Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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III.

Die beiden Verwundeten waren allein geblieben. Mit der schönen Frau hatten alle Herren das Krankenzimmer verlassen, und Victor lachte herzlich über den raschen Sieg, den die Fremde davongetragen. Er plauderte lange und versuchte, den Ärger seines Genossen durch geschickte und lustige Nachahmung des vorangegangenen Auftritts zu verscheuchen. Aber wie allmählich die Falten auf Heinrichs Stirn sich legten, verlor auch Victor seinen Übermut.

Die Tür zum Salon war nur angelehnt, und immer häufiger hörten die beiden Ausrufe des Staunens und des kindlichen Entzückens, bald wieder ein fröhliches Lachen. Immer schwerer kam über die beiden Kranken die Empfindung, daß heute die Hunderttausende beisammen waren, die Siegesfreude auf einmal und an einer Stelle, wie verdichtet, voll und ganz zu genießen, während sie in einem abseits liegenden Krankenzimmer den Tag vertrauern mußten.

»Der verfluchte Doktor!« rief Victor ein über das andere Mal. »Ich glaube wahrhaftig, er hat uns nur die Freude verderben wollen. Sind wir nicht beide gesund? Könnten wir nicht morgen wieder hinaus in den Krieg? Heinrich, Heinrich, ich bin weiß Gott nicht neidisch! Aber daß jetzt die Kameraden alle so was erleben dürfen und wir hier liegen müssen wie im Grabe, das ist hart!«

Heinrich wollte trösten, aber auch ihm war es weich ums Herz geworden. Schon konnte man in der Ferne ein dumpfes Brausen vernehmen wie eine verhallende Brandung. Es waren undeutliche Hurrarufe der Masse vor dem Brandenburger Tore. Und das dumpfe Brausen kam näher. Totenstille wurde es nebenan im Salon; auch auf der Straße vor dem Hause verstummte das laute Treiben. Alles lauschte. Und langsam, langsam kam es heran. Immer deutlicher konnte man aus dem wachsenden Donner der fernen Rufe das »Hurra« heraushören, und schon vermochte man die Namen der großen Führer zu erkennen, welche wie im gelernten Chore mit dem Hurrarufen um die Wette ertönten. Dazwischen klangen dumpf und abgerissen einige Trompetenklänge. Eines fügte sich zum andern. Es war eine Musikbande, die sich näherte.

Und jetzt – Victor zuckte zusammen und faßte mit seiner Hand Heinrichs rechte, die dieser ihm im selben Augenblick entgegenstreckte –, jetzt mußte der erste Reiter zwischen den mächtigen Säulen des Tores hindurch sichtbar geworden sein, denn mit einem Schlage kam ein wirbelndes Leben unter die Masse, auf der Straße und im Salon riefen alle auf einmal »Sie kommen!« und stürzten dahin und dorthin und schleppten die Blumen und Kränze von dem duftenden Berge zu den Fenstern, und als erst einer von der Straße das Hurra gerufen hatte, packte es die Tausenden wie im Fieber, und ein tolles jubilierendes Hurrarufen begann, bald sich steigernd, bald nachlassend, während der Zug sich allmählich näherte.

Die beiden Freunde sahen einander nicht an. Heinrich starrte zur Decke empor und versuchte vergebens, die Tränen zurückzuhalten, die sich ihm vor Lust und Schmerz in die Augen drängten. Victor hatte sein Gesicht dem Salon zugewendet und hörte nicht auf, den Arzt, den Hausherrn, die Fremden, die Kameraden, die Erde und den Himmel, vor allem aber den verdammten Franzosen, der ihn mit dem Säbel getroffen, mit den wildesten Flüchen zu bedenken. Dazwischen rief er mit mächtiger Stimme wie anfeuernd sein »Hurra«, so oft es draußen für Augenblicke ein wenig ruhiger wurde, und preßte Heinrichs Hand, als ob er ihn zum Mitrufen aufmuntern wolle.

Und näher und näher kam der Zug, mächtiger und mächtiger dröhnte der Jubel der Menge herein. Victor schwieg, grenzenlos ergriffen; dann stimmte er, unbeirrt von dem Tosen der Massen, feierlich und ernst sein Lieblingslied an: »Ich hatt' einen Kameraden«. Und enger und enger schlossen sich seine Finger um Heinrichs Hand. Heinrich fühlte, daß das Lied des treuen Genossen heute ihm besonders galt, und wollte mit einstimmen.

