Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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XIX.

Schon in der Frühe des nächsten Tages trat Victor in Heinrichs Hotelzimmer ein. Er nickte zufrieden, als er den Freund ruhig hinter einem Zeitungsblatte sitzen sah.

»Wollte nur nachsehen, ob Du nicht schon wieder auf dem Wege nach Afrika bist. Dir wäre es zuzutrauen, da Du Dich seit Deiner letzten Reise der europäischen Zivilisation nicht mehr würdig zeigst. Wer wird denn gleich so fortlaufen ?«

»Europäische Zivilisation!« wiederholte Heinrich, »und da lese ich eben im Blatte einer beinahe offiziösen Partei, daß die spanische Inquisition eine vortreffliche Einrichtung gewesen sei.«

»Eine nette Begrüßung für einen Bräutigam!« rief Victor, während er lachend eine Zigarette ansteckte. »Na, aber Deine Abwesenheit hat uns gestern abend nicht gehindert, fröhlich zu sein. Evchen und Dein Freund Victor sind endlich verlobt, und Du bist hiermit feierlich zur Hochzeit eingeladen, welche Sonntag über vier Wochen auf Eggerwitz gefeiert wird.«

Heinrich reichte die Hand über den Tisch und sagte:

»Nicht wahr, Du hältst mich für keinen zu argen Egoisten, weil ich in meinem Schmerz Dein Glück vergessen habe? Und es war ein dummer Egoismus, Victor! Euch zu sehen, Eure frohen Gesichter, Euer reines Genießen ist ein tröstlicher Anblick! Ich bin kein Soldat wie Du, aber jetzt wäre mir nur wohl, wenn ich das lebendige Treiben des Krieges um mich sähe. Hier, wo ich zur Untätigkeit verdammt bin und doch die Gefahr schwerer und schwerer auf mich niedersinken fühle, hier wird mir todesbang zumute.

»Nun ja denn«, rief Victor und zupfte den Freund ärgerlich am Barte. »Ich bin auch hergekommen, um Dir die Grillen zu vertreiben. Tue mir nur den einzigen Gefallen und verlange nicht von mir, daß ich mich mit dem böswilligen Volke ernsthaft abgeben soll. Willst Du nun wirklich so tief hinabsteigen und in der wichtigsten Frage Deines Lebens Dein Benehmen nach den Launen des hohen und niederen Pöbels einrichten? Willst Du der Christenheit, der Du nun einmal angehörst, schmollend den Rücken kehren, weil zu der ungeheuren Gemeinde, die seit Jahrtausenden ihren Sieg über die Erde triumphierend verfolgt, auch ein paar räudige Schafe gehören? Du bist nicht mehr mein lieber philosophischer Heinrich, wenn Du so denkst! Herr Gott, Herr Gott, wie haben wir uns verändert! Ich halte Reden und Du machst Dummheiten! Sonst war es umgekehrt. Lieber Junge, nur dieses einzige Mal in Deinem Leben halte mich für den Vernünftigeren und gehorche mir. Verachte die nichtswürdigen Hetzereien, wie sie es verdienen, handle als ein freier Mann! Bleibe nicht abseits stehen! Komm zu uns! Nein, bleibe bei uns! Ein ehrlicher anständiger Christ, der Dir und Deinem Beispiel vielleicht mehr Religion verdankt als seinem Prediger, bittet Dich darum!«

Heinrich schüttelte den Kopf.

»Hoffst Du mich mit guten Worten zu einem Schritte zu überreden, zu welchem mich die stummen Augen der Braut nicht bewegen konnten? Mein Gefühl verbietet mir in diesem Augenblicke, um Einlaß ins Christentum zu bitten. Alle Gründe sind ohnmächtig gegen dieses Gefühl. Wenn es nur das kleine Rudel wahnsinniger Friedensstörer wäre, welches die alte Schmach der christlichen Völker erneuert, wenn das deutsche Volk sich so wie Du verächtlich oder auch nur lachend abwenden würde, glaube mir, mein Victor, auch ich hätte Mannesmut genug, unbeirrt meinen Weg zu schreiten. Aber so... Du siehst nicht mit meinen Augen, Du kannst nicht mit meinen Augen sehen. Man hat zugelassen, daß die Bestie im Menschen wachgerufen wurde, und das entsetzliche, das beschämende Geheimnis trat nackt hervor: die alte, die unsterbliche und ungezähmte Bestie hat laut auf den Weckruf geantwortet. Nun geht die Bestie hungrig und nimmersatt umher, und wer sie einmal geschaut hat, der erkennt sie in jeder Gestalt wieder. Blicke hier hinaus zum Fenster; Hunderte gehen in einer Minute vorüber, und aus jedem Gesichte sehe ich seit meiner Rückkunft die Bestie herauslauern. Jeder von diesen Menschen hat hundert Nebenbuhler, der Arzt, der Geschäftsmann, der Beamte, der Künstler, der Anwalt, die Dirne, was weiß ich. Und jeder von diesen armen, im Wettkampf sich aufreibenden Menschen, hat Momente, in denen er seine hundert Nebenbuhler zu Staub zerbröckeln möchte, um ihren Anteil am Leben zu erben. Die Bestie ist hungrig! Aber sie dürfen nicht morden, die Gesetze verbieten's, auch sind die hundert Nebenbuhler stärker als jeder einzelne. Da hören sie von irgendwo einen lockenden Ruf: unter den hundert Rivalen wird einer für vogelfrei erklärt. Der ist ein Jude! An dem darfst du dein Mütchen kühlen! Und die hungrige Bestie brüllt auf und setzt zum Sprunge an und schlägt ihre Krallen in die Augen und in das Herz des geächteten Rivalen. Sieh selbst, da unten, der Mann, dem das Blut aus den Augen zu spritzen scheint, so gierig blickt er nach Geld und Ehre. Erkennst Du ihn nicht? Unsern Doktor Stropp von Tina Feigelbaum? Er nennt sich einen neuen Reformator. Siehst Du die Bestie in seinem Gesicht? Überall die Bestie, die triumphierende Bestie!«

Victor zog seinen Freund vom Fenster fort und begann Arm in Arm mit ihm in der Stube auf und ab zu gehen.

