Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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XVI.

Während Heinrich in düsterem Sinnen den Morgen heranwachte, schlief Victor nach der Anstrengung eines tollen Rittes länger als gewöhnlich. Als der besorgte Bursche ihn endlich weckte, sprang er hastig auf. Dann aber, als er die Pistole auf dem Tische sah, sagte er melancholisch:

»Du hättest mich heute schon eine Stunde länger können schlafen lassen, Jochem. Es wird wohl heute ein böser Tag für uns werden.«

Er kleidete sich sorgfältiger wie gewöhnlich an, trank seinen Kaffee, aß dazu sein gewohntes Frühstück, las die Zeitung und ließ sich von Jochem berichten, was während des gestrigen Tages vorgefallen. Als der Bursche Heinrichs Besuch erwähnte, überflog ein Zug von Trauer Victors blühendes Gesicht.

Er schickte den Burschen hinaus und befahl ihm, niemand vorzulassen.

»Und doch«, rief er ihm melancholisch nach, »wenn eine Fee kommt, so lasse sie ein. Ich könnte eine Fee wohl brauchen.«

Er war allein. Stumm nahm er die Pistole, prüfte das Schloß, legte die Waffe wieder auf das Tischchen, warf sich auf das Sofa und murmelte:

»Es ist doch ein seltsames Gefühl, an seinem Todestage aufzustehen!«

Dann verglich er seine Taschenuhr mit dem Zifferblatt ihm gegenüber.

»Die Pendule geht zehn Minuten nach. Verfluchter Faulpelz, der Jochem. Aber was verpflichtet mich, meine Taschenuhr nach der Normaluhr zu richten? Justament will ich heute nach der Wanduhr leben – zehn Minuten länger.«

Es war halb elf Uhr. Victor zündete sich eine Zigarre an und blies den Rauch in künstlichen Ringen von sich. So lag er eine halbe Stunde da, ohne zu denken, ohne zu wollen; er spielte den Toten. Es ging vortrefflich. Noch eine Stunde, dann gab es ein wenig Spektakel, und alles war wieder wie zuvor. Auf dem Sofa lag etwas wie ein Mensch, dachte nicht und rührte sich nicht.

Minute um Minute verstrich. Victor nahm die Pistole wieder zur Hand. War es nicht besser, er machte gleich jetzt ein Ende und wartete das Signal da drüben vom Zifferblatt nicht ab, wo das ewige Ticktack den Harrenden zu verhöhnen schien?

Nein, es wäre nicht guter Ton, dem Gläubiger das Geld zu früh ins Haus zu bringen. Und dann – vielleicht kam die Fee wirklich!

Wenn plötzlich Evchen, das süße, süße Evchen eintrat und den guten Jungen bat, er möchte doch am Leben bleiben, konnte Victor ihr die Bitte abschlagen? Er hätte ja selbst so gern weiter gelebt.

War denn wirklich keine Rettung mehr möglich? Nein, keine! Das eine hatte er unter lästigem Grübeln auf dem unvernünftigen Ritte doch herausgebracht, daß er niemandes Hilfe in Anspruch nehmen durfte.

Aber wenn niemand seine Lage kannte – und niemand durfte sie kennen, wenn er sich selber treu bleiben wollte – wer sollte ihm Hilfe bringen?

Die Fee!

Wenn jetzt plötzlich der Schreibtisch sich öffnete und aus einem verborgenen Schubfach zwei Gnomen hervortraten und ihm eine große, große Kiste mit Gold und Juwelen überreichten, war es dann wohl noch Zeit, die große Kiste auf einen Wagen zu packen, zum alten Isaak zu fahren und dort den Schuldschein einzulösen? Es fehlten noch vierzig Minuten an zwölf Uhr.

Und wenn Heinrich plötzlich erschien, sich von Jochem nicht abweisen ließ, ins Zimmer drang und die selbstverständliche Mitteilung machte, vor der Tür stehe eine Wagenladung afrikanischen Goldstaubs? Die Königin von Golkonda habe ihm zehnmal soviel für das glückliche Ausziehen eines Jahres zum Geschenk gemacht. Heinrich bringe dem Freunde das kleine Angebinde von der Reise mit. Durfte er dann den Freund als Bürgen zum alten Juden schicken und auf die Rückkunft warten, auf die Gefahr hin, seine Schuld ein paar Minuten zu spät zu bezahlen?