Weil aber auch er sich der Macht dieser Weihestunde ganz hingab, so irrte er sich in der Melodie und sang seinerseits ebenso feierlich und ernst sein eigenes Lieblingslied »O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt«.

Keiner von beiden bemerkte es, daß sie verschiedene Lieder sangen. Unverdrossen, oft laut aufschreiend, um ihre Ergriffenheit zu übertönen, sangen sie eine Strophe nach der anderen, und da Victors Strophen jedesmal rascher zu Ende waren als die Heinrichs, so hatte jener Zeit, immer einige Male »Hurra« zu rufen, bevor auch Heinrich absetzte und beide a tempo wieder von neuem begannen. Und wenn einer von ihnen mit seinem ganzen Texte zu Ende war, so fing er getrost wieder mit der ersten Strophe an.

Und immer wilder mußten sie singen, immer öfter mußten sie dazwischen jauchzend aufschluchzen; denn immer näher kam die Spitze des Zuges, immer markerschütternder, immer trunkener tönte der Wirbelsturm der Festfreude herein.

Jetzt mußte ein gefeierter Mann an der Spitze einer neuen Heeresabteilung dicht vor dem Hause angelangt sein. Das ungeordnete Toben vereinigte sich plötzlich wie durch Zaubermacht zu einem Jubelruf, der den Abschluß des Festes zu bedeuten schien. Denn wie konnte dieser Moment noch überboten werden?

Doch jetzt wurde er überboten. Ungeheuer schwoll es an, und als ob all die Bangigkeit, all der erlösende Siegesrausch des langen Krieges sich zu einem Akkord vereinigen wollte, so brach es sich Bahn, laut wie ein Wetterschlag, innig wie ein Gebet.

Die beiden Freunde atmeten schwer, während sie leiser und leiser noch immer ihre Lieder sangen.

Da öffnete sich plötzlich die Tür. Ein wunderbar schönes Mädchen von etwa fünfzehn Jahren trat herein, eine dunkelrote Rose in jeder Hand. Es konnte nur die Tochter des Hauses sein, die Ähnlichkeit mit Herrn von Auenheim war unverkennbar. Nur in einem sah sie bei ihrem Erscheinen weder dem Vater noch der Mutter ähnlich. So lächeln, wie das Kind lächelte, als es über die Schwelle ins Krankenzimmer trat, konnte auf der Welt niemand, niemand wieder.

Tief errötend, aber nicht vor Scham, öffnete sie die Türe. Als sie das seltsame Bild erblickte, die beiden Freunde, die sich innig gefaßt hielten und unbekümmert sangen, da flog das herrliche Lächeln über ihre Züge. Sie lächelte nicht über die Verwundeten und ihr seltsames Treiben. Sie lächelte nur glücklich vor sich hin, weil die furchtbare Erregung der beiden Kranken ihr sagte, daß sie recht gehandelt, als sie das Fenster verließ und den Verwundeten ihren Anteil an dem großen Tage brachte.

Victor entdeckte sie zuerst, und ein unwillkürlicher Druck seiner Hand lenkte auch Heinrichs Blicke zu ihr hin. Einen Moment lang verstummten beide.

Dann begann Victor plötzlich ganz fügsam »O Straßburg, o Straßburg« zu singen; da Heinrich aber zu gleicher Zeit einlenken wollte und darum »Ich hatt' einen Kameraden« anstimmte, so wurde die gewünschte Eintracht nicht hergestellt, und verlegen schwiegen nun beide.

Das Mädchen aber trat ruhigen Schrittes zwischen beide Lager und legte auf jedes derselben eine der beiden Rosen. Und dabei rief sie ganz leise mit einem feinen Stimmchen jedesmal, während sie die Blume mit spitzen Fingern hinlegte: »Hurra!«

Da schien für die beiden die übrige Welt da draußen zu verstummen, sie versank, und von dem ganzen wild entfesselten Tosen hörten sie nichts als das eine feine »Hurra« und sahen sie nichts als das köstliche Mädchengesicht mit dem glückseligen Lächeln. Beide faßten je eine Hand des Mädchens, welches stumm grüßend zwischen ihnen stehen blieb.

Als sie aber merkte, daß die Verwundeten ihre Hände nicht losließen und ihr die Arme schwer zu werden begannen, wollte sie sich niedersetzen. Sie zögerte einen Augenblick. Als aber die leuchtenden Augen des jungen Arztes den ihren begegneten, da setzte sie sich vorsichtig auf den äußersten Rand von Victors Lager. Der Leutnant freute sich darüber, während die Blicke des Mädchens immer wieder zu Heinrich zurückkehrten.