»Du bist krank«, sagte er, »sehr krank und brauchst einen besseren Arzt, als Du selber bist. Aber wenn Deine Schmerzen nicht eingebildet sind, armer Kerl, die Erscheinungen sind eingebildet, die sie hervorrufen. Heinrich, komm zu Dir! Du beleidigst mich, Du beleidigt Dein Volk mit Deiner wilden Phantasie! Ich lebe doch auch hier inmitten der ganzen abscheulichen Bewegung, aber ich sehe andere Dinge als Du. Ich sehe in einer Stadt von einer Million Menschen einige Lärmmacher herumgehen, sicher gemacht, ich weiß nicht, von wem, geduldet, ich weiß nicht, warum. Und um diese Maulhelden scharen sich ein paar hundert junge Leute, unklare Enthusiasten und böswillige Neidharte, sie singen den Chorus. Und die Millionenstadt ist eben ein bißchen frivol, sieht dem Skandal gemächlich zu und lacht über die komischen Zwischenfälle. So sehe ich die Sachen an, und ich lebe ja doch auch unter diesen Leuten. Der Streit wird zwischen den Hetzern und den Jüden geführt – achte auf meine Aussprache, ich spreche nicht von Juden –, die Nation ist Publikum oder hört gar nicht zu. Die Zeitungen und Flugschriften werden von keinem gelesen als von den Verlassenen und von Leuten wie Du bist, von Selbstquälern. Du warst zu lange abwesend, Du siehst die Dinge nun von einem außereuropäischen oder gar überirdischen Standpunkte und vergißt, daß auch diese Unmenschen menschlich beurteilt werden müssen. Daß ich Dir diese Weisheit predigen muß, der Du sie mir mühsam genug beigebracht hast! Höre mal! Ich will Dir einen Vorschlag machen. Wir wollen die nächste Versammlung Deiner Widersacher gemeinsam besuchen. Wenn nicht unter den Teilnehmern selber, also in der engeren Gemeinde die Mehrzahl aus neugierigen Spaßvögeln besteht, wenn Du nicht selbst den Eindruck gewinnst, daß die Zuhörer der Kreuzzugsprediger sich über die Litaneien lustig machen, wenn Du die heitere Seite der Bewegung nicht empfindest, so gebe ich mich geschlagen. Aber Versprechen gegen Versprechen! Wenn ich recht behalte – und ich behalte recht –, so ist von der Bestie nicht mehr die Rede, Du bekennst Dich offen zum Christentum oder zur Christenheit, wie Du willst, und tust damit endlich, was Dein Herz Dich heißt.«

Lebhaft streckte Victor dem Freunde die Hand entgegen. Zögernd, mit traurigem Lächeln, schlug Heinrich ein.

»Dein Vorschlag ist gefährlich«, sagte er warnend. »Denn ich werde mit meinen eigenen Augen sehen. Wenn ich wirklich finden sollte, was Du mir versprichst, dann will ich dem Zufall danken und Dich gern als meinen Retter ansehen. Dann will ich mich zufriedengeben, nichts weiter sehen und hören und mein Glück fest in den Armen halten. Wenn der Versuch aber anders ausfällt, wenn ich der Bestie, die ich bisher nur von der Entfernung sah, geradeaus in die Zähne schauen muß, dann stehe ich für nichts. Denn ich bin losgerissen für immer von meinem geliebten Glück, von meinem Volke, von meinem Leben. Dann scheiden wir – Wagst Du es auf die Gefahr?«

»Ich wag's«, rief Victor. »Zum Teufel auch, ich halte mich für keinen besseren Deutschen als die anderen sind, und ich bin doch auch kein Schelm. Es ist abgemacht, ich hole Dich ab, und einen Spaß sollst Du erleben, daß Du binnen einer Stunde vor lauter Lachen gesund werden sollst.«

»Ich wär's zufrieden«, sagte Heinrich, »ich bin nicht freiwillig krank, nicht gern elend. Ich sehne mich nach Genesung, nach Ruhe, und eines von beiden wird sich wohl noch finden lassen... Noch eine Frage. Wann reist Kurt nach der Türkei ab?«

»Du, Heinrich, daß Du mir keine Streiche machst! Daß Du Dich mit dem Kerl nicht befassest.«

»Ich weiß, ich weiß«, murmelte Heinrich höhnisch. »Er hat auch nur meine Mutter beleidigt...«

»So prügle ihn, wenn Du das für Deiner würdig hältst. Andere Waffen hast Du nicht gegen ihn.«

»Solange ich nicht so tief sinke wie er«, rief Heinrich traurig. »Du hast recht, Victor, mag er seine Wege gehen. Noch ein verlorenes Menschenleben! Auch er hinausgestoßen aus der europäischen Zivilisation. Aber er durch eigene Schuld, trotz seiner Ahnen, nicht wie wir Juden um unserer Ahnen willen. Und eines Tages, wenn man auch mich als einen Fremdling aus Deutschland hinaustreibt, nehme auch ich vielleicht Dienste in der Türke, finde dort einen Pascha, einen Von-der-Egge-Pascha, und erkenne in dem hohen Würdenträger unseren Freund Kurt. Dann sind wir beide Türken geworden und lachen über unsere alte Feindschaft, und er führt mich gemütlich in seinen Harem und vom Polster erhebt sich in mächtiger Fülle, in türkische Gewänder gehüllt, Tina Kolliner, meine und Deine erste Liebe.«

»Nein, Tina bleibt hier«, rief Victor lachend, froh, den Freund auf andere Gedanken bringen zu können. »Dieses Malheur mußte dem armen Kurt auch noch passieren. Es ist eine lange, rührende Geschichte, die ich Dir einmal ausführlich erzählen will, wenn Du besserer Laune bist. Ich bin nämlich vor kurzem plötzlich Tinas Vertrauter geworden, honny soit qui mal y pense. Sie kann es mir noch heute nicht vergessen, daß ich sie damals gekniffen habe. Weiber! Weiber! Stelle Dir die Szene vor: Tina sitzt in ihrem Chambregarnie – sehr hoch, sehr einfach –, da erscheint Julius Feigelbaum, der gekränkte Gatte, ein Schatten des alten Julius, eingeführt von Deinem Freunde Victor, der aus Bosheit gegen Kurt und aus Freundschaft für den Bruder Emmas den Anwalt der Tugend gespielt hatte. Julius weint, bittet, jammert. Umsonst. Dein Freund Victor spricht wie ein Buch. Umsonst. Da speit das doppelt geöffnete Tor zwei alte Juden auf einmal hervor. Mein Freund, der alte Feigelbaum, ein Bettler, ein Gerippe, das Lachen würde Dir vergehen, sähest Du ihn. Und neben ihm, wer meinst Du wohl? Der alte Kolliner, Tinas leiblicher Vater, der noch immer mit Guano handelt und die Hälfte seines Einkommens für Parfüms ausgibt. Und die beiden reden zu ihr, daß es einen Stein hätte erbarmen müssen, der ihre schreckliche Sprache verstanden hätte. Umsonst. Da nimmt Julius noch einmal das Wort und sagt nichts weiter als: »Ich bin ein Bettler, Tina, ich muß wieder vom Anfang anfangen. Ich hab' geglaubt, Du wirst mir helfen, es zu ertragen. Ich hab' geglaubt, wir könnten jetzt, in der Not, endlich anfangen, uns lieb zu haben!« Die beiden alten Juden weinten, und es war trotzdem gar nicht komisch. Und Tina stand auf und fiel ihrem nicht mehr so dicken Julius um den Hals und wir gingen alle miteinander fort. Dein Freund Victor hatte die Ehre, beim Portier eine Rechnung zu begleichen und dem Herrn Kurt die Mitteilung zurückzulassen, daß er allein nach der Türkei reisen könne.