Und wenn das Lotterielos, welches er vor vielen Jahren einmal mit einem Kameraden zusammen geerbt und seitdem in Verwahrung des Kameraden gelassen hatte, plötzlich den großen Treffer gewann – reichte sein Anteil hin, um ihm das Leben zu retten? Aber bis zur Ziehung vergingen noch wer weiß wie viele Wochen, und in zwanzig Minuten war es Mittag.

Und wenn der alte Freiherr von der Egge ihm gerade heute einen Besuch abstatten wollte? Sollte er dem Burschen nicht doch den Auftrag geben, ihn vorzulassen? Dann durfte Victor dem Gaste die Hand reichen und sprechen: »Bester Herr, Evchen und ich wären ein vortreffliches Paar geworden. Ich glaube sogar, wir lieben einander. Aber mir fehlen augenblicklich ungefähr zweimal hunderttausend Mark. Und weil sie mir fehlen, muß ich mich erschießen. Sie, bester Herr, wollen Ihrer Enkelin ein großes Vermögen schenken. Geben Sie mir davon doch gleich, was ich brauche! Es ist nicht meinetwegen, wahrhaftig nicht. Es ist nur, damit Evchen nicht weinen muß!«

Und das alles wäre ehrlich und wahr, aber Victor würde es doch nicht sagen. Übrigens ist nur noch eine kleine Viertelstunde Zeit, und der alte Egge wird wohl kaum kommen.

Wenn aber der alte Isaak kommt, mit großmütiger Herablassung den Schuldschein auf den Tisch legt und spricht: »Ich schenke Dir Dein Leben! Denke fortan besser von jüdischen Wucherern! » – darf der Leutnant sein Leben vom alten Juden zum Geschenk nehmen? Eine schwierige Frage, die im Regiment verschieden würde beurteilt werden. Man müßte sich wenigstens mit dem alten Schuft für alle die Foppereien schlagen können. Kann man sich aber mit einem jüdischen Wucherer schlagen? Und wenn – darf man sich mit seinem Lebensretter schlagen? Und wenn – würde der alte Isaak nicht seine großmütige Verzichtleistung rasch wieder zurücknehmen, wenn er sich durch sie einem Duell mit dem großmütig Geretteten aussetzte?

Victor lachte einen Augenblick lustig auf. Dann wurde er sehr ernst. Jetzt war es auf seiner Taschenuhr gerade Mittag; er wußte es, aber er schaute nicht nach. Er blickte nur auf das Zifferblatt an der Wand. Der Pendel ging gleichmütig hin und her, wie ein Schnitter bald rechts, bald links ebenmäßig seine Sense führt. Und wenn man den großen Zeiger genau ansah, so konnte man verfolgen, wie er leise seine Stelle veränderte und nach unglaublich kurzer Zeit beim nächsten Minutenstrich angelangt war. Noch neun solche Minutenstriche und – paff!

Victor spannte langsam den Hahn, ohne die Augen von dem Minutenzeiger abzuwenden. Ein Schauder überflog seinen Körper. Aber mit eiserner Kraft zwang er seinen Willen.

Das Nichts! Da liege ich, ohne irgend etwas zu fühlen oder zu denken. Freilich, die Zigarre ist ausgegangen. Ich bin zu energielos, um sie wieder anzustecken.

Das Nichts! Der Zeiger berührt wieder einen schwarzen Strich. Noch sechs solcher Striche, und ich drücke die Pistole genau so los, wie ich sie tausendmal abgedrückt habe. Genau so, nur in etwas anderer Richtung. So etwa. Und dann gibt's genau einen ebensolchen Knall wie sonst. Und dann ist wieder nichts. Und ich liege da, ohne was zu fühlen oder zu denken. Und »Evchen!« werde ich auch nicht mehr rufen können.

Noch fünf schwarze Striche! Dann hinüber in die andere Welt.