Niemand von ihnen wußte, wie lange sie so wortlos beieinander blieben und lauschten.

Als der Aufruhr auf der Straße sich legte und nur noch das Geplauder von den Fenstern des Salons hereinschwirrte, strich sich das Mädchen, wie unwillig erwachend, die braunen Haare aus der Stirne und sagte, indem sie mit der Miene eines flehenden Kindes die beiden Rosen betrachtete:

»Ich werd's Mama'n gleich eingestehen. Aber bitte, klagen Sie nicht über mich, weil ich gestört habe. Ich weiß nicht, wie's plötzlich über mich kam. Aber die Soldaten waren schon alle bekränzt, und immer noch flogen aus allen Fenstern ganze Blumengärten hinunter. Da dacht' ich, unsere Herren sollen auch ihre Einholung haben. Seien Sie mir nicht böse.«

Und das Mädchen eilte mit gesenktem Köpfchen hinweg. Nebenan forderte der Hausherr die Gäste auf, sich am Buffet ein wenig zu stärken, und Frau Feigelbaum, die am Arm des Hauptmanns vom Tische heruntergesprungen war, rief: »Ja, es fängt doch schon an, monoton zu werden.«

Die beiden Verwundeten ließen die Tür zum Salon schließen. Aber es half nichts, die Stimmung war vernichtet. Auch taten sie nichts, um einander durch Mitteilung ihre Eindrücke in besonders gehobener Stimmung zu erhalten.

Victor nannte die Tochter des Hauses ein schönes Mädchen, und Heinrich widersprach nicht. Dann bemerkte Heinrich wiederum, daß das mit den Rosen ein hübsche Aufmerksamkeit gewesen wäre, und Victor stimmte ihm vollständig bei.

Victor stellte seine Rose in ein Wasserglas und fragte verwundert, wo denn Heinrich die seinige habe. Der gab keine Antwort, aber das philosophische Buch auf seinem Nachttisch zeigte zwischen den Blättern einen verdächtigen Spalt, als ob die Blume da geborgen wäre. Victor wollte necken, aber es gelang ihm heute nicht.

Einige Gäste blieben bis gegen Abend im Hause. Tina hatte die Kranken noch einmal besucht und sich dann rasch verabschiedet.

Spätabends kam noch der kleine Doktor, um sich zu überzeugen, ob die Aufregungen des Tages seinen Kranken nichts geschadet hätten. Er war ziemlich zufrieden, und Victor erhielt schon für morgen die langersehnte Erlaubnis aufzustehen. Zu seiner Überraschung unterblieben die Vorwürfe, die der Arzt von ihm erwartet hatte. Nein, Victor war mit seiner Einholung ganz zufrieden, und er blinzelte den Genossen lachend an. Auch Heinrich sollte binnen acht Tagen das Bett verlassen dürfen.

Herr von Auenheim, dem die Kranken schon angefangen hatten, unbequem zu werden, war nun wirklich gerührt, als er die Freude sah, mit der die jungen Leute ins Leben zurückkehrten.

Zwar, solange Heinrich nicht gesund war, verließ auch Victor nur selten das Krankenzimmer.

Als aber endlich auch der junge Arzt die ersten Gehversuche machte, die so über Erwarten glücklich ausfielen, und der kleine Doktor bald darauf die Herren aus seiner Pflege entließ, da leuchtete aus beiden frischen Gesichtern die helle Genesungsfreude. Ein kleines Fest wurde erst jetzt veranstaltet und beide Verwundeten gleichzeitig feierlich in die Familie eingeführt.

Victor hatte zwar kein Wort darüber gesprochen, aber es war doch eine großmütige Handlung von ihm, daß er sich nicht ohne seinen Freund gezeigt. Wie hatte er ein Wiedersehen mit der schönen Rosenspenderin herbeigesehnt! Aber es schien ein Verrat an Heinrich, das herrliche Wesen allein ansehen zu wollen, das ihnen gemeinsam, wie allen Menschen die Sterne, erschienen war.

Lange konnten sie sich des Umgangs mit der liebenswürdigen, ruhig milden Hausfrau, dem immer gefälligen Herrn von Auenheim und den beiden Kindern nicht mehr erfreuen. Sie waren genesen und mußten sich beeilen, das Schlaraffenleben aufzugeben.