Übrigens wird mein Herr Vetter mit allen Ehren beigesetzt, welche seinem Stande gebühren. Er wird bei unserer Hochzeit als einer der nächsten Verwandten zugegen sein und erst dann gen Süden ziehn. Du begreifst, daß wir unsere Hochzeitsreise nach dem Norden antreten. Doch jetzt leb wohl, ich glaube, ich werde schon vorgelassen. Der Besuch bei Dir sollte mir nur die Zeit vertreiben. Und in acht Tagen etwa hole ich Dich ab – Du weißt, in die Sitzung Deiner Bestien. Für den schlimmsten Fall habe ich einen tollen Einfall, der mich die Wette gewinnen lassen muß. Adieu!«

Victor eilte fort. Heinrich war dankbar für den guten Willen, aber er versank wieder in sein düsteres Brüten, sowie er allein war.

Tag um Tag verging, ohne daß Heinrich besseren Lebensmut zu fassen vermochte. Wohl besuchte ihn Victor oft, und es gelang ihm jedesmal, dem Freunde etwas von seiner eigenen Heiterkeit mitzuteilen. Aber immer kehrten ihre Gedanken zu dem einen Punkte zurück, über welchen sie vor dem entscheidenden Versuch nicht sprechen wollten, und so lastete ein Zwang auf ihnen, der die rechte Freude aneinander nicht mehr aufkommen ließ.

Endlich, es waren bald vierzehn Tage seit dem Abkommen verstrichen, kam Victor einmal des Abends ganz aufgeregt zum Freunde. Er trug Zivilkleidung und forderte Heinrich auf, mit ihm an das andere Ende der Stadt zu fahren, um dort einer großen Judenhetz-Versammlung beizuwohnen. Er hatte sich durch einen Kameraden, der die Sache aus Übermut mitzumachen pflege, zwei Eintrittskarten verschafft.

Heinrich faßte den Besuch nicht so scherzhaft auf wie Victor, aber er war sofort bereit. Sie fuhren bis in die Nähe des Versammlungslokals, legten aber die letzte Strecke zu Fuß zurück.

Ihr Ziel war ein großer Biergarten, in welchem um diese Jahreszeit nicht mehr viele Gäste zu verkehren pflegten.

Vor dem Hause umringten eine Menge Leute einen Mann, der unter unverständlichen Rufen die Flugblätter der Judenhetzer verteilte. Heinrich mußte bei seinem Anblick laut auflachen. Es war der Schwarze, der bei Kurt Unterricht in der europäischen Zivilisation erhalten sollte.

Beim Betreten des Gebäudes mußten sie ihre Eintrittskarten vorzeigen. Victor konnte sein Lachen kaum verbergen, da kein anderer als Bumcke ihre Legitimation prüfte und ihnen außerdem inquisitorisch auf die Nasen sah. Doch sie durften passieren und befanden sich eine Minute später in einem gewaltige Raume, der nur durch wenige Lampen ungenügend erleuchtet war, trotzdem große Kronen von der Holzdecke herunterhingen.

In langen Reihen standen Tische und Stühle umher. Aber nur etwa der dritte Teil des Saales war besetzt, obgleich die Verhandlung bereits ihren Anfang genommen hatte. Victor und Heinrich nahmen nicht gar weit vom Podium an einem der leeren Tische Platz. Es war zwischen ihnen verabredet, daß sie miteinander nicht sprechen wollten, sondern ruhig zuhören und erst nach Verlassen des Lokales ihre Meinungen austauschen.

Kaum hatten die Freunde sich niedergesetzt, als ein Mann sich herandrängte und mit einem leisen, vertraulichen »Erlauben Sie, Herr Doktorleben?« neben Heinrich Platz nahm. Es war Herr Samuel Schöpps.

»Bleiben Sie nur, ich werd' Sie nicht verraten. Haben Sie mich doch auch nicht verraten dem verrückten Schneider, dem edlen Menschen. Gott, ich sag' Ihnen, ich freu' mich, hier zu treffen einen Juden unter die da. Ich geh' hier herum als ein Bekehrter, weil ich mich hab' lassen taufen. Ich sag' Ihnen, es ist ein schweres Leben! Und für die da muß ich austragen Zeitungen und Wahlzettel! Nu, mir tragt's ein das Austragen, und gewöhnlich irr' ich mich und geb' die Sachen ab an unrechter Stelle. Gott, ich bin ein alter Mann! Wenn ich nur wüßt', was ich mach' am nächsten Versöhnungstag! Ich kann doch nicht fasten und gehn in die Kirche!«

Heinrich ließ ihn reden und achtete auf die Vorgänge in der Versammlung.

Die Szene, welche durch ihr Eintreten nicht unterbrochen wurde, schien der Auffassung Victors recht zu geben. Auf der Rednerbühne stand ein großer schwarzhaariger und schwarzbärtiger Mann, der mit gewaltiger Stimme über das Thema sprach: »Was unterscheidet die Juden von uns?«

Der Mann gab eben eine fabelhafte Beschreibung der gegenwärtigen Lebensweise der Juden. Alle Scheußlichkeiten und Häßlichkeiten bürdete er ihnen verschwenderisch auf. Und sooft er irgendeine Erfindung auftischte, von deren Haltlosigkeit alle Zuhörer überzeugt waren, tönte von allen Seiten ein lustiges Bravo; die Leute lachten auch ganz behaglich und faßten den Vortrag offenbar als unbezahlbaren Spaß auf. Die Herren vom Vorstande, welche neben dem Redner an einem grünen Tische saßen, zogen finstere Gesichter.

Der Vortrag nahm ein unverhofftes Ende, als der Redner bei der äußeren Leibesbeschaffenheit der Juden anlangte. Schon bei der Behauptung, daß alle Juden verrenkte Hüften hätten und darum nicht so gut wie die Christen Kegel schieben könnten, wurde der Redner von wieherndem Gelächter und einem tollen Beifall unterbrochen. Als er aber fortfuhr, die schwarze Haarfarbe sei genügend, um einen Menschen zum Juden zu stempeln, brach ein ungeheurer Jubel los.

»Bravo! Bravo!« riefen die einen. »Warum haben auch Sie sich einen schwarzen Bart stehen lassen?« die anderen. »Wir wollen keinen Juden hören!« die dritten.

Und dazwischen applaudierten die meisten unter schallendem Gelächter.

Victor bemerkte mit Vergnügen, daß Heinrich den Humor der Sache zu empfinden begann und lächelnd da saß.

Als der Lärm nicht aufhören wollte, entzog der Vorsitzende dem Redner das Wort und ein anderer Mann trat auf.

Victor stieß den Freund unwillkürlich an.

»Ist das nicht Greisenitz, der dem Salon von Tina so hübsche Männer zuführte?«

Heinrich nickte.

Herr von Greisenitz stellte sich der Gesellschaft als einen harmlosen Grundbesitzer von Adel vor. Er habe kein persönliches oder geschäftliches Interesse an der schönen nationalen Bewegung. Aber gerade darum, weil er in der beneidenswerten Lage sei, ohne Beschäftigung in der Hauptstadt leben zu können, halte er es für seine nationale Pflicht, einen Teil seiner nicht allzu kostbaren Zeit und seine schwachen Kräfte dem nationalen Gedanken zu opfern.

