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4. Kapitel.

Der Dicke setzte sich behäbig auf einen Stuhl und fragte: »Also dein Oheim ist erst kürzlich fort?« – »Ja«, antwortete Manfredo. – »Weißt du nicht, was ihn so lange aufgehalten hat?« – »Nein.«

Der Kleine warf einen blitzschnellen, stechenden Blick auf den Neffen und fuhr fort:

»Du bist doch der einzige Verwandte des Paters, nicht wahr?« – »Ja, der einzige.« – »Hm! Da sollte man doch meinen, daß er Vertrauen zu dir habe.« – »Das hat er auch.« – »Warum sagt er dir da nicht, was ihn abgehalten hat, meinem Befehl schneller nachzukommen?« – »Weil ich ihn nicht gefragt habe.« – »So! Hm! Weißt du noch, wann ich zum letzten Mal hier war?« – »Ja.« – »Da waren auch zwei Männer aus der Hauptstadt hier?« – Ja«, antwortete der Neffe, der ja eingeweiht war. – »Was wollten sie?« – »Sie suchten Euch, sie wollten Euch arretieren.« – »Also doch! Welch ein Glück, daß ich ihnen entgangen bin! Es waren zwei ganz dumme Kerle. Sind sie wieder hier gewesen?« – »Nein.« – »Das ist ihr Glück. Ich werde dafür sorgen, daß sie gut empfangen werden, falls sie wiederkommen. Und das ist es eben, weshalb ich mit dir reden will. Sind wir allein?« – »Ihr seht es ja.« – »Und niemand kann uns belauschen?« – »Kein Mensch.« – »Nun gut, so sage mir, ob du weißt, weshalb dein Oheim nach der Hauptstadt gereist ist!« – »Er hat es mir gesagt« – »Alle Wetter! So scheint er also doch Vertrauen zu dir zu haben. Und da sehe ich, daß auch ich aufrichtig mit dir reden kann. Sage mir also, welchen Zweck der Pater in Mexiko verfolgt.« – »Er soll dahin wirken, daß der Kaiser nicht mit den Franzosen abzieht.« – »Und warum?« – »Damit Max von Juarez gerichtet und verurteilt werde.« – »Gut. Juarez steht dann als Mörder da und wird allen Kredit verlieren. Auf diese Weise werden wir den Kaiser und auch den Präsidenten los und bekommen die Macht in unsere Hände. Dein Oheim hat die Verhaltungsvorschriften. Er wird diesen Max nicht in Mexiko, sondern in Queretaro treffen. So weit scheint alles gelungen. Aber der Teufel könnte doch sein Spiel haben. Irgendein Zufall kann den Kaiser bestimmen, das Land schleunigst zu verlassen. Man kann ihm sagen, daß er keinen Rückhalt, keinen Beistand und keine Anhänger mehr habe. Da gilt es dann, ihn glauben zu machen, daß man noch in Massen zu ihm hält.« – »Das wird nicht leicht sein.« – »Leicht und schwer, wie man es nimmt. Ich habe die Veranstaltung getroffen, daß der Kaiser erfährt, seine Anhänger hätten sich im Rücken seines ärgsten Feindes, dieses Juarez erhoben, um die kaiserliche Fahne zum Sieg zu führen. Hört Max dies, so bleibt er sicher im Land und ist ebenso sicher verloren. Es werden morgen an einigen Orten Krawalle vorkommen, den Hauptkrawall aber soll es hier in Santa Jaga geben.« – »Hier?« fragte der Neffe überrascht. »Wieso? Hier gibt es ja nur Anhänger des Juarez.« – »Pah! Laß nur mich machen«, meinte der Dicke in überlegenem Ton. »Wir haben eine Schar von zweihundert tapferen Kerlen angeworben, die noch in dieser Nacht nach Santa Jaga kommen werden, um die kaiserliche Fahne zu entfalten.« – »Die Einwohnerschaft wird sie fortjagen.« – »Das wird nicht gelingen. Das Kloster ist zu einer Zeit gebaut worden, in der jedes Haus zugleich Festung sein mußte. Es hat starke, hohe Mauern und gleicht einem Fort. Unsere Leute werden sich im Kloster festsetzen. Was wollen da die Bürger tun?« – »Dann allerdings möchte es gehen«, meinte Manfredo nachdenklich. – »Gerade der Umstand, daß diese Schilderhebung hier stattfindet, wird deinem Oheim beim Kaiser die allerbeste Empfehlung sein.« – »Weiß mein Oheim davon?« – »Nein.« – »Warum?« – »Weil ich selbst noch nichts wußte, als ich zum letzten Male mit ihm sprach. Und heute ist er ja nicht da, so daß ich es ihm sagen könnte. Aber wenn er es in Querétaro hört, hat er bereits meine Instruktionen in den Händen und weiß, was er zu tun hat.« – »Sind es Soldaten, die kommen?« – »Hm! Man könnte sie so nennen. Es sind bewaffnete Leute, denen es ganz gleich ist, wem sie dienen.« – »Wann kommen sie?« – »Heute nacht punkt vier Uhr werden sie unten am Klosterweg eintreffen, und du wirst sie in das Kloster führen, aber so, daß unten im Ort kein Mensch etwas merkt. Wenn der Tag anbricht, weht die kaiserliche Fahne von den Mauern herab, und die Bürger dürfen nicht murren.« – »Wird der Anführer mir folgen?« – Ja. Du sagst ihm das Wort ›Miramara‹ dann weiß er, daß du der richtige bist.« – »Werdet Ihr nicht dabeisein?« – »Nein. Ich habe heute nacht noch einen weiten Ritt in einer ähnlichen Angelegenheit. Du hast doch alles ganz genau verstanden?« – »Ganz genau.« – »Gut. Sei so treu wie dein Oheim, dann wird die Belohnung nicht ausbleiben! Ich will gehen. Hier die Instruktion für den Anführer der Truppen. Du gibst sie ihm, sobald du ihn triffst. Gute Nacht.« – »Ich werde Euch hinunterbegleiten«, meinte der Neffe, indem er die empfangenen Papiere zu sich steckte. – »Warum?« – »Das Tor könnte unterdessen verschlossen worden sein.«