Victor ging mit schwerem Herzen zu seinem Regiment zurück. In einer letzten Unterredung befragte er den Genossen um seine Zukunftspläne. Und Heinrich antwortete, daß er sich in Berlin als Arzt niederlassen wollte. Es war abscheulich von dem Freunde! Wie durfte Heinrich in ihrer Stadt wohnen, während er, der arme Victor, in die Ferne zog und einen neuen Krieg herbeiwünschte, nur um aufs neue verwundet und von Auenheims aufgenommen werden zu können.

Beim Abschiede auf dem Bahnhofe fielen die Freunde einander in die Arme. Dann sprachen sie von gleichgültigen Dingen. Erst als der Zug sich schon in Bewegung setzte, rief Victor zum Fenster hinaus: » Grüß' von mir bei Auenheims – Du weißt schon, wen!«

Heinrich hatte allerdings den Entschluß gefaßt, in Berlin zu bleiben. Wenn ihm Victor oder ein anderer gesagt hätte, daß seine Überlegungen von der Erinnerung an das Lächeln eines fünfzehnjährigen Mädchens gelenkt wurden, so hätte er es jedoch nicht geglaubt.

Er war fortan mit der Einrichtung seiner Wohnung und von den Äußerlichkeiten seiner Ansiedlung so sehr in Anspruch genommen, daß er auf Kleinigkeiten nicht achtete. Und da kein Mensch in der großen Stadt von der getrockneten Rose in seinem Spinoza etwas wußte, so konnte es auch keiner Seele auffallen, daß er beim Wohnungssuchen nicht über die Umgebung der Linden hinaustrachtete – daß er am Ende eine recht versteckte, also für einen Arzt nicht eben passende Wohnung von drei kleinen Zimmern wählte, nur aus Eigensinn, nur um in der Nähe der Linden zu bleiben – daß er in seinem Sprechzimmer zwei Töpfe mit prachtvollen kirschroten samtglänzenden Rosen stehen hatte.

Heinrich hielt den Spinoza jetzt sehr oft in der Hand. Er las zwar selten darin, schlug es auch wohl nur auf, um über das Buch hinweg zu träumen, aber er fand diese Art des Studiums sehr seelenberuhigend und fast noch tiefer ergreifend als den Text. Das ist ja wohl das Schöne an einem solchen Buche, daß man darin oft nur wenige Zeilen zu lesen braucht, um die umgebende Welt, wie vom Gipfel eines Berges, im Lichte der Unendlichkeit zu erblicken. Und in so einem Buche ist eine getrocknete Rose als Lesezeichen nicht zu verachten. Ihre Blätter werden zwar welk und runzelig, aber noch schimmert überall das schöne Rot hindurch, und fast unzerstörbar schleicht ein süßer Duft aus den Blättern der Rose, bald aus allen Blättern des Buches und zaubert dem jungen Philosophen ein wenig Frühling in sein Arbeitszimmer.

Heinrich hatte vollauf Zeit, sich seinen Neigungen, seinen Lieblingsstudien hinzugeben. Niemand in der Stadt kannte den jungen Arzt. Und wenn ja einmal eine besorgte Mutter aus der Nachbarschaft den nächsten Arzt an das Bett ihres todkranken Jungen holen wollte, so wurde Heinrich gewöhnlich zu spät gerufen, um von seiner Praxis mit einiger Zuversicht reden zu können.

Da er ein behagliches Leben gesichert hatte, so machte ihm der Mangel an Patienten weder Kummer noch Sorge. Er hatte so manche wissenschaftliche Aufgabe liebgewonnen, an deren Lösung er bescheiden mitarbeitete. Ohne den Anspruch auf ungewöhnliche Bedeutung zu machen, begann er doch in medizinischen Fachzeitschriften allerlei Mitteilungen über Beobachtungen zu veröffentlichen, die ihn seinen strebenden Kollegen und auch einigen Gelehrten vorteilhaft bekannt machten und ihn allmählich dazu führten, auch persönlich den Berufsgenossen näher zu treten, die sich mit ihm über seine auf Reisen gesammelten Erfahrungen besprechen wollten.

So zogen ihn die ärztlichen Kreise doch hie und da aus seinem einsamen, fast studentischen Leben.

Nur ein beinahe sentimentaler Zug seines Wesens, eine knabenhafte Scheu vor dem geschäftigen, modernen Treiben faßte den jungen Arzt mitunter und führte ihn immer wieder zu seinem Spinoza mit dem welkenden Lesezeichen zurück.

Außerhalb seines Berufskreises hatte Heinrich fast gar keine geselligen Beziehungen.

