stiefschwester gewesen ist.

»Ich ging natürlich gleich mit Marie zu ihr und hatte große Angst, daß ich sie nun am Ende ihr überlassen müsse; als ich ihr aber sagte, daß ich gar nicht mehr ohne das Kind leben könne, und sie meiner Frau so gern als Ersatz für unser einziges, früh verlorenes Töchterchen mit nach Helgoland bringen möchte, schien sie das ganz zu begreifen und schlug vor, die Kleine – welche sich sehr gut der Großtante erinnerte und sehr herzlich gegen sie war – sollte selbst entscheiden, sie wolle sie in meiner Abwesenheit, während ich in der Stadt meine Geschäfte besorge, fragen, bei wem sie am liebsten bleiben wolle.

»Sie können denken, Herr Erich, mit welcher Herzensangst ich am Abend zurückkehrte, um die Entscheidung zu hören, und die Augen wurden mir naß vor Freude, als Marie, welche am Fenster des alten Hauses nach mir ausspähte, die Treppe herunterlief, und mir mit den Worten um den Hals fiel: ›Laß mich nicht hier Onkel, bitte, bitte, lieber Onkel, nimm mich mit dir!‹

»Die Base war offenbar ganz damit einverstanden, denn sie gestand mir, daß sie doch auch schon zu alt sei, um so ein junges Wesen zu erziehen, sie wolle mir und meiner Frau gern ein gutes Kostgeld zahlen, da die Kleine ja doch einmal ihre Erbin würde. Das nehme ich aber natürlich nicht an, denn ich besitze genug, um nichts an ihrer Erziehung zu sparen. Die Base will außerdem eine brave Lehrerin schicken, die den Geist ihrer Großnichte ausbilden soll, meine Frau sorgt für das Praktische, und unser Herrgott wird helfen, daß sie ihr weiches, frommes Herz bewahrt und unsere Stütze und Freude für das Alter bleibt.

»Da haben Sie, junger Herr, Mariens Rettungsgeschichte, und wenn Sie noch mehr aus dem Leben so eines alten Seebären hören mögen, so besuchen Sie uns nur recht oft.«

Wie gern versprach Erich, dieser Einladung an jedem Sonntag zu folgen, für heute mußte er eiligst Abschied nehmen, denn es war spät geworden über der langen Erzählung, und mit vielen Dankesworten sagte er der braven Familie gute Nacht, und stürmte die Treppe hinauf ins Oberland, um der Mutter und Helga strahlend vor Bewunderung und Freude über den biederen, alten Seemann die merkwürdige Geschichte zu erzählen.


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