Wehe dem alten Isaak, wenn Victor ihn wider Erwarten drüben finden sollte. Er wird dem alten Wucherer mit dem ersten besten Fixstern den Schädel einschlagen, sodann reumütig vor Gottes Thron treten und sprechen: »Entschuldige, lieber Herrgott, daß ich nicht so geduldig war wie Du! Der alte Isaak war reif!« Schon ist das flehentliche Wimmern des alten Juden zu hören. Nein, nein, es hilft dir nichts! Der Schädel wird dir eingeschlagen!

Was war das? War Victor denn wirklich schon tot und in der anderen Welt?

Hörte er jetzt nicht deutlich und unverkennbar die Stimme des alten Isaak, wie er um Einlaß bittet, ehe es zu spät ist?

Victor wollte vom Sofa aufspringen, aber die Überraschung war zu groß. Er sank zurück und schloß die Augen.

Und die Tür flog auf. Ein Frauenkleid rauschte herein, ein leichter schmächtiger Körper warf sich über Victor und eine fremde, heisere, ersterbende Stimme rief jubelnd:

»Er lebt! Vater, er lebt! Wir kommen nicht zu spät!«

Langsam, langsam, wie nach schwerer Krankheit erwachend, öffnete Victor seine Augen. In der weit aufgerissenen Tür stand der alte Isaak Feigelbaum, den Hut in beiden Händen, die grauen Haare ungekämmt, das Gesicht durch Schmutz, Tränen und Bartstoppeln entstellt. Hinter dem Alten blickte Jochem furchtsam herein.

Auf den Knien, den Oberkörper über den Leutnant geworfen, lag ohnmächtig ein junges, krankes Weib, in Fieberschauern zitternd. In der Rechten hielt sie ein Blatt Papier – es war der Schuldschein – gegen Victors Brust ausgestreckt. Mit der Linken hatte sie krampfhaft die Pistole gefaßt.

Es war Emma, Freifrau von der Egge.

Victor faßte rasch seine Lebenskraft zusammen. Er glaubte die Szene richtig zu verstehen, wenn er sich – für den Augenblick wenigstens – seiner Schuld ledig fühlte. Er stand vorsichtig auf, legte den ohnmächtigen Körper liebevoll auf das Sofa und brachte schnell, während Jochem zu einem Arzt laufen mußte, Erfrischungen herbei. Der alte Isaak stand noch immer – ein Bild des Jammers – in der Tür. Als Victor sich wieder um die Kranke zu schaffen machte und ihr ein paar Tropfen Wein einzuflößen suchte, fuhr der Alte plötzlich zusammen und zeigte heftig, ohne sich von der Stelle zu rühren, ohne zu sprechen, nach Emmas linker Hand. Furchtbare Angst malte sich in seinen Augen. Victor verstand nicht. Endlich nahm er – wider Willen lächelnd – die Pistole aus Emmas Hand und legte sie beiseite. Der Alte beruhigte sich, zeigte aber wieder auf seine Tochter, indem er mit dem Kopfe nickte und bei jedem lauten Schritte Victors mit Hand und Mund um Stille bat, als schliefe die junge Frau.

Die Uhr schlug zwölf.

Victor winkte zurück. Er glaubte, der Alte wolle seinen Schein wieder haben und versuchte, das Blatt aus der Hand der Ohnmächtigen zu nehmen.

Da erwachte Emma. Die Fieberröte war plötzlich von ihr gewichen, sie sah furchtbar blaß aus. Aber einen glücklichen, dankbaren Blick sandte sie aus den großen, tiefliegenden Augen zur Zimmerdecke empor. Sie versuchte zu sprechen und bewegte mit sichtlicher Anstrengung die Lippen, aber nur ein leises Röcheln drang hervor. Da wandte sie den Blick freundlich bittend ihrem Vater zu. Er sollte für sie sprechen. Der Alte verstand die Miene, trat an das Sofa heran und sprach so leise, als fürchtete er, der Kranken mit dem Laut seiner Stimme wehzutun:

»Soll ich dem Herrn Leutnant...? Ich versteh' schon, Du brauchst nicht zu nicken und nicht zu schütteln, Emmaleben, mein Goldkind. Ich versteh' schon Deine Augen. Ob ich Deine Augen versteh'! Ich soll dem Herrn Leutnant...? Herr Leutnant, es wird mir schwer, Ihnen zu... Sie können sich's denken! Aber kann man ihr etwas abschlagen? Wie sie daliegt! Nein, Emmaleben, ich bin ja schon still. Ich schrei' nicht, ich wein' nicht.