Natürlich war er auch einige Male bei Auenheims gewesen. Die kleine Eva hatte ihn jedesmal mit einem wilden Freudenschrei empfangen, Clemence ihm mit einem verwirrten Knicks die Hand gereicht. Frau von Auenheim war stets die gleiche, freundliche Wirtin, deren Güte um nichts weniger wohltat, weil sie allen in gleichem Maße zuteil wurde. Das Wesen des Hausherrn jedoch, dem die Besuche vor allem gelten mußten, war ihm zu fremd, als daß trotz beiderseitigem gutem Willen ein herzliches Einvernehmen zustande gekommen wäre.

Als Victor zu Weihnachten ein Fäßchen Wein sandte und in einem närrischen Begleitschreiben nach Auenheims fragte, mußte Heinrich antworten, daß der kleine, wenig beschäftigte Arzt sich in dem aristokratischen Hause ohne den Freund nicht behaglich fühle, daß er seit Beginn des Winters nur zweimal, auf feierliche Einladung, im Frack und weißer Binde, niemals aber auf ein gemütliches Plauderstündchen dagewesen sei. Victor solle die Zurückhaltung nicht für Undankbarkeit halten. Er werde die Familie von Auenheim niemals, niemals vergessen, nur könne er ein seltsames Gefühl nicht überwinden, das ihn an der Schwelle ihres Hauses zugleich banne und fortweise.

Nur im Hause des kleinen Sanitätsrats Friedmann verkehrte er häufiger und fühlte sich inmitten der fröhlichen Familie wohl.

Der vielbeschäftigte Doktor hatte ausnahmsweise einmal einer Sitzung eines Ärztevereins beigewohnt, hier einen kurzen Bericht seines ehemaligen Patienten angehört und den jungen Kollegen trotz der späten Stunde und auf der Stelle mit nach Hause geführt, seiner rundlichen, still geschäftigen Frau vorgestellt und mit den älteren Kindern – die jüngeren lagen schon zu Bett – bekannt gemacht.

Der Sanitätsrat, dessen nervöse Unruhe sofort einem frohen Behagen Platz machte, sobald er über die Schwelle seiner behaglichen Wohnstube trat, sagte dem Gaste auch gleich, daß er ihn schon im Auenheimschen Hause liebgewonnen habe. Aber damals sei ihm noch das zurückhaltende, träumerische Wesen bei einem so jungen Manne nicht recht gewesen. Heute abend habe er aus den ersten Worten der Rede sofort den tüchtigen Fachmann erkannte, und deshalb bitte er um Heinrichs häufige Besuche.

»Nicht daß ich mit Ihnen hier von interessanten Fällen reden möchte! Bewahre! Meine Privatwohnung ist nur ein großes Kinderzimmer, da darf der Beruf nicht hereindringen. Aber ich kann mir nicht helfen: Bevor ich mich einem Menschen anschließe, muß ich wissen, daß er in seiner Art ein brauchbarer Arbeiter ist.«

Heinrich kam oft und gern wieder, wenn auch die ironische Lebensanschauung und das höhere Alter des Sanitätsrats ein intimes Freundschaftsverhältnis verhinderten. Dafür freute er sich jedesmal über die innige Liebe, mit welcher Kinder und Eltern aneinander hingen, und über die freiwillige Beschränkung, die sich die Letzteren in Umgang und Gesprächen um der Kinder willen auferlegten.

Eine kleine Überraschung erlebten beide Ärzte, als Heinrich einmal zufällig von seinem Großvater und der absonderlichen Welt der Zaikerlgasse sprach.

»Auch Sie sind ein sogenannter Jude? » rief der Sanitätsrat. »Nun, ich wünschte, daß dieser antiquarische Umstand Ihnen nicht so vielen Kummer bereiten möchte, wie mir im Anfang meiner Tätigkeit. Der Adel, dessen Stammtafel bis auf Abraham zurückführt, ist kein Segen für die Nachkommen.«