Kaum hatten sie das Zimmer verlassen, so trat Kurt in dasselbe. Er eilte an das Fenster, öffnete es und fragte halblaut hinab:

»Seid ihr hier?« – Ja«, antwortete Gerard. »Was gibt es?« – »Der Pater ist verreist. Alles geht gut. Haltet euch ruhig, bis ihr mich wiederseht! Aber tretet zurück! Es wird jemand kommen.«

Er schloß das Fenster und kehrte in die Schlafstube zurück! Er war überzeugt, diesem Neffen des Paters gewachsen zu sein; jedenfalls hatte er es nur mit diesem zu tun, und er beschloß, kurzen Prozeß mit ihm zu machen.

Nach wenigen Minuten kehrte Manfredo in die Stube zurück. Er schien nachdenklich zu sein und schritt sinnend im Zimmer auf und ab.

»Hm!« hörte Kurt ihn brummen. »Kaiserliche in Santa Jaga. Räuber und Mörder werden es sein, aber ich muß gehorchen. Zuvor will ich zu meinen Gefangenen. Ah! Bin ich nur erst Graf Alfonzo de Rodriganda, so mögen sie in Mexiko einander erwürgen, wie es ihnen beliebt. Mir soll alles gleich sein!«

Kurt erstaunte gewaltig über den Inhalt dieses Selbstgesprächs. Er stand schon im Begriff, aus der Tür zu treten und den Kerl zu packen und zum Geständnis zu bringen; da sah er, daß derselbe einige Schlüssel ergriff, und das brachte ihn auf andere Gedanken.