Also vor vierzehn Tagen, wie ich will eben schließen alle Fenster, fährt ein Wagen vor. Wer war's? Ich bin ja schon still, Emmaleben, Du siehst doch! Mein Kind liegt im Wagen, liegt! Wir haben sie hinaufgebracht!

Vierzehn Tage hat sie gelegen in Fieber und hat geredet schreckliche Dinge. Heute vormittag – ich habe beständig nach der Uhr gesehen – Sie gewiß auch, Herr Leutnant, entschuldigen Sie –, heute vormittag wird's etwas besser, sie kann sprechen. Und was ist das erste, was sie ihrem alten Vater sagt? Was? Daß sie nach Hause kommt, um zu sterben!«

Isaak brüllte bei diesen Worten auf wie ein gepeinigtes Tier. Doch besann er sich rasch und fuhr mit kraftloser Stimme fort:

»Ich weiß schon, Emmaleben. Ich bin schon ganz still. Ich hab' leider gesehen, daß sie wirklich sehr... Nu, was soll ich mich genieren, da hab' ich ihr wollen eine Freude machen und hab' ihr alles erzählt. Was ich ihr hab'...?«

Der Alte richtete sich hoch auf und blickte dem Leutnant mit unlöschbarem Haß in die Augen.

»Ich hab' ihr gesagt, daß ein Herr von der Egge hat gemacht mich zum Bettler und, was schlimmer ist, zum Hahnrei meinen Sohn. Mein Julius ist gewesen ein Esel, meine Schwiegertochter ist gewesen eine... ich bin ja schon still! Aber ein Herr von der Egge hat meinem Sohne die größte Schmach angetan, die einem Judenkind kann widerfahren. Er hat ihm verführt sein Weib. Emmaleben, ich habe es müssen erzählen. Und außer dem Julius, dem.... hab' ich gehabt, gehabt! – hab' ich gehabt noch ein Kind, Emmaleben, mein Goldkind!«

Und schreiend und wimmernd stürzte der Alte nieder und verbarg seinen Kopf im Kleide Emmas. Victor mußte sich abwenden, um seines Mitleids Herr zu werden. Der Alte erhob sich wieder und sprach tonlos weiter:

»Ein Herr von der Egge hat genommen mein Goldkind zur Frau. Ich bin ja schon still. Nu, Sie wissen ja. Sie werden sich auch können denken, wenn Sie nicht sind ein Engel ohne Blut und ohne Wärme, wie ich hab' gehaßt die Herren von der Egge. Gebetet habe ich an jedem hohen Fest, daß Gott – Gott soll mir's verzeihen! – mir soll in die Hände liefern einen von die Egges, daß ich ihm kann die Seele aus dem Leib drehn, wie sie mir haben... Nu, ich habe keinen bekommen persönlich unter meine alten Hände. Aber Sie, Herr Leutnant, hat mir einer gesagt – ich nenn' ihn nicht, Emmaleben –, Sie sind verlobt mit der Eva von der Egge. Ist doch einer aus der Familie, hab' ich mir gedacht, und der Eva von der Egge wird das Herz brechen, wie es ist gebrochen... Fühlst Du Dich besser, Emmaleben? Willst Du selbst weiter erzählen? Nein? Auch gut. Sei nur ganz ruhig.

Nu, hab' ich mich also an das alles wieder erinnert und um meiner Tochter eine Freude zu machen in ihren schweren Leiden, hab' ich ihr erzählt, was ich hab' gemacht für ein Geschäft mit Ihnen, Herr Leutnant. Es ist gewesen ein faules Geschäft. Hat mich gekostet vierzigtausend Mark bar und sechzigtausend Mark, womit ich hab' müssen abkaufen dem Bumcke seinen Anteil. Ich hab' sie ausgezahlt mit Wut gegen den Bumcke, der mich ausgelacht hat, weil ich anfang' zu machen Geschäfte aus Liebe und aus Haß. Zwanzigtausend Mark extra hab' ich müssen geben dem Bumcke für Ihr Leben... Schon gut, Emmaleben, ich komm' zu End'.