Heinrich fragte erschreckt, ob denn auch im Herzen Deutschlands die Gleichheit der Menschen noch immer nicht vorhanden sei. Der Sanitätsrat zog als Antwort nur die Augenbrauen in komischer Verwunderung hoch. Dann fügte er hinzu: »Sie sind sehr jung, daß Sie noch so fragen können. Die zwanzig oder dreißig jüdischen Familien, welche das an der Börse gewonnene Geld dazu benutzen, um mit unseren alten Aristokraten in Verschwendung und Hochmut zu rivalisieren, diese Handvoll Menschen genügen, um den alten Haß bei Müßiggängern und den kleinen Beamten ohne Gehalt von Zeit zu Zeit wieder aufflackern zu lassen. Wir Arbeiter des Mittelstandes hätten sonst längst all die dummen Geschichten vergessen dürfen. Denken Sie nur an Ihre schöne Freundin Tina Feigelbaum, und Sie werden mich verstehen. Was mich an solchen Leuten immer am tollsten reizt, das ist, daß ihre Fehler und Sünden ganz und gar nicht jüdisch sind. Wenn es überhaupt – was ich leugne – besondere jüdische Stammeseigentümlichkeiten gibt, so gehört dazu sicherlich die Heilighaltung des Familienlebens. Und diese Frauen, auf welche der Neid mit Fingern weist, vernachlässigen ihre Kinder um ihrer Toiletten und Soireen willen, treiben ihre Männer zu wahnsinnigem Gelderwerb und werden am Ende vielleicht sogar schlecht aus Eitelkeit, aus Blasiertheit, aus Nachahmungstrieb, was weiß ich!«

Der Sanitätsrat kam auf diesen Gegenstand noch oft zurück und bestärkte den jungen Kollegen in seinem Entschluß, sich in das nachgemacht vornehme Leben dieser Kreise nicht hineinziehen zu lassen.

Heinrich hatte Tina nach seiner Genesung eine förmliche Visite gemacht, die schöne Frau nicht zu Hause getroffen und auf die entzückenden, zart parfümierten Briefchen, die ihn um Wiederholung, um häufige, gemütliche Wiederholung seiner Besuche baten, höflich, aber ausweichend, am Ende ablehnend geantwortet.

So war der Winter vergangen, ohne daß Heinrichs Stellung sich wesentlich verändert hätte. Zwar gewann ihm eine glückliche Zahnoperation das volle Vertrauen der Portiersfrau, und durch deren Vermittlung sah er von nun an manchen armen Kranken bei sich; aber trotzdem hatte er in seiner Sprechstunde manche müßige Minute, in welcher er in seinem Spinoza das Wesen der Leidenschaften studieren und die philosophische Definition der Liebe bezweifeln konnte.

Eines Nachmittags – es war im April und ein abscheulich naßkaltes Wetter – saß Heinrich ganz allein in seiner Klause. So sehr hatte er sich am Ende in sein Lieblingsbuch vertieft, daß er Zeit und Ort ganz vergaß und nicht darauf achtgab, daß es – bald nach Schluß seiner Sprechstunde – klingelte und im Nebenzimmer ein vornehmes Rauschen hörbar wurde. Erst als der Besuch nach längerem Harren hustete, sprang Heinrich auf, um den seltenen Patienten hereinzuführen. Als er die Tür nach dem Vorzimmer öffnete, glaubte er zu träumen; er blickte in das heitere, unter einem kurzen Schleier errötende Gesicht der Frau Tina Feigelbaum.

Tina tat, als zögere sie, die Schwelle des Sprechzimmers zu überschreiten.

»Sind Sie schon so beschäftigt, lieber Heinrich, daß Sie die Patienten warten lassen dürfen? Was seh' ich da? Na, ich verspreche Ihnen, es nicht weiterzuerzählen, daß Sie während Ihrer Ordinationsstunde Romane lesen. Was denn anders? Natürlich etwas Medizinisches? Unsere Romane sind ja ohnehin fast alle so unappetitlich, als ob sie medizinisch wären! Was? Spinoza? Und das romantische Lesezeichen? Heinrich, Heinrich! Lesen kann ich das Buch doch nicht. Sie müssen mir's ins Deutsche übersetzen, und wenn Sie einmal zu einem gemütlichen Tee in die Tiergartenstraße kommen, dann plauschen wir den ganzen Abend über Spinoza. Warum kommen Sie nie, Sie Abtrünniger?«

Heinrich entschuldigte sich, so gut er konnte. Er war im ersten Momente wie berauscht von der herrlichen Erscheinung. Ihm war der enge Verkehr, ihm war schon die Nähe einer Dame etwas Ungewohntes. Und nun gar diese üppige Gestalt, die sich in seiner Stube so sicher bewegte, als wäre sie in ihrer eigenen Wohnung – diese selbstbewußte Frau im prächtigen Pelzmantel, das glühende Gesicht, dessen Augen unter dem schwarzen, mit großen Federn fast überladenen Hute so spöttisch und verwegen hervorsahen! Zu diesem Weibe hatte er vor Jahren »Du« gesagt, hatte mit ihr gerauft, die Widerstrebende im Spiele gewiß mehr als einmal emporgehoben und in seinen Armen wohl auch eine Strecke weit fortgeschleppt.