Manfredo steckte die Schlüssel ein, brannte eine Blendlaterne an und verließ das Zimmer, ohne die Tür desselben zuzuschieben. Sofort trat Kurt ein, riß ein Licht von einem Leuchter, steckte es ein und zog dann sein Messer. Er öffnete so leise wie möglich die Tür und sah Manfredo eine zweite Treppe hinabsteigen. Er drückte die Tür zu und folgte ihm.

Das Licht der Blendlaterne fiel nur vorwärts, darum ging Kurt im dunkelsten Schatten. Aus diesem Grund konnte er sehr leicht an etwas stoßen und dadurch ein verräterisches Geräusch verursachen. Deshalb blieb er einen Augenblick stehen, um seine Stiefel auszuziehen, deren Sporen ihn ohnedies verraten konnten. Dann ging es wieder weiter.

Da Kurt vom Dunkel eingehüllt war, so konnte er sich nahe genug an seinen Vordermann halten, um diesen nicht aus den Augen zu verlieren. Weil es aber doch möglich war, daß der Mexikaner einmal stehenbleiben und sich umdrehen konnte, so hielt Kurt sich für diesen Fall bereit, sich augenblicklich niederzuwerfen, um nicht bemerkt zu werden.

So ging es durch einige Türen, die Manfredo offenließ. Sie schritten durch mehrere feuchte Felsengänge, ohne daß es dem Mexikaner ein einziges Mal eingefallen wäre, sich umzudrehen. Der Gang, in dem sie sich nun befanden, hatte mehrere Türen. Vor einer derselben blieb Manfredo stehen. Er schob zwei starke, eiserne Riegel zurück und öffnete das Schloß mit einem seiner Schlüssel. Dann trat er ein.

War dort ein neuer Gang, oder gab es hinter dieser Tür ein Gefängnis? So fragte sich Kurt. Im ersteren Fall mußte er rasch folgen, im letzteren aber zurückbleiben.

Er horchte. Ah, er hörte sprechen! Diese Tür hatte also einen Kerker verschlossen. Leise schlich er näher. Niemand hörte ihn. Er wagte es, den Kopf ein wenig vorzustrecken und blickte in ein viereckiges Gefängnis, an dessen Mauern mehrere Personen gefesselt waren. Manfredo stand in der Mitte des Raumes und hatte seine Laterne in eine Ecke gestellt. Sie erhellte das Gefängnis so ungenügend, daß es unmöglich war, die Züge der Gefangenen zu erkennen. Manfredo sprach mit einem derselben.

»Es gibt einen Weg, Euch zu retten«, hörte Kurt ihn sagen. –

»Welchen?« fragte eine Stimme aus dem Hintergrund. – »Könnt Ihr das nicht erraten?« – »Nein.« – »Ich will ihn Euch sagen. Ihr wißt, daß dieser Mariano hier Euer wirklicher Neffe ist?« – »Ja.« – »Und daß der jetzige Graf Alfonzo nur der Sohn von Gasparino Cortejo ist?« – »Ja.« – »Nun, so stelle ich zwei Bedingungen. Erfüllt Ihr diese, so seid Ihr alle frei.« – »Wir wollen sie hören.«

Der alte Graf Ferdinando war es, der sprach. Der Neffe des Paters fuhr fort:

»Zunächst erklärt Ihr diesen Alfonzo für einen Betrüger und laßt ihn und seine Verwandten bestrafen.« – »Dazu bin ich natürlich bereit.« – »Sodann aber muß Mariano entsagen, und Ihr erkennt mich als den Knaben an, der geraubt und verwechselt wurde.«

Ein Schweigen des Erstaunens folgte.

