Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV.

Unten hatte indessen Kurt ein paar bange Stunden verlebt. Mit raschen Schritten, wie ein wildes Tier im Käfig, ging er vor dem Hause auf und nieder. In seinem Hirn wogte es. Seine Augen funkelten vor Begierde. Seitdem er in dem heutigen Morgenblatte die Nachricht gelesen, daß das Schiff untergegangen, sah er sein Glück gemacht.

Er erinnerte sich noch, wie er gleichmütig die telegraphische Nachricht las, das Panzerschiff sei verunglückt, wie es ihm dann urplötzlich einfiel, Bruno sei auf diesem Schiffe gewesen, wie er aufsprang, wie er einen Wagen nahm und zu allen Behörden fuhr, um Gewißheit zu haben. Er hatte viel heucheln müssen seit dem Morgen, aber der Preis war ein hoher.

War Bruno tot, so war er der einzige Egge außer dem alten Freiherrn. Und wenn ihn der Alte noch so bitter haßte, wenn er ihn auch eben jetzt schmachvoll behandelt hatte, der einzige Egge ließ sich nicht so einfach beiseite schieben. Und dann – Kurt erinnerte sich des letzten Gesprächs, das er mit dem Alten geführt. Hatte er ihn nicht beinahe wie einen reuigen Sünder behandelt? Hatte er nicht den Wunsch ausgesprochen, Kurt durch Clemence gebessert zu sehen?

Und Kurt schlug sich bei diesem Gedanken mit dem Stöckchen auf den Schenkel, daß es lustig knallte. Wenn es ihm gelang, Clemence zu gewinnen, wenn er seine alten Verführerkünste noch zu üben imstande war, dann war auch der Alte leicht zu bestimmen, ihn wieder in Gnaden aufzunehmen. Und warum sollte es nicht glücken? Clemence war eine sentimentale Seele, der es gewiß Freude machte, einen gefallenen Engel wieder emporzuheben. Auch hatte sie ihn immer mit großer Rücksicht behandelt. Ihr Herz? Bah, das war wohl unschädlich. Sie ließ sich von dem gelehrten jüdischen Arzte ein wenig den Hof machen, war also nicht anderweitig gefesselt. Oder sollte die Sache mit dem Doktor Wolff ernster sein?

Auch gut, dann wurde Clemence alte Jungfer – denn heiraten konnte sie doch den Mediziner nicht –, und für Kurt blieb Brunos ganzes Erbe, das Gut und Evchen, die ihm eigentlich noch lieber war als Clemence. Evchen war keine so ernste Schönheit, aber just hübsch genug für ihn, heiterer, menschlicher als Clemence und flößte nicht so viel Respekt ein.

Plötzlich lachte Kurt lustig und bitter auf. Da baute er in seinem Kopfe wunderliebliche Luftschlösser und vergaß ganz und gar, daß in Italien, irgendwo in einem grünen Nest, seine Frau saß oder wahrscheinlich im Bette lag.

Denn sie war ja krank, sehr krank. Kurt hatte zwar seit vielen Wochen keinen Brief von ihr erhalten oder doch keinen gelesen, aber gebessert hatte sich ihr Leiden gewiß nicht. Eher konnte er einmal durch das Gegenteil überrascht werden.

Würde er darüber erschrecken? Ja und nein. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen war er selbst über seine Wünsche unklar. Seine Lage war kritisch geworden.

Blieb sie leben, so dauerten ihre Geldsendungen fort. Wenn sie das lumpige Geld hätte durch ihrer Hände Arbeit verdienen müssen, so hätte er es ja nicht angenommen. Natürlich nicht! Aber so? Der alte Isaak war immer noch reich wenn man ihn auch entsetzlich ausgepreßt hatte, dem elenden Wucherer blieb immer noch