Der Beifall, den er mit dieser Versicherung erlangte, war nicht stürmisch, aber er war offenbar ernsthaft gemeint.

Herr von Greisenitz erklärte nach dieser Einleitung, er wolle die angeregte Frage nur in einem Punkte berühren, er wolle an die Art und Weise erinnern, in der bei den Juden die Ehen geschlossen würden. Und mit einem ganzen Arsenal von Mauschelworten ausgestattet, beschrieb er nicht ohne Witz die Tätigkeit eines jüdischen Heiratsvermittlers, des sogenannten Schadchens. Und was das Schlimmste an der Sache sei, so schloß er, nicht nur jüdische junge Leute, sondern auch deutsche Christen wenden sich sogar an solch elende Seelenverkäufer, denen nichts auf der Welt, nicht einmal Gott Amor selber heilig sei! Freilich besitze so mancher deutsche Mann, so mancher verabschiedete Offizier in seinem hübschen Gesicht, in seiner strammen Erscheinung, in seinem guten oder doch alten Namen ein Kapital, welches nicht brachliegen bleiben dürfte. Aber dann solle man sich doch an einen ehrlichen christlichen Agenten, womöglich an einen Standesgenossen wenden, nicht an den öffentlichen Vermittler, an den jüdischen Schadchen.

Bei der Schilderung dieses Gewerbes, namentlich bei den mit schauspielerischem Talent vorgebrachten jüdischen Redensarten war der Beifall gewachsen. Gegen den Schluß hin, als der Redner für die christliche Heiratsvermittlung zu sprechen begann, ertönten wohl einige Zischlaute, aber als er den Vortrag beendet, blieb der Applaus nicht aus, und der Vorsitzende – Victor erinnerte sich allmählich, auch ihn unter Tinas Gästen, unter den Freunden des Herrn von Greisenitz gesehen zu haben – sprach dem Redner den Dank der Versammlung dafür aus, daß er ihre Aufmerksamkeit auf ein so krasses Bild jüdischer Sittenlosigkeit gelenkt habe.

Nun entstand dicht unter dem Podium ein Streit. Ein Mann erhob sich, um das Wort zu ergreifen; von allen Seiten redete man auf ihn ein, suchte ihn zurückzuhalten, und die Herren am Vorstandstisch machten verlegene Gesichter. Endlich klingelte der Vorsitzende und sagte achselzuckend:

»Herr Doktor Stropp will sprechen. Bitte um Ruhe!«

Die zuckenden Bewegungen des Agitators schienen dem Arzte heute noch verdächtiger als jüngst im Wirtshause. Überdies versagte ihm einige Male mitten im Satze das Wort, er begann zu stottern und mußte zu einem neuen Gedankengang übergehn.

Was er sprach, schien der Versammlung zu mißfallen. Stropp gab eine Geschichte der Partei zum besten und nahm alle geistigen Verdienste für sich in Anspruch. Als der Vorsitzende ihn nach einiger Zeit ersuchte, zur Sache zu kommen und die Versammlung nicht mit persönlichen Angelegenheiten zu behelligen, da röchelte Stropp vor Wut und rief:

»Es ist endlich Zeit, persönlich zu werden! Zu lange haben wir uns alles gefallen lassen. Wir wollen endlich etwas haben von unserer Reformbewegung. Ich habe den größten Gedanken dieses Jahrhunderts in die Welt gesetzt und soll jetzt hören, wie andere mich beim Sekt hochleben lassen, während ich beim Gilka sitze? Nein, wir wollen unsere Rechnung machen. Ehre haben wir ja sowieso nicht von unserer Sache! So wollen wir wenigstens zu leben haben! Und wenn man uns die Anerkennung verweigert, wenn man für uns keine Stellungen und Bildsäulen übrig hat, so wollen wir eine neue Partei gründen, die zugleich atheistisch, national...«

Der Vorsitzende klingelte heftig und entzog dem Redner das Wort. Doktor Stropp wurde unter Drohungen und Scherzen vom Podium heruntergeschoben und setzte seinen Vortrag im Kreise seiner Freunde fort.

Plötzlich sprang ein unbekannter junger Mann auf die Rednerbühne und begann zu sprechen, bevor sich noch die Unruhe gelegt hatte. Der Vorsitzende unterbrach ihn und verlangte seinen Namen zu wissen.

»Ich bin ein freier deutscher Mann und heiße Potschralsky«, rief der bartlose Jüngling, dessen dunkles Haar in dicken Strähnen über Stirn und Ohren niederfiel.

Wieder bemächtigte sich rasch eine übermütige Stimmung der ganzen Gesellschaft: »Das ist ja gar kein Deutscher«, rief es und:

»Er ist ein Jude!

»Ein polnischer Jude!«

Da warf sich aber der Jüngling in die Brust und schrie so laut, daß er nach wenigen Sekunden heiser wurde:

»Ich bin ein freier Deutscher und kein Jude! Gott soll mich bewahren, daß ich ein Jude bin! Ich bin Judenhetzer seit dem Beginn der Bewegung! (Ruf aus der Versammlung: »Da sind Sie auch was Rechts!« Heiterkeit.) Wenn Sie wollen, so lege ich Ihnen das nächste Mal meine Stammtafel vor. Meine Mutter war eine Spreewälder Amme (große Heiterkeit). Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt! Wenn es keine Ammen gäbe, so wären Sie alle zu Engeln gemacht worden! (»Bravo, Potschralsky!«) Meinen Vater hat meine Mutter nie gekannt (große Heiterkeit). Ich will damit sagen, meine Mutter ist von ihm schmählich verlassen worden. Er war aber trotzdem kein Jude, er war sogar ein Seiltänzer.«

Die Zwischenrufe wurden an dieser Stelle so allgemein, daß eine Pause entstand, dann fuhr Herr Potschralsky fort:

»Ich höre soeben die Frage, was für ein Landsmann mein Vater war. Ehrlich gestanden, ich weiß es nicht. Aber meine Mutter sagte mir einmal, daß er nur sehr wenige Worte mit ihr sprechen konnte (Heiterkeit. Jemand ruft: »Aber deutsch!«), daß er aber, wenn er betrunken war (»Bravo, Potschralsky!«), immer »Bassama« rief. Danach gehöre ich väterlicherseits dem ritterlichen Volke der Magyaren an, wo soeben von bedeutenden Männern gleichfalls eine deutsche Bewegung gegen die ungarischen Juden ins Werk gesetzt wird.«

Die meisten Zuhörer schütteten sich vor Lachen; viele riefen Hoch und Eljen. Der Vorsitzende wurde böse, fragte die Versammlung, ob sie des Spaßes wegen einberufen sei und forderte den Redner auf, zur Sache zu kommen. Es kenne ihn hier niemand, und man habe keine Lust, jeden beliebigen Redner ohne Legitimation auftreten zu lassen.