Ich hab' also meine Tochter damit getröstet, daß Sie sind in noch schlimmerem Zustand als eine arme Kranke. Ich hab' ihr erst nicht gesagt Tag und Stunde, weil ich mich hab' gefürchtet vor ihren Augen. Sie aber hat dagelegen ganz still, hat Komödie gespielt mit ihrem eignen Vater und hat nur freundlich gefragt, wann der Wechsel fällig ist. Da hab' ich an ihre schwere, schwere Krankheit gedacht und an mein Elend und hab' wieder auf die Uhr gesehen und hab' gelacht. Und Emma schreit: »Heute, Vater?« – »Ja, in einer Stunde!« hab' ich gerufen. Leider! Nu, nicht leider; wie Du willst, Emmaleben. Sie ist erst in Ohnmacht gefallen. Dann aber hat sie die Augen wieder aufgemacht, hat mich fürchterlich angesehen und hat gesagt: »Ich will Dich nicht betrügen, Vater«, hat sie gesagt. »Ich werd' keinesfalls lange mehr leben. Das aber sage ich Dir«, hat sie gesagt, »wenn Victor« – sie hat Sie so genannt – »wenn Victor durch Deine Schuld stirbt, so sterb' ich im Spital! Ich bleib' in der Todesstund' nicht bei einem Mörder!«

Was hab' ich sollen machen? Ich hab' gesagt, sie soll befehlen, ich werd' alles tun. Da hat sie gesagt: »Schenk mir den Schuldschein und hol einen Wagen.« Der Schuldschein ist ohnehin schon den ganzen Tag in meiner Tasche gewesen, damit ich mich könnt' trösten mit seinem Anblick. So sind wir hierher gekommen, und Ihr Bursche hat uns hereingelassen, wie meine Tochter ihn nur hat angesehen. Geht's Dir besser, Emmaleben, mein Goldkind?«

Victor stand erschüttert neben der Kranken. Schwer atmend öffnete Emma wieder die Lippen und lispelte »Näher!« Dann: »Wem gehört der Schuldschein, Vater?«

Der Alte sank wieder nieder:

»Dir, mein Goldkind, Dir allein! Du sollst mich nicht einen Mörder nennen in der Todesstunde!«

Die kranke Frau lächelte den Leutnant an:

»Hier nehmen Sie. Ich bin ja vielleicht bald eine Verwandte von Ihnen.«

»Nehmen Sie«, bat auch der Alte, »meiner Tochter zuliebe.«

Victor zögerte. Emma blickte ihn mit rührendem Entsetzen an.

»Wollen Sie«, sprach sie mit großer Anstrengung etwas lauter, »von einer jüdischen Frau nichts geschenkt nehmen? Verachten Sie auch noch die Sterbende?«

Victor beugte sich herab und nahm das Blatt aus der kalten Hand entgegen.

»Sie halten mich für sehr leichtsinnig, meine Gnädige«, sagte er leise. »Aber ich versichere Ihnen, ich wäre trotzdem sehr ungern gestorben und bleibe furchtbar gern leben. Es konnte mir gar kein größerer Gefallen geschehen, als von Ihnen gerettet zu werden.«

Emma senkte in stillem Glücke die Lider. Ein Strahl reinen Entzückens traf den jungen Mann, während die Tränen unaufhaltsam über ihre Wangen niederliefen.

»Ist es wahr, daß Sie und Evchen verlobt sind?« fuhr sie nach einer Weile fort.

»Noch nicht«, sagte Victor. »Aber wenn ich nicht irre, so lieben wir einander herzlich.«

Wieder lächelte Emma in stiller Freude und faltete die Hände über Victors rechter Hand zusammen. »Seid glücklich«, sagte sie und lag dann eine Weile, ohne sich zu regen.

Eben drohte eine neue Schwäche sie zu übermannen, als der Arzt eintrat, ein Regimentsarzt, dessen nahe Wohnung Jochem gekannt hatte.

Victor zog sich in sein Schlafzimmer zurück. Isaak folgte ihm und überließ sich dort rücksichtslos seinem wütenden Schmerze. Sein Tuch stopfte er zwar in den Mund, damit Emma ihn nicht hören konnte, aber mit den Fäusten schlug er um sich und hob sie drohend zum Himmel empor. Dann und wann murmelte er etwas zwischen den Zähnen hindurch, man konnte nicht sagen, ob Flüche oder Gebete oder beides zugleich. Endlich warf er sich hart auf den Boden hin und schluchzte kaum hörbar in den Fußteppich hinein, während sein ganzer Körper sich zuckend hin und her warf.

