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Der Personenzug, der von Hof über Reichenbach mittags gegen halb zwölf Uhr in Dresden einzutreffen pflegt, war soeben in den böhmischen Bahnhof eingelaufen, und den geöffneten Waggons entstiegen hunderte von Passagieren, die sich freuten, ihr Ziel erreicht zu haben.
Unter diesen befanden sich zwei, die die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Es waren eine Dame und ein Herr. Die erstere ging in Seide gekleidet und hatte ihr Gesicht mit einem Schleier verhüllt. Solche Erscheinungen sind auf einem Bahnhof nichts Seltenes, und so wäre sie nicht so beobachtet worden, wenn ihr Begleiter sich ebenso unauffällig getragen hätte.
Dieser aber hatte sich auf eine Weise gekleidet, die in Dresden nichts weniger als gewöhnlich war. Seine Hose war weit und aus einem rot und himmelblau karierten Stoff gefertigt. Sie wurde um die Hüften von einem grünen Schal festgehalten, in dem drei Pistolen, zwei Messer und drei Revolver steckten. Dann kam eine weiß und violettgestreifte Weste, aus deren Taschen zwei Uhrketten hingen, an denen einige Dutzend Petschaften und Berloques befestigt waren. Darüber sah man eine kurze, dunkelrote Jacke, die reiche Goldstickereien zeigte. Um den offenen Hals war ein gelbseidenes Tuch gebunden, dessen Zipfel über beide Schultern geworfen, weit auf den Rücken hinunterhingen. Dazu trug der Mann einen riesigen Sombrero, der zehn Köpfen Schutz gegen die Sonne hätte geben können, und in der rechten Hand einen grauen Regenschirm, während die Linke das Rohr einer langen Tabakspfeife hielt, aus der er mächtige Rauchwolken blies. Außerdem hatte er einen großen, mit einer breiten Horneinfassung versehenen Klemmer auf der Nase und an den Lackstiefeln Sporen, deren Räder so groß waren, daß man sie als Deckel eines Kaffeetopfes hätte benützen können.
Dieser Mann war mit seiner Dame aus einem Kupee erster Klasse gestiegen. Er blickte sich auf dem Perron um und winkte mit der Pfeife einen Kofferträger herbei.
»Heda, Mann, sind Sie ein Sachse?« fragte er ihn. – »Ja, mein Herr«, antwortete der Gefragte, indem er seine Mütze höflich vom Kopf riß. – »Kennen Sie Pirna?« – Ja, mein Herr.« – »Waren Sie schon dort?« – »Oh, sehr oft.« – »Das freut mich. Da sollen Sie uns bedienen dürfen. Wo ist das Wartezimmer erster Klasse?« – »Ich bitte, nur durch diese Tür zu treten.« – »Schön! Bringen Sie uns das Gepäck nach, das sich noch im Kupee befindet, und dann besorgen Sie uns eine Droschke bester Klasse. Das Passagiergut lasse ich vom Hausknecht des Hotels holen.«
Er hatte diese Worte mit der Miene und dem Ton eines Oberfeldherrn gesprochen, der seiner Generalität die Schlachtbefehle erteilt. Dann trat er in das Wartezimmer, wo er gravitätisch Platz nahm. Aller Augen ruhten mit halb erstaunten und halb lustigen Blicken auf ihm.
Als der Kofferträger eintrat, brachte er zwei Gewehre in Mahagonifutteralen, ein Gebauer mit drei Papageien, einen mexikanischen Reitsattel, den er sich der Schwere wegen mit dem Bügelriemen auf den Rücken gehängt hatte, einen Säbel, ein riesiges Fernrohr und ein Dutzend Bauernhasen.
Letzte sind ein der Stadt Freiberg eigentümliches Gebäck, das Reisende oft auf dem dortigen Bahnhof einkaufen, um es als Kuriosität mit in die Heimat zu nehmen.
Nachdem der Kofferträger diese Sachen abgelegt hatte, ging er, um nach einer Droschke zu sehen. Ein Kellner eilte herbei und fragte unter einer tiefen Verneigung, ob die Herrschaften etwas zu trinken wünschten. Der Fremde musterte ihn vornehm und antwortete:
»Na! Natürlich trinken wir etwas. Aber, hm, kennen Sie Pirna?« – Ja, mein Herr.« – »Waren Sie einmal dort?« – »Nein, mein Herr!« – »Nicht? Ah, dann packen Sie sich! Wir trinken nichts!«
Man sah, daß die Dame ihm eine leise, bedenkliche Bemerkung zuflüsterte, er aber nahm keine Notiz davon.
Jetzt kehrte der Dienstmann mit dem Lenker der Droschke zurück. Letzterer fragte:
»Wohin wünschen Sie, mein Herr?« – »Ins feinste Hotel, ins allerfeinste.« – »Wünschen Sie Hotel de Saxe, de Rome, Bellevue oder Union?« – »Bellevue, Bellevue! Aber gleich!«
Die beiden dienstbaren Geister nahmen die Effekten auf, um sie nach der Droschke zu tragen, und er folgte ihnen mit der Dame.
»Donnerwetter!« flüsterte er ihr in spanischer Sprache zu. »Siehst du, welches Aufsehen wir erregen, Resedilla?«
Sie antwortete nicht.
Draußen am Ausgang stand ein Stadtgendarm. Als er den Fremden kommen sah, machte er ein höchst erstauntes Gesicht, fixierte ihn einige Augenblicke lang, trat dann schnell zu ihm heran und fragte in höflichem Ton:
»Entschuldigung, mein Herr! Sie befinden sich wohl jedenfalls im Besitz eines Waffenpasses?«
Der Fremde nahm den Klemmer ab, blies eine Rauchwolke von sich, maß den Polizisten vom Kopf bis zur Sohle und antwortete:
»Waffenpaß? Warum denn?« – »Weil Sie Waffen tragen.« – »Darf ich das nicht?« – »Nein.« – »Sie sind ja mein Eigentum.« – »Das ist noch kein Grund, eine solche Menge von Waffen in einem Land zu tragen, dessen Zustände sehr gesicherte sind. Sind diese Pistolen und Büchsen geladen?« – »Nein.« – »Sie sind jedenfalls fremd. Darf ich um Ihre Legitimation bitten?«
– »Legitimation? Donnerwetter! Halten Sie mich etwa für einen Räuberhauptmann?« – »Das nicht«, antwortete lächelnd der Polizist. »Aber wir erregen hier die Aufmerksamkeit des Publikums. Bitte, folgen Sie mir hier herein!«
Er öffnete eine Tür, an der das ominöse Wort »Polizei« zu lesen war, und die beiden sahen sich gezwungen, einzutreten. Als sie nach einer Weile wieder erschienen, trug der Fremde seinen Schal so breit, daß man die darin steckenden Waffen nicht sehen konnte. Sein Gesicht zeigte eine ärgerliche Miene, und in grimmigem Ton sagte er zu seiner Begleiterin:
»Das will Dresden sein? Donnerwetter, man arretiert mich hier. Hätten sie nur ein einziges Pulverkörnchen in den Läufen gefunden, so wäre ich gar noch eingesperrt worden, ich, du und die Papageien. Kein Mensch sieht mich auf diesem Bahnhof wieder!«
Der Fremde stieg mit Resedilla, die sich unter ihrem Schleier ganz schweigsam verhielt, in die Droschke, die sie in kurzer Zeit vor das erwähnte Hotel brachte. Ein an der Tür stehender Kellner sprang herbei und öffnete unter einer höchst devoten Verbeugung den Schlag des Wagens. Er mochte den Insassen für einen ägyptischen General oder so etwas Ähnliches halten.
»Kennen Sie Pirna?« fragte Pirnero. – Jawohl, mein Herr«, antwortete der Gefragte mit einem ausdrucksvollen, vielsagenden Lächeln. – »Was lachen Sie denn? Ist denn mit Pirna etwas los?« – »O nein, ganz und gar nicht! Pirna ist ja das sächsische Buxtehude oder Schöppenstädt.«
Da wurde das Gesicht des Mexikaners um das Doppelte grimmiger.
»Was? Wie?« rief er aus. »Schöppenstädt? Buxtehude? Und dieses Nest hier soll Bellevue, das Hotel ersten Ranges sein? Kutscher, gibt es an der Elbe Dampfschiffe?« – »Natürlich, mein Herr!« – »Die nach Pirna fahren?« – Ja. Ich glaube, in fünf Minuten geht eins ab.« – »Rasch hin! Dieses Dresden ist mir ein schönes Dorf. Arretur und Buxtehude. Ich fahre nach Pirna. Dort wird es wohl noch Menschen geben, mit denen sich reden läßt.«
Die Droschke setzte sich abermals in Bewegung, um ihre Insassen nebst deren Eigentum nach dem Schiff zu bringen. Es war gerade die höchste Zeit.
Auch hier erregte Pirnero bei den Fahrgästen ein solches Aufsehen, daß er es vorzog, in der Kajüte zu verschwinden. Er kam nicht eher wieder zum Vorschein, als bis das Schiff in Pirna anlegte, wo er sein Gepäck nach dem Ratskeller tragen ließ, der ihm von früher her bekannt war. Er folgte mit Resedilla dorthin.
Sein Gesicht war wieder hell geworden. Er blickte sich nach allen Seiten um.
»Fürchterlich verändert das gute Nestchen! Ich kenne es gar nicht wieder. Jetzt wirst du sehen, daß es hier ein ganz anderes Ding ist als mit diesem Loch, dem Dresden. Dort wohnt jetzt nur Plebs, das haben wir ja gesehen. Aber hier in Pirna ist der eigentliche Sammelpunkt der sächsischen Aristokratie. Du wirst das sofort merken.«
In der Restauration des Ratskellers war kein Gast vorhanden. Der Wirt und seine Bedienung waren nicht wenig erstaunt über die fremdartige Erscheinung der Eingetretenen. Doch war leicht einzusehen, daß dieselben nichts Gewöhnliches seien, und so wurden sie in feinster Manier empfangen.
Um zu imponieren, sprach Pirnero nur das Allernötigste und bestellte sich ein Mittagsmahl, das er bereits nach kurzer Zeit erhielt. Während er mit seiner Tochter speiste, trat ein Mann ein, der sich an einen nahestehenden Tisch setzte und ein Glas Bier verlangte. Pirnero beobachtete ihn von der Seite. Er sah, wie er angestaunt wurde, und glaubte nun, den richtigen Augenblick gekommen, dem lauschenden Wirt wissen zu lassen, was für einen außerordentlichen Gast zu bedienen er die Ehre habe.
»Schönes Wetter!« meinte er, eine Viertelwendung nach dem Neuangekommenen machend.
Dieser wußte nicht, ob er gemeint sei, und schwieg.
»Nun?«
Dabei drehte er sich vollständig um, so daß der Mann nun nicht mehr im Zweifel sein konnte, daß der Herr mit ihm rede.
»Ja, sehr schön«, antwortete er darum. – »Der reine Sonnenschein.« – »Können ihn auch gebrauchen.« – »Wieso?« – »Weil Sonnenschein gutes Obst gibt. Ich handle nämlich mit Obst.« – »Ah!« fuhr Pirnero auf. »Vielleicht auch mit Meerrettich?« – »Auch.« – »Hat es hier in Pirna nicht schon früher Meerrettichhändler gegeben?« – »Jawohl.« – »Wie hießen sie denn?« – »Hm! Es waren ihrer viele.« – »Ich meine einen, der sehr berühmt war. Er starb in der Ausübung seines Amtes und Berufes.« – »Wieso denn?« – »Er ertrank im Garten. Hieß er nicht Matzke?« – »Ah, Sie meinen den alten Matzke, den Trunkenbold, den Schnapsbruder? Der ist auch nur ersoffen, weil er besoffen war.« – »Donnerwetter! Da irren Sie sich wohl! Ich meine den Matzke, dessen Sohn Essenkehrer war!« – »Jawohl ist der's!« – »Der Sohn starb auch in der Ausübung seines Berufes.« – »Freilich. Er erstickte in der Feueresse, aber auch nur in der Trunkenheit. Die ganze Familie hat es von jeher mit dem Spiritus und Kornschnaps gehalten.«
Pirnero machte ein ganz eigentümliches Gesicht. Er schielte bedenklich zu Resedilla hinüber und antwortete:
»Sie sind wirklich im Irrtum! Ich meine den Essenkehrer, dessen Sohn nachher in die Fremde ging!« – »Ganz recht, ganz recht«, nickte der Mann eifrig. »Und das war erst der richtige Urian. Ich weiß ein Wort davon zu erzählen.« – »Wieso?« – »Nun, der Kerl hat mich um vier Taler angepumpt und ist nachher fortgelaufen. Er ist mir das Geld heute noch schuldig. Der sollte mir wiederkommen!« – »Sapperment! Wie heißen Sie denn?« – »Eberbach. Wir waren Schulkameraden und liefen immer miteinander. Aber in diesem Menschen war eben nichts Gutes. Vogel hat er gestellt, daß ihm die Polizei aufpaßte. Dann hatte er eine Liebste, die er nicht kriegen sollte. Zu der ist er auf der Leiter zum Bodenfenster hineingeklettert, und als ihr Vater dazugekommen ist, sind sie einander in die Haare gefahren im Stockfinstern. Der Alte ist dabei zur Treppe hinuntergestürzt und hat das Bein gebrochen, der Schlingel aber ist zum Fenster hinaus und auf der Leiter hinunter entkommen, und am anderen Morgen ist er über alle Berge gewesen. Seitdem hat man nichts wieder von ihm gehört. Er soll nur wiederkommen! Der Beinbruch kann ihn noch heute in das Gefängnis bringen. Haben Sie ihn etwa irgendwo gesehen?«
Pirnero würgte ein Stück Schweinskarbonade hinunter, schluckte und drückte und antwortete erst nach einer ganzen Weile:
»Fällt mir ganz und gar nicht ein!« – »Aber wie kommen Sie als Fremder denn auf diese Familie Matzke zu sprechen?« – »Es wurde auf dem Schiff von ihr geredet.« – »Hm! Woher sind Sie denn eigentlich?« – »Aus – aus – aus Rheinswalden!« platze Pirnero heraus. – »Wo liegt denn das?« – »Bei Mainz.« – »Und was sind Sie denn?« – »Großherzoglich-hessischer Hauptmann und Oberförster. – »Ach so. Tragen die Hessen denn solche Uniform?« – »Ja, seit drei Wochen. Wirt, was habe ich zu bezahlen?«
Der Wirt machte die Rechnung. Pirnero bezahlte und fragte dann seine Tochter leise:
»Gefällt es dir hier in Pirna, Resedilla?« – »Bei deiner sächsischen Aristokratie?« lachte sie. »Ganz und gar nicht. Aber, Vater, was höre ich da für Sachen!« – »Pst! Pst! Sprich leise!« sprach er ängstlich. »Wenn die hier hören, daß ich früher Matzke geheißen habe, so geht es mir traurig. Ich mache mich zum zweiten Male aus dem Staub und komme niemals wieder. Der Teufel hole Pirna! Ich habe nicht gedacht, daß so ein blutdürstiges Volk hier wohnt. Wir fahren nach Dresden zurück und lassen uns das Passagiergut holen und fahren von einem anderen Bahnhof ab nach Leipzig. Auf dem Böhmischen Bahnhof soll mich kein Mensch wieder erblicken. In Leipzig kaufe ich mir andere Kleider, und dann können wir es einrichten, daß wir zur verabredeten Zeit in Mainz und Rheinswalden eintreffen. Die anderen werden aus Spanien angekommen sein, Gerard mit ihnen.« – »Und was tun wir dann?« – »Erst sehen wir uns das Wiedersehen an, und darauf geht es nach Mexiko zurück.« – »Wirklich?« fragte sie, sichtlich erfreut. »Du wolltest doch in Pirna wohnen bleiben?« – »Sei still! Dieses Pirna kann mir gestohlen werden. Drüben in Mexiko sind Gerards Schwester und Schwager, André geht auch wieder hinüber zu seiner Emilia. Warum denn wir nicht auch? Von unserem Geld können wir dort ebensogut und noch besser leben als hier. Ich habe verteufelt wenig Lust, mich hier als ehemaligen Hausbodeneinsteiger und Beinbrecher arretieren zu lassen, sondern werde schleunigst verschwinden.«
Mit dem nächsten Schiff dampften sie wieder stromabwärts. Die Stadt Pirna ahnte nicht, welchen Besuch sie heute bei sich gesehen hatte.