Da rief Potschralsky:

»Mich niemand kennen? Wissen Sie, was ich bin? Ich bin Gehilfe beim Bumcke, wo draußen bei der Kasse sitzt. Kennen Sie Bumcke, einen unserer besten Patrioten? (Rufe: »Bumcke soll leben!«) Ich bin seit meiner Kindheit bei Bumcke. Erst war ich zum Teil in jüdischen Händen, da mein Prinzipal mit einem Juden assoziiert war. Jetzt ist er selbständig und treibt sein Geschäft nobel. (»Was für ein Geschäft?«) Sein ehemaliger Sozius war Wucherer. Herr Bumcke aber ist mit Aufbietung seines ganzen Kapitals bestrebt, christliche Schuldner aus den Händen jüdischer Halsabschneiden zu reißen, das soll ich Ihnen in seinem Namen sagen, und wenn Sie seine Hilfe brauchen, er wohnt seit einem halben Jahre...«

Hier unterbrach der Vorsitzende den Redner. Er bitte, nicht in dieser Weise fortzufahren. Herr Bumcke sei ein wackerer Parteigenosse, aber nicht mehr als ein anderer.

»Was? Nicht mehr?« schrie Bumcke von der Türe her, von wo er dem ganzen Auftritt zugehört hatte. »Und wo wäre der Herr Vorsitzende mit seiner ganzen Bammelage, wenn Bumcke nicht wäre? Wer zahlt heute den Saal? Bumcke! Wer zahlt den Gas! (Rufe: » Das Gas heißt es, Bumcke!«) Einerlei, den Gas oder das Gas! Wer's zahlt, ist Bumcke! Und wer hat die Kontrolle übernommen? Bumcke! Und wer hat gestern bei der Ausschußberatung ein Achtel Culmbacher aufgelegt. Bumcke! Und wer wird morgen alle Seidel bezahlen, welche aufs Podium die Kehlen angefeuchtet haben? Bumcke! Wer ist also ein undankbarer Lump?«

Und »Bumcke! Bumcke!« antworteten hundert Stimmen. Ein furchtbarer Tumult entstand. Der Polizeioffizier drohte, die Versammlung aufzulösen. Aber schon waren Bumcke und Potschralsky vor die Tür gesetzt, und die Ruhe war wiederhergestellt. Ein neuer Redner stand auf dem Podium; es mußte ein Liebling der Partei sein; lang anhaltender Beifall begrüßte ihn.

Der hübsche junge Mann, dessen Gesicht von ebenso vielen Schlägerhieben als Barthaaren geziert war, verbeugte sich ernst nach allen Seiten. Victor fragte einen Nachbar, wer denn der neue Redner wäre.

»Den kennen Sie nicht?« hieß es. »Das ist unsere Hauptkraft. Er ist zwar noch Student, verdiente aber Minister zu sein. Er ist der hellste Kopf unter uns! Sie werden was erleben!«

Der Student, dessen Kopf von prachtvollem blonden Haar umwallt war, begann mit feurigen Worten die Parteigenossen zum Ernste zu ermahnen. Kräftig und rauh wandte er sich gegen Greisenitz, Stropp und Bumcke, gegen die unlauteren Elemente, welche auch inmitten dieser großen germanischen Bewegung noch niedrig genug dächten, um ihre kleinlichen Nebenzwecke zu verfolgen. Die Sonne steige siegreich empor, die ganze Welt sinke auf die Knie in ernster Andacht; die Unlautern aber seien wie die Photographen, welche mit Hilfe des heiligen Sonnenlichtes ihren Handel treiben. Er fordere die Unlautern auf, den Saal zu verlassen, auch die Lachlustigen, welche den Lebenskampf der Nation als einen gewöhnlichen Ulk betrachten, mögen ihnen folgen. Nur die Ernsthaften, seien sie Freunde oder Gegner, sollen bleiben.

Niemand rührte sich von der Stelle. Alles blickte gespannt auf den Jüngling, der, von den eigenen Worten berauscht, mit glühenden Wangen und glänzenden Augen dastand, in der Tat ein helles Bild deutscher Jugendkraft.

Er sprach fließend und was er sprach, mußte zu Herzen gehen. Er verlangte für sich und die ganze deutsche Jugend die Ideale wieder, welche die Dichter und Denker als großen Schatz des Volkes, als einen unantastbaren Friedensschatz hinterlassen hatten. Er schilderte mit dichterischen Farben die Qualen eines Studenten, der seine ganze Jugend den Wissenschaften und hohen Träumen geopfert hatte und nun plötzlich in das praktische Leben hinausgestoßen, sich einer Schar von Egoisten gegenüber sah, die kein anderes Ideal kannten als ihren Geldschrank, keine andere Tätigkeit als den Erwerb. Er klagte über den entsetzlichen Verlust an moralischem und geistigem Kapital, das gleich bei der ersten Berührung mit der Außenwelt als völlig nutzlos beiseite geworfen werde. Er beschwor die Geister großer Toten herauf und fragte sie, ob sie mit ihren unsterblichen Taten und Worten eine Nation von Krämern und Strebern hätten schaffen wollen.

Der Eindruck der Rede war schon bis dahin ein mächtiger. Auch Heinrich konnte sich des Gefühls nicht entschlagen, daß der Wortführer eines berechtigten Idealismus dem kleinlichen Treiben der Zeit seinen Fehdehandschuh hinwerfe. Unwillkürlich rief er einmal »Bravo!« mit den andern. Aber was hatte diese ganze schöne Wallung mit dem Gegenstande des Abends, was hatte sie mit der Judenfrage zu schaffen?

Soeben ging der Redner zu diesem Thema über. Er fing damit an, daß er keinen Rassenhaß predigen wolle wie einige sonst verdiente Männer. Er kenne unter den Christen sehr viele Juden und unter den Juden ebenso viele Christen. »Jude« sei für ihn nicht eine Stammesbezeichnung, sondern ein moralischer Begriff. Wenn er »Jude« sage, so meine er damit nicht gerade die Abkömmlinge der Israeliten, welche den erhabenen Gründer des Christentums den ihren nennen könnten und welche ja auch die Apostel in die Welt geschickt hätten, sondern überhaupt jeden Feind des idealen deutschen Lebens.

Nachdem er so unter dem rasenden Beifall der Versammelten das Wort erklärt und mit weiser Mäßigung den Begriff und nicht die Menschen zum Ziele seines Angriffs gemacht hatte, begann er auf die öffentlichen Schäden selbst hinzuweisen.

Im Eifer der Rede mochte er aber wohl seine logische Unterscheidung vergessen haben. Seinen »moralischen Begriff« stattete er mit allen Merkmalen aus, welche das Volk an der Karikatur eines Juden zu sehen liebt, und immer schwerer, immer gehässiger trafen seine Worte den jüdischen Volksstamm, den er für alle Schattenseiten des nationalen Lebens verantwortlich machte. Je mehr der Redner sich erhitzte, desto kühner wurden seine Vorwürfe, desto dürftiger seine Beweise. Zum Schlusse verstieg er sich zu großen geschichtsphilosophischen Phantasien. Schon im Mittelalter seien die Juden an dem Unglück Deutschlands Schuld gewesen. Sie hätten es mit den Päpsten gehalten, welche die Kaiser befehdeten. Wenn die Reformation nicht das ganze Deutschland vereinigte, so wären wieder die Juden die Ursache gewesen, welche wahrscheinlich mit ihren Geldmitteln die Gegenreformation unterstützten. »Und Napoleon? Wer hat den Korsen emporgehoben? Sicherlich die Juden! Es gibt also keine andere Hilfe: Hinaus mit den Juden aus Deutschland!«

Und unter brausendem Jubel stimmte die Versammlung in den Ruf ein.

Mit starrem Entsetzen saß Heinrich in dem Aufruhr da. Nur einen unendlich traurigen Blick sandte er zum Freunde hinüber. Da stampfte Victor mit dem Fuße auf, und bevor Heinrich wußte, was geschah, schritt Victor an ihm vorüber dem Podium zu.

»Was willst Du tun?« rief Heinrich.

»Einen letzten Versuch machen und die Gehirne prüfen!« gab Victor zurück. Eine Minute später stand er auf der Tribüne. Heinrich folgte ihm, um unter allen Umständen in seiner Nähe zu bleiben.

Victor begann:

»Genossen! Gestatten Sie einem neuen Freunde Ihrer menschenfreundlichen Bestrebungen das Wort zum Vorschlage einer Resolution, welche zwar im Widerspruch zu stehen scheint zu dem, was Sie von meinem geehrten Herrn Vorredner vernommen haben, welche aber nach meiner Überzeugung einzig und allein die Judenfrage im nationalen und volkswirtschaftlichen Sinne zu lösen imstande ist. Alle meine geehrten Herren Vorredner – sowohl die heute gehörten als diejenigen, welche ich nur aus den Berichten unserer Presse kenne – sind mit ihren Reformvorschlägen hinter dem wahren Ziele zurückgeblieben. Die einen, die Komischen – ich bitte, unterbrechen Sie mich nicht –, die Komischen begnügen sich damit, auf die Juden zu schimpfen, sie aber im übrigen gegen jeden ernsthaften Schaden in Schutz zu nehmen. Die anderen, die Verschwender, wollen – wie mein geehrter unmittelbarer Herr Vorredner – die Juden aus dem Lande treiben, die Dritten, die Choleriker, wollten sie totschlagen. Ich werde Ihnen beweisen, daß diese Herren alle nicht wert sind, unter vernünftigen Menschen das Wort zu ergreifen. Mein Vorschlag allein ist weise und staatsmännisch: Machen wir die Juden zu unseren Sklaven!«

Ein furchtbarer Lärm entstand bei diesen Worten. Die einen glaubten, der Redner sei verrückt geworden, die anderen, er mache sich über die Versammlung lustig, wieder andere waren wie elektrisiert von dem neuen Gedanken, liefen von einem Tisch zum andern und riefen:

»Ja, Sklaven, Sklaven!«

Umsonst bemühte sich der Vorsitzende, dem Unfug ein Ende zu machen. Als sein Drohen, die Versammlung zu schließen, nicht half, fragte er, ob die Anwesenden Lust hätten, den Redner noch länger anzuhören. Da erhoben sich aller Hände, und Victor sprach weiter:

»Über diejenigen, welche die Juden nur beschimpfen, ihnen aber nicht ernstlich wehe tun wollen, brauche ich kein Wort zu verlieren. Denn entweder die Vorwürfe sind unberechtigt: dann hat das Schimpfen keinen Sinn, oder man tut den Juden mit dem Schimpfen kein Unrecht: dann geschieht ihnen damit viel zu wenig.«

Einzelne Bravorufe ertönten.

»Diejenigen aber, welche die Juden austreiben oder totschlagen wollen, fallen von meinem Standpunkte aus unter dieselbe Kategorie kurzsichtiger, ja gemeinschädlicher Menschen. Was ich statt dessen vorgeschlagen habe, wäre noch vor hundert Jahren, in der berüchtigten Aufklärungszeit, kaum von gebildeten Menschen diskutierbar gewesen. Heute aber, hundert Jahre später, haben wir es unter der Herrschaft der neuen realpolitischen Ideen ziemlich soweit gebracht, daß uns der alte lederne Humanismus nicht mehr kümmert, daß wir uns von Redensarten wie Menschenrecht, Freiheit, Menschenwürde, Gleichheit, Brüderlichkeit und ähnlichen Flausen nicht beirren lassen. Wir sind Barbaren und rühmen uns dessen!«

Heinrich begann für seinen Freund zu fürchten. Man mußte doch endlich die bittere Ironie seiner Worte bemerken, und dann standen sie zwei einer wütenden Schar von ungefähr zweihundert gegenüber. Aber mit nachdenklichen Mienen hörten die Männer zu und viele nickten beifällig mit dem Kopfe.

Victor warf einen verächtlichen Blick über seine Hörer und fuhr fort:

»Nun haben wir aber einmal eine Masse Juden, über viermalhunderttausend in Deutschland. Diese Juden haben Geld, Kräfte, Talente, Weiber und Kinder. Wäre es da nicht törichter Mißbrauch des Nationalvermögens, wenn wir uns selbst dieser Juden beraubten? Wenn wir sie nämlich aus dem Lande treiben, so gehen uns ihr Geld, ihre Geistes- und Körperkräfte, ihre Weiber und deren Leibesfrucht auf einmal verloren. Wenn wir sie totschlagen, so behalten wir zwar ihr Geld, aber das Kapital, welches in ihren Fähigkeiten steckt, ist unwiederbringlich dahin. Wollen wir diesen beiden Fehlern ausweichen, so müssen wir sie einerseits im Lande behalten, andererseits ihre Kräfte unserem Volke nutzbar machen. ›Wir müssen sie zu unseren Sklaven machen!‹«

Von allein Seiten wurde ein beifälliges Gemurmel laut. Der Einfall war neu, aber er schien der Partei der Erwägung wert.

Victor sah nicht, wie Heinrich ihm winkte, den Saal zu verlassen. Mit schneidendem Hohn, die Augen bald dieser, bald jener Gruppe, die ihm gerade Beifall zollte, zugewendet, sprach er weiter:

»Der praktischen Ausführung meiner Idee steht nichts im Wege als etwa das Vorurteil einiger unverbesserlicher Gefühlspolitiker, welche glauben, daß die Abschaffung der Sklaverei auf dem Programm jedes gebildeten Menschen stehen müsse. Regeln der Humanität existieren nicht mehr für uns! (Bravo!) Und um die Meinung der gebildeten Welt kümmern wir uns erst recht nicht. Das Ausland mag meinetwegen über Barbareien schreien, wenn wir nur unsere jüdischen Sklaven besitzen und mit ihrer Hilfe zum Gipfel der nationalen Wohlfahrt und der echt nationalen Zivilisation emporklimmen.

Die juristische Formulierung der Sache können wir getrost den Fachleuten überlassen. Mir war es nur darum zu tun, Ihnen die neue großartige Idee vorzutragen, damit sie im Kreise Ihrer Familien und Ihrer Kneipen für deren Verbreitung Sorge tragen und der großen nationalen, patriotischen und sozialen Idee die Wege ebnen. Nur in einigen wenigen Zügen will ich versuchen, Ihnen die Wirkungen des epochemachenden neuen Gesetzes vor Augen zu führen:

Sie alle werden zugestehen, daß die meisten Juden fleißige, intelligente, nüchterne Arbeiter sind. (Ja, ja!) Nun, sollten wir die Früchte dieser Arbeit für uns verlorengehen lassen? Nein, sage ich! Wir wollen alles daran setzen, daß wir den Ertrag dieser Arbeit noch steigern!

Haben wir erst durch eine neue gesetzliche Bestimmung die Juden zu unseren Sklaven gemacht, so beginnt natürlich zuerst die Verteilung der Juden unter den Germanen. Ich denke mir die Sache etwa so: jeder erwachsene Jude ist als Ware seine fünftausend Mark unter Brüdern wert. Wieviel man für eine jüdische Frau und für Kinder geben will, das hängt von Umständen ab. Wenn nur der Staat seine Juden gegen Rückgabe des gleichen Wertes fünfprozentiger Staatspapiere hingibt, so gewinnt er bei dem Geschäft gleich auf einmal über zwei Milliarden (Sensation). Dabei habe ich das jüdische Kapital, das natürlich eingezogen würde, gar nicht gerechnet.

Unsere Kapitalisten und Großgrundbesitzer würden dadurch in den Besitz einer Menge von Sklaven kommen, welche sie, je nach den Fähigkeiten derselben, ausnutzen könnten. Bedenken Sie doch, daß im alten Rom die eigentlichen Angehörigen der Nation vollständig müßiggingen und alle körperliche und geistige Arbeit von Sklaven geleistet wurde. Ja, der wahre Luxus der herrlichen römischen Imperatorenzeit bestand in der Anzahl von Sklaven, die jedem echten Römer zur Verfügung standen. Und zu dieser Höhe des nationalen Luxus müssen auch wir uns erheben, wenn wir der großen Zeit, der wir doch in manchen andern Dingen nahegekommen sind, auch in dieser Beziehung ähnlich werden wollen.

Nicht nach amerikanischem Muster, nein, nach dem unvergleichlichen Vorbilde der Alten denke ich mir unsere jüdischen Sklavenpferche eingerichtet. Diese beschränkten amerikanischen Pflanzer waren so töricht, ihre Schwarzen in Baumwoll-, Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen verkümmern zu lassen. Freilich hatten sie auch nur Neger zu ihrer Verfügung. Wir aber, die wir über die intelligenten Juden verfügen werden, wir werden uns durch sie zum Höhepunkt der Menschenwürde erheben. Wir beschäftigen zu groben Arbeiten nur die dummen Männer und die häßlichen Frauen. Die besseren Elemente aber machen wir, wie die Römer, zu unseren studierten Sklaven. Soll einer witzig sein, der Sklave ist's für ihn. Soll einer was wissen – der Sklave weiß es für ihn. Und unser Ideal wird jener edle Senator, der nicht mehr selbst dachte, sondern sich z. B. einen besonderen Sklaven hielt, der ihm sagte: »Herr, Du sitzest!« – wenn die andern Diener ihn niedergesetzt hatten.

Und wissen Sie auch, verehrte Genossen, durch welchen glücklichen Umstand Rom so gedieh? Hören Sie und staunen Sie! Die Blütezeit der Römer beginnt von dem Tage, da sie als Besieger Karthagos die Bevölkerung der punischen Stadt in die Sklaverei schleppten. Jene wunderbaren Sklaven, welche für die Römer arbeiteten, dachten, dichteten und Künste trieben, waren also Karthager, waren Semiten! (Allgemeines Staunen) Was ich Ihnen da sage, habe ich mir nicht aus den Fingern gesogen. Ich habe es bei Friedländer gefunden, in dessen ›Sittengeschichte Roms‹ Sie Näheres über die Behandlung der Sklaven nachlesen können.«

Aus dem Saale ruft jemand: »Dieser Friedländer ist gewiß ein Jude. Dem ist nicht zu trauen.«

Aber mit pathetischer Stimme fiel Victor ein:

»O, wie kurzsichtig doch der Herr ist, der mich eben unterbrochen hat! Dieser Friedländer mag ein Jude sein, ist aber sicherlich ein guter Schriftsteller. Es ist ja gar kein Zweifel daran, daß die Juden unter anderem auch bedeutendes Talent zum Bücherschreiben haben. Auch aus diesen Anlagen wollen wir Nutzen ziehen. Ich sagte ja schon, daß wir schlau zu Werke gehen müssen. Wir wollen die Talente unter den Juden züchten wie feine Wolle bei den Schafen. Auch das muß groß angefaßt werden. Damit unter unseren jüdischen Sklaven die Kenntnisse nicht vergehen, werden auf großen Plätzen umfassende jüdische Sklavenschulen errichtet: Volksschulen, Gymnasien und Universitäten. Dafür kann unsere eigene Jugend, die so sehr unter der Überbürdung mit Lehrstoffen seufzt, entlastet werden. (Bravo! Bravo!) Die meistern unserer jüdischen Sklaven werden sich freilich am besten im Handeltreiben verwenden lassen. Wir machen sie zu Leitern unserer Unternehmungen, sie handeln und schachern, sie mischen und fälschen, sie machen betrügerische Bankrotte, aber sie haben nur die Schande davon, wir, ihre Herren, stecken den Gewinn ein! (Bravo!)

Doch es wäre ja töricht, die Juden auch dann auf das Handeltreiben beschränken zu wollen, wenn sie unsere Sklaven sind. Jede Arbeit, die uns Mühe macht, sollen sie uns abnehmen, damit der Deutsche endlich wie ein Herrgott in Frankreich leben kann. Ja, und mein trunkenes Auge sieht schon in der Zeiten Hintergrunde eine neue Epoche der Weltgeschichte erstehen, hervorgerufen allein durch den großen Gedanken: die Juden zu den Sklaven der Christen zu machen! Ich sehe, wie alle Kulturländer das erhabene System annehmen, ich sehe, wie die bekannte Fruchtbarkeit der Juden dazu benützt wird, große Armeen aus unseren jüdischen Sklaven zu formieren, sehe, wie die großen Kriege unserer Kulturländer nur noch mit jüdischem Blute geführt werden. Wir aber begnügen uns, die Peitschen über unsere Sklaven zu schwingen und die Früchte ihres Fleißes zu genießen. So, meine Herren, kann allein das wahre Ideal unserer Zeit, das Ideal des Inhumanismus erfüllt werden!«

Victor schloß. Eine Beifallssalve brach los, und bald hatten Hunderte den Redner umringt, ließen ihn hochleben, nannten ihn den größten Mann in dieser ganzen Bewegung und tranken ihm zu. Es war kein Zweifel möglich, sie hatten seinen Vorschlag, mit dem er sie ironisch zur Vernunft bringen wollte, ernst genommen und erwarteten von ihm, daß er sich an die Spitze der Agitation stellte.

In düsteren Gedanken verließ Heinrich den Raum. Er mochte dem Freunde nicht mehr begegnen, nachdem dessen gute Absicht vereitelt war. Eilig wollte er in die nächste Querstraße einbiegen, als er rasche Schritte und dann den Ruf: »Halt, Sklave!« hinter sich vernahm.

In diesem Augenblicke hatte ihn Victor bereits eingeholt und sagte lachend, indem er seinen Arm unter den des Arztes schob: »Lauf nicht so schnell, Sklave! Was sagst Du nun! Kann's noch ein Judenhetzer mit mir aufnehmen? War ich nicht gründlich? Es war furchtbar komisch, wie die Sklavenhalter mir mit offenem Munde zuhörten! Ich hatte einmal nicht übel Lust, meine famose Rede mit einem Kernspruch abzubrechen und mich satt zu lachen. Aber was hast denn Du? Warum lachst Du nicht?«

Heinrich hatte sich wie ein Besinnungsloser führen lassen. Jetzt machte er sich von Victor los und bat, ihn allein zu lassen. Er könne nicht lachen, nicht sprechen, nicht Rede stehen.

Victor versuchte mühsam, den übermütigen Ton festzuhalten.

»Du wird doch den Geisteszustand dieses Narrenvereins nicht ernst nehmen?« rief er lebhaft. »Nein, liebster Freund, so rasch geben wir uns nicht geschlagen! Auch war die Sache zu lustig, um den Spaß nicht zu wiederholen.«

»Du wirst Dich nicht zum zweiten Male einem Skandal aussetzen«, sagte Heinrich bestimmt. »Der Versuch ist angestellt und ist mißlungen. Jetzt gib mich auf und laß mich meiner Wege gehen!«

»Fällt mir gar nicht ein!« rief Victor. »Nun muß ich Dir erst recht in den Weg treten, um Dich von Deinem Spleen kurieren zu können!«

»Laß mich, ich habe die Wette gewonnen!«

»Bah, eine Wette! Wir sind doch Männer!«

»Ja, Männer!« rief Heinrich bewegt. »Und der Preis dieser Wette, Herr Leutnant, ist eine Ehrenschuld, ich fordere mein Recht. Ja, eine Ehrenschuld! Laß mich, Victor, laß mich. Es ist vorbei! Es war kein Narrenverein! Du hast es so gut bemerkt wie ich! Es saßen viele harmlose Bürger des neunzehnten Jahrhunderts dabei, die sich nicht alles bieten ließen, die sogar die Güte hatten, über Herrn Bumcke zu lachen! Aber in der Hauptsache sind sie alle einig: Sie machen einen Unterschied zwischen mir und den anderen Deutschen! Ich kein Deutscher! Victor, fühlst Du, was das heißt? Ich habe für Deutschland nicht mehr getan, erstrebt und gelebt als hunderttausend andere. Aber doch auch nicht weniger! Ich kein Deutscher! All die Tränen des Zornes und der Freude, die ich in den Kriegsjahren vergossen habe, waren falsch! Mein Blut, das sich jenseits der Loire mit dem Deinen vermischt hat, war unechtes Blut! Ich soll ja kein Deutscher sein! Vielleicht werden sie mir noch verbieten, deutsch zu reden, deutsch zu schreiben, deutsch zu denken! Warum nicht? Ich bin ja kein Deutscher! Nicht wahr, Victor, Dein Vater hat niemals um seines deutschen Namens willen leiden müssen? Mein Vater aber – er war Arzt wie ich – wußte davon zu erzählen. Weil er ein Deutscher war, mitten unter Slaven, wurde er mit seiner jungen Frau von der Stätte seines ersten Wirkens vertrieben, weil er ein deutscher Arzt war, und dies in einer tschechischen Landschaft nicht vergaß, warf der Pöbel Steine in das Zimmer, in welchem meine Mutter ihr erstes Kind, meine Schwester, gebar. Meine Mutter blieb am Leben, das Kind starb. Weil mein Vater ein Deutscher war und für sein Volk eintrat, wurde er bis zu seinem Tode verleumdet und geschmäht. Ich aber bin kein Deutscher! Was bin ich denn? Ein Jude nicht! Wahrhaftig nicht! Dann bin ich ein wesenloser Mensch, der keinen Schatten wirft! Dann bin ich ein Gespenst, Ahasverus, den man nicht töten kann, weil Ahasverus keine verwundbare Stelle hat, keine Heimat, kein Haus, kein Weib, kein Kind!«

Victor hatte bewegten Herzens zugehört. Sie waren in einer breiten, öden Straße von Ostberlin angelangt, wo sie unbeachtet zwischen den neugepflanzten Bäumen auf und nieder gingen.

»Verzeih! Ich begreife Deinen Schmerz! Ich will Dich nicht mehr zu täuschen suchen. Was willst Du tun?«

»Wandern will ich, wandern wie Ahasverus!« rief Heinrich mit erstickender Stimme. »Vielleicht kehre ich dann am Ende meines Lebens nach Böhmen zurück und lasse mich in dem Orte nieder, wo mein Schwesterchen starb. Dann kämpf' ich, so lange ich's aushalte, für die deutsche Sache, und wenn einmal wieder die Pöbelwut losgelassen wird, dann stell' ich mich ihr entgegen. Dort werden sie mich als einen Deutschen hassen, dort werden sie nach dem Deutschen mit Steinen werfen. Wenn ich schon der Gemeinheit unterliegen soll, so will ich doch als Deutscher von Slaven gepeinigt werden, nicht als Jude von Deutschen! Und nun gute Nacht! Du bis Bräutigam, Victor, Du sollst keine Erinnerung an meine böse Laune zu Deiner Braut bringen! Scheiden wir!«

»Nicht eher, als Du mir in die Hand versprochen hast, daß Du in vierzehn Tagen auf Eggerwitz erscheinst und als mein Trauzeuge mir Deine Freundschaft beweisest. Wenn Du unser Glück siehst, wirst Du, mußt Du auf bessere Gedanken kommen! Versprichst Du's?

»Nein! Ich bin zu Deinem Zeugen nicht gut genug. Wenn ihr auch alle vergessen könntet, wenn auch Herr Kurt nicht da wäre, ich dürfte doch in der Kirche nicht erscheinen. Vielleicht ist der Pastor, der ja nicht fehlen darf, auch einer von den neuen Pfaffen, einer von der Pächtern der Wahrheit, und dann wird er einen Juden nicht im Hauses seines Gottes dulden. Einst hatte ich Ehrfurcht vor jeder Religion. Jetzt betrete ich keine Kirche mehr. Gute Nacht, Victor und vergiß alles Trübe, wenn Du bei Evchen bist. – Nein, laß mich allein! Gute Nacht.«


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