Victor hatte den Mann, der ihn so tödlich haßte, anfangs gewähren lassen. Jetzt dauerte ihn der Jammer doch wieder und er versuchte, ihm zögernd Trost zuzusprechen. Isaak stöhnte.

»Lassen Sie mich! Meine Tochter hat mir heute gesagt, daß Sie und Ihre Braut immer sehr gut zu ihr waren. Ich bedauer's auch gar nicht mehr, daß ich den Schuldschein... Aber der Kurt! Wenn ich ihn... mit meinen alten Zähnen wollt' ich... Und er lebt! Und meine Tochter stirbt! Emmaleben, mein Goldkind! Herr Leutnant, Sie haben Ruhm und Schönheit und Weiber und Lust und Schmaus und alles, ich aber bin ein alter Jud' und habe nichts als mein Kind! Emmaleben, mein Goldkind!«

Und wieder schrie der Alte auf und drückte sein Gesicht in den Teppich.

Der Doktor trat ein und bedeutete Victor mit einem Wort und einem Wink, daß Emma höchstens noch einige Tage zu leben habe. Dann ordnete er an, daß die Kranke sorgfältig verwahrt nach Hause und zu Bette gebracht werde. Victor erbot sich, seine Wohnung der armen Frau und ihrem Vater einzuräumen. Aber der Alte schrie: »Bei mir, bei mir!« Und auch der Arzt erklärte die Anstrengung der Fahrt bei der augenblicklichen hochgradigen Aufregung der Kranken für wenig erheblich.

So kehrten alle zu Emma zurück, die sie mit mattem Lächeln empfing. Der Arzt empfahl sich.

Emma bat ihren Vater, hinunterzugehen und den Wagen in Ordnung zu bringen, die mitgebrachten Polster zurechtzulegen. Als der Alte zögerte, bat sie: »Geh Vater, ich möchte den Leutnant um etwas bitten!«

Isaak ließ sie allein.

»Meine Gnädige«, begann Victor, »zwischen uns sind höfliche Redensarten überflüssig. Sie haben mir mein junges Leben geschenkt. Fordern Sie es wieder? Befehlen Sie und ich gehorche. Soll ich mich aber mit einer Person, die Sie gekränkt hat duellieren, so tue ich's für Sie mit besonderem Vergnügen.«

Emma zuckte zusammen. Dann flog über ihr verkümmertes Gesicht eine leichte Röte, daß sie aussah wie ein Kind. Und mit geschlossenen Augen, mit abgewandtem Gesicht flüsterte sie:

»Ich schäme mich. Aber ich habe Eile. Ich habe ein Geldgeschäft. Ich brauche kein Versprechen, kein Ehrenwort, hören Sie mich nur an. Ich habe Ihnen den Schuldschein gegeben. Zerreißen Sie ihn vor meinen Augen. So! Ich hab's gehört. Sie sind meinem Vater – nichts mehr – schuldig. Aber mir – zweimal Hunderttausend, nicht wahr? Das sind Sie – mir – schuldig. Ich vermache dieses Vermögen – Sie wissen – ich – vermache alles – meinem Mann. Sobald Sie können, geben Sie es ihm.«

Emma öffnete die Augen, um Victors Gesicht zu sehen. Er verzog keine Miene, sondern verbeugte sich nur zum Zeichen der Zustimmung. Emma fuhr fort:

»Er ist ein Kavalier. Er darf nicht hilflos sein. Geben Sie's ihm, Victor, und sagen Sie ihm« – sie schloß wieder die Augen – »ich habe ihn bis zur Todesstunde geliebt und er – er – hat mich sehr – sehr glücklich gemacht. Mein Leben war schön durch ihn. Ich habe ihn geliebt und sterbe. Das ist – sehr schön.«

Sie schwieg erschöpft.

Als der Alte zurückkehrte, um seine Tochter nach Hause zu bringen, fand er den Leutnant über die Kranke gebeugt, die Lippen auf ihre Hand gepreßt.


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