Und als Heinrich daran dachte, daß man dieses Weib einst im Ernst und Scherz zu seiner Braut bestimmt hatte, da mußte er seine Augen schweigen heißen, um Herr seines Willens bleiben zu können.

Auch Tina mochte in der kurzen Pause an die Vergangenheit gedacht haben und auch sie fand es recht warm in der Stube. Ohne zu fragen und ohne sich zu besinnen, legte sie den Mantel ab und setzte sich in ihrem knisternden, straff die vollen Formen umspannenden Atlaskleide dem Arzte gegenüber nieder.

»Ich will's Ihnen nur gleich eingestehen, Heinrich, ich komme zu ihnen mit einer Bitte. Es ist nicht wenig, was ich von Ihnen verlange – doch je nachdem. Für manchen anderen wäre es eine Gunst. Heinrich, warum wollen Sie nicht mit mir umgehen? Warum haben Sie sich von mir losgesagt?«

Heinrich faßte ihre Hand und bat für die Vergangenheit um Verzeihung. Er sei menschenscheu. Auch passe er mit seiner bescheidenen, ängstlichen Lebensanschauung schwerlich in das reiche Haus des Millionärs Feigelbaum.

»Eben darum hätten Sie mich nicht verlassen sollen«, rief Tina, indem sie die Hand des Jugendfreundes festhielt und mit ihren weichen, fein behandschuhten Händen zärtlich über seine schmalen Finger strich. »Lassen Sie mich sprechen! Sie wissen ja, wie solche Ehen geschlossen werden! Unsere Vermögen haben sehr gut zusammengepaßt, ich aber, ich passe nicht zu einem Manne, der nicht besser, edler ist als ich.«

Tina war aufgesprungen und maß nun mit heftigen Schritten die Stube, während sie nervös an ihren Handschuhen zupfte und die abgezogenen dahin und dorthin auf den Boden warf. Auch Heinrich hatte sich erhoben und stand ratlos mit glühenden Wangen da.

Tina trat wieder an ihn heran und faßte ihn unter den Arm, wie wenn sie mit ihm auf- und abgehen wollte.

»Heinrich«, rief sie, »nehmen Sie sich meiner an. Man ist nicht umsonst eine schöne Frau und die Frau eines zerstreuten Börsenmannes. Man hört Dinge flüstern, die man nicht hören sollte. Man lernt das Leben als einen großen Handelsmarkt auffassen, auf dem immer nur der augenblickliche Vorteil gilt. Heinrich, auch mein Mann hat mich einst gekauft, freilich von mir selbst, die ich mich blenden ließ von seiner glänzenden Firmentafel, seinem Golde; und nun nähern sich mir rücksichtslose Menschen, Nachkommen der alten Raubritter, die mich lehren wollen, daß mein Mann die Ware ohne Garantie gekauft habe. Heinrich, retten Sie mich!«

Und Tina neigte ihren Kopf erschüttert gegen Heinrichs Brust. Ihr wildes schwarzes Haar duftete zu ihm empor, ihre weiße zuckende Stirn lag im Bereiche seiner Lippen.

Er führte nur langsam seine Hände empor, drängte sie behutsam, nach langem bangen Zaudern, zu einem Sitz und sprach leise: »Arme, arme Frau!«

Sie aber legte, unter Tränen lächelnd, ihre Hände auf seine Schultern und schaute glücklich zu ihm auf. »Warum hast Du Eurer alten Babi nicht gefolgt, Heinrich, und mich nicht zur Frau genommen? Nein, verbiet' es mir nicht, laß mich Dich »Du« nennen wie in unserer Kindheit! Dir hätte ich mich so gern gebeugt. Die Männer, die mir den Hof machen, halten mich alle für herrschsüchtig, für intrigant. Ich bin nur ein hilfloses Weib, das nichts will, nichts sucht als einen Herrn! Und ich bin herrenlos wie ein wildes Pferd, und ich hungere, hungere nach Liebe, Heinrich.«

Heinrich rang nach Fassung. Er wußte, daß er das schöne Weib nicht liebte, nicht so liebte, wie sie es verlangen durfte, und doch wurde es ihm schwer, unsäglich schwer, die Selbstvergessene mit kalten, harten Worten an ihre Pflicht zu erinnern.

Er suchte vergeblich nach milden Worten. Als er aber voll Mitleid auf sie niedersah, da stieß sie plötzlich einen schmerzlichen Ruf aus und eh' er wehren konnte, lag sie schluchzend an seiner Brust.

Heinrich schlang seine Hände um ihren Nacken und bedeckte ihr Haar und Stirn und Augen mit seinen Küssen. Sie blickte auf, öffnete sehnsüchtig die Lippen und flüsterte: »Was mußt Du von mir denken! Deine Rosen haben mich so berauscht!«

Da war der Zauber von Heinrich gewichen.

Zitternd machte er eine heftige Anstrengung, sich aus der weichen, warmen Umarmung zu befreien.

Tina sank in den Stuhl zurück und bat mit aufgehobenen Händen ängstlich: »Sag', daß Du mich liebst!« und als Heinrich schwieg, lachte sie bitter auf, faßte seine Hände, schüttelte sie zornig und sagte leise: »Ich will ja nur eine ganz kleine Liebeserklärung. Du brauchst nichts Neues, nichts Poetisches zu erfinden, Du brauchst Deinen Geist meinetwegen nicht zu bemühen, Du brauchst nicht einmal leidenschaftlich zu reden. Nur einmal möchte ich's von Deinem Munde hören – wie es auch klingen mag –, daß Du mich liebst. Du schweigst? Du liebst mich nicht? Aber ich weiß es ja, Du harter Mensch! Lügen sollst Du um eines schönen, verzweifelnden Weibes willen, ein bißchen lügen! Du sagst mir, ohne Dir was dabei zu denken, drei Worte nach, und ich bin zufrieden!«

Heinrich verbarg das Gesicht in seinen Händen! »Du bist schön«, stammelte er, »Du bist schön! Mehr weiß ich nicht, und lügen kann ich nicht. Ich kann nicht sagen, was Du von mir verlangst.«

Tina stand hoch aufgerichtet vor ihm. Ihr Atem ging schwer. Sie faßte das Nächstliegende, ein Papiermesser, und schlug damit so lange auf den Schreibtisch, bis es zerbrach. Dann griff sie nach dem nächsten Buche.

»Das also lernen Sie aus Ihrem Spinoza? Sie sind ein großes Kind, Heinrich! Um einer Frau willen, wie Tina Feigelbaum eine ist, darf man schon ein bißchen lügen, wenn Herr Professor Spinoza es auch verbieten sollte.«

Sie warf das Buch auf den Tisch, die Rose flog hervor.

»Oder ist es vielleicht nicht der Spinoza, der Sie so pedantisch macht? Ei, liebster Heinrich, schenken Sie mir diese Rose.«

Heinrich sprang auf, nahm ihr die Blume aus der Hand, legte sie mit dem Buche beiseite und begann, zuerst in linkischen Worten, sodann aber mit ruhigem Ernste von ihren Pflichten zu reden. Auch er berief sich auf ihre Kindheit, er beschwor sie, das herrliche Geschöpf, das er in ihr bewundern müsse, nicht leichtsinnig zu zerstören, er bot ihr seine ehrliche Freundschaft und schloß: »Und wenn ich Sie auch liebte, Tina, ich könnte doch nicht anders!«

Tina hatte ihre Handschuhe wieder aufgelesen, ihren Hut vor dem Spiegel geordnet, und während sie die Handschuhe zuknöpfte und den Mantel anzog, hatten ihre Züge sich beruhigt. Sie klopfte dem ernsten Redner auf die Schulter und sagte freundlich: »Sie sind taktlos, lieber Heinrich, sprechen wir lieber von der wichtigen Sache, die mich hergeführt hat. Ich bin unter anderem Vorstandsdame eines Vereins für Pflege armer Wöchnerinnen. Da brauchen wir nun plötzlich einen recht gutmütigen Arzt, der unsere Kranken besucht. Ich war natürlich nirgends selbst, aber es soll schrecklich sein. Sie werden in den Keller und unters Dach kriechen müssen, Heinrich, und das alles ohne Entgelt. Wollen Sie das Amt übernehmen?«

Heinrich sagte lächelnd zu. Tina dankte ihm im Namen des Vereins.

Und als ob die letzte Stunde ein Traum gewesen wäre, plauderte sie noch eine Weile gleichmütig von ihrer reizenden Wohnung, von ihrem großen Verkehr und ihren glänzenden Gesellschaften; dann erinnerte sie sich, daß sie ihren Mann beim Diner nicht warten lassen durfte. Heinrich mußte versprechen, sich bald sehen zu lassen – ein herzlicher Händedruck, und – fort war sie.

Als Heinrich vor dem Schlafengehen wieder nach seinem Buch langte, war die Rose verschwunden.


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