»Nun, Antwort!« gebot der Mexikaner. – »Ah«, sagte Don Ferdinando, »so wollt wohl gar Ihr Graf von Rodriganda werden?« – »Ja«, antwortete der Gefragte im Ton der unverschämtesten Offenheit. »Das ist meine Bedingung.« – »Ich gehe niemals darauf ein.« – »So bleibt Ihr gefangen bis an Euer Ende.« – »Gott wird uns erretten.« – »Pah, das kann er nicht. Ich gebe Euch eine halbe Stunde Bedenkzeit, bis ich Euch Brot und Wasser bringe. Sagt Ihr dann nicht ja, so erhaltet Ihr weder Trank noch Speise und müßt elend verschmachten!« – »Gott wird uns rächen!« – »Don Ferdinando, sprecht nicht mit diesem Buben!« klang eine tiefe Stimme von der Seite her.

Es war, als ob Kurt augenblicklich vorstürzen solle. Diese Stimme kannte er. Er hätte sie an jedem Ort, unter allen Verhältnissen wiedererkannt. Es war die Stimme seines einstigen Lehrers, die Stimme Sternaus.

»Was?« rief Manfredo. »Einen Buben nennst du mich? Hier hast du deinen Lohn!«

Er trat zu dem Gefesselten und holte zum Schlag aus, kam aber nicht dazu, denn sein erhobener Arm wurde ergriffen. Er drehte sich im höchsten Grade erschrocken um und sah zwei blitzende Augen und die Mündung eines Revolvers auf sich gerichtet Die Blässe eines tödlichen Schrecks bedeckte sein Gesicht.

»Wer ist das? Was wollt Ihr hier?« fragte er vor Angst stammelnd. – »Das wirst du sogleich hören!« antwortete Kurt. »Nieder mit dir auf die Knie!« – »Wer – wer – was ...« wiederholte der Erschrockene. – »Nieder auf die Knie!« wiederholte Kurt.

Und als Manfredo nicht sogleich gehorchte, riß Kurt ihn an dem Arm, den er noch gefaßt hielt, auf den Boden nieder.

»Komm, mein Bursche, wir wollen dich sicher nehmen!«

Bei diesen Worten nahm er sich den Lasso von den Hüften und schlang ihn um den Leib und die Arme des Kerkermeisters. Dieser war mit keiner Waffe versehen; aber selbst wenn er eine solche bei sich gehabt hätte, wäre er doch vor Erstarrung momentan unvermögend gewesen, sie zu gebrauchen. Als er so gebunden war, daß er sich nicht rühren konnte, gab Kurt ihm einen Fußtritt, daß er vollends umstürzte.

Nun aber konnte Kurt sich nicht länger halten. Er holte tief Atem, stieß einen überlauten Jubelruf aus, von dem draußen die Gänge widerhallten, und frohlockte:

»Gott sei Dank! Endlich ist es mir gelungen! Ihr seid frei!« – »Frei?« rief es rundum. »Ist das wahr?« – »Ja und tausendmal ja!« – »Señor, wer seid Ihr?« fragte der alte Ferdinando, der an dieses plötzliche Glück nicht zu glauben vermochte. – »Das werdet Ihr noch erfahren. Nur hinaus aus diesem Loch, aus diesem pestilenzialischen Gestank! Das ist das Allernötigste. Könnt Ihr gehen?« – »Ja«, antwortete Sternau.

Kurt, so jung er war, vermochte es doch über sich, seinem Herzen einstweilen zu gebieten und das zu tun, was der Verstand ihm vorschrieb.

»Wie öffnet man Eure Ketten?« fragte er. – »Dieser Mann hat den kleinen Schlüssel dazu in der Tasche.«

Kurt griff in Manfredos Taschen und fand ein Schlüsselchen. Er eilte von Mann zu Mann in unbeschreiblicher Hast und öffnete die Fesseln, die niederklirrten. Nun wollten sie alle auf ihn stürzen, er aber wehrte sie ab, obgleich ihm die Freudentränen aus den Augen liefen, und rief:

»Noch nicht! Zunächst das Allernötigste. Seid Ihr alle beisammen, oder gibt es woanders noch Leidensgefährten?« – »Wir sind es alle«, antwortete Sternau, der die meiste Kraft besaß, kaltblütig zu bleiben. – »Aber Cortejo und Landola müssen auch hier sein!« – »Sie sind auch hier.« – »Aber nicht gefangen?« – »Gefangen! Alle beide Cortejos, Landola und Josefa Cortejo.« – »Gott sei Dank! Das ist mir zwar ein Rätsel, aber es wird sich aufklären. Folgt mir in eine andere Luft.«

Er nahm dem gefesselten Manfredo alle Schlüssel ab, stieß ihn in die Ecke und ergriff die Laterne. Als er in den Gang trat, folgten ihm die anderen. Er verschloß und verriegelte die Tür und schritt ihnen voran, in der Richtung, aus der er gekommen war. Aber er durfte nur langsam gehen. Einige der Geretteten waren so schwach, daß sie sich kaum aufrecht halten konnten.

Die Luft wurde bei jedem Schritt besser, und im vordersten Keller hielt Kurt endlich an. Er brannte das Licht, das er zu sich gesteckt hatte, an, befestigte es auf einem Balken, und nun war es hell genug, um die Gesichtszüge zu erkennen. Da ergriff Sternau ihn bei der Hand und bat:

»Señor, hier können wir Atem holen. Nun müßt Ihr uns auch sagen, wer Ihr seid.« – Ja, hier sollt Ihr es erfahren«, antwortete Kurt, vor Aufregung beinahe schluchzend. »Aber einer soll es zuerst erfahren, vor allen anderen!«

Er zog einen der bärtigen Männer nach dem anderen in den Kreis der Lichter und betrachtete sie. Als er des Steuermanns Hände in den seinigen hatte, fragte er ihn:

»Werden Sie stark genug sein, alles zu hören?« – Ja«, antwortete dieser. – »So will ich Ihnen leise sagen, wer ich bin. Aber Sie müssen es noch verschweigen, denn die anderen sollen es erraten.«

Kurt schlang die Arme um ihn, näherte seinen Mund dem Ohr des Seemannes und wollte ganz leise flüstern: »Mein Vater!« Aber er brachte es nicht fertig. Als er die abgemagerte Gestalt seines Vaters in den Armen hielt, konnte er nicht an sich halten, sondern rief laut und schluchzend:

»Väter! Mein lieber, lieber Vater!«

Er drückte ihn an sich und küßte ihn auf Mund, Stirn und Wangen. Er bemerkte nicht, daß er vorher spanisch gesprochen, die letzten Worte aber in deutscher Sprache ausgerufen hatte.

Der Steuermann konnte nicht antworten. Er lag ohnmächtig in seinen Armen. Auch die anderen waren vor Entzücken und Bewunderung stumm. Sternau war der erste, der sich faßte.

»Kurt! Ist's wahr? Du bist Kurt Helmers?« fragte er bewegt. – »Ja, ja, Herr Doktor, ich bin es«, entgegnete Kurt, indem er seinen Vater langsam und vorsichtig zur Erde gleiten ließ und in die geöffneten Arme Sternaus flog. – »Mein Gott, welch ein Glück, welch eine Gnade!« rief nun der letztere. »Ich will nicht fragen, wie du uns fandest, wie es dir gelang, uns zu retten. Nur eins will ich wissen: Wie steht es in Rheinswalden?« – »Gut, gut! Sie leben alle, alle.« – »Meine Frau?« – »Ja.« – »Mein Kind, meine Tochter?« – »Ja.« – »Meine Mutter und Schwester?« – »Alle, alle!«

Da sank der gewaltige Mann, der sich am stärksten und kräftigsten erhalten hatte, in die Knie, faltete die Hände und betete:

»Herrgott im Himmel, zum zweiten Mal gerettet! Wenn ich das vergesse, so magst du meiner vergessen, wenn meine sterbende Hand an der Tür deines Himmels um Einlaß klopft.«

Da fühlte sich Kurt abermals von zwei Armen umfaßt.

»Ah, bist du Onkel Donnerpfeil?« – »Ja, mein lieber, lieber Neffe.«

Aus diesen Händen ging der junge Mann in andere. Jeder wollte ihn umarmen und küssen. Er mußte schließlich Sternau um Beistand bitten, diese Szenen zu beenden.

»Allein bist du unmöglich hier«, sagte dieser. – »Im Kloster ganz allein, draußen aber stehen meine Kameraden.« – »Wer sind sie?« – »Der Schwarze Gerard, Geierschnabel und der Jäger Grandeprise. Kommt, Ihr Herren, kommt heraus! Noch sind wir nicht völlig sicher. Man weiß nicht, ob dieser Teufel von Pater noch Helfershelfer hat. Wir wollen gehen, aber so wenig wie möglich Geräusch verursachen.«

Seinen Vater am rechten Arm, ergriff Kurt mit der Linken die Laterne und schritt voran. Die anderen folgten langsam. Den Schluß bildete Sternau mit dem Licht. Er, der immer an alles dachte, hatte die Schlüssel an sich genommen und verschloß jede Tür hinter sich, durch die sie kamen.

Sie gelangten in die Wohnung des Paters. Es war spät geworden. Man war im Kloster schlafen gegangen, und da die Krankenwärter, die zu wachen hatten, sich in einem anderen Gebäude befanden, so hatten die Erretteten ihren Aufenthalt erreicht, ohne daß sie gesehen worden waren.

Hier brannte eine helle Lampe. Kurt brannte zum Überfluß noch eine an, und nun konnte man sich deutlich sehen. Die Begrüßungen und Fragen begannen von neuem.

»Später, später«, wehrte Kurt ab. »Señor Sternau wird mir recht geben, daß wir zunächst auf unsere Sicherheit bedacht sein müssen.« – »Ganz recht«, antwortete der Genannte. »Wo sind die drei braven Jäger, die draußen stehen?« – »Ich werde sie rufen.«

Bei diesen Worten trat Kurt an das Fenster und öffnete es.

»Gerard!« rief er halblaut hinab. – »Hier, Monsieur!« – »Ist unten etwas vorgekommen?« – »Nein. Wie aber steht es oben?« – »Gut. Werfen Sie mir Ihren Lasso zu.« – »Warum?« – »Sie drei sollen an demselben heraufsteigen. Die anderen Wege werden verschlossen sein.« – »Haben Sie den Ihrigen nicht mehr?« – »Nein.«

Gerard warf, und Kurt fing den Lasso auf. Als er ihn gehörig befestigt hatte, kamen die drei nacheinander durch das Fenster. Sie waren nicht wenig erstaunt, eine so zahlreiche Gesellschaft zu finden.

»Donnerwetter!« meinte Geierschnabel, indem er den Mund weit aufriß. »Das sind sie ja!« – Ja, das sind wir«, antwortete Sternau. »Wir schulden Euch unendlichen Dank, daß Ihr Euch unserer angenommen habt.« – »Unsinn. Aber zum Teufel, wie hat dieser junge Mann denn das eigentlich fertiggebracht?« – »Das hören Sie später«, meinte Kurt. »Sie sollen hierbleiben und für die Sicherheit dieser Herren, die noch unbewaffnet sind, sorgen. Herr Doktor, meinen Sie, daß noch andere Bewohner des Klosters mit dem Pater im Komplott sind?« – »Außer seinem Neffen wohl keiner«, antwortete Sternau. – »Werde es gleich sehen.«

Bei diesen Worten eilte Kurt zur Tür hinaus, ohne sich durch die ängstlichen Zurufe der anderen zurückhalten zu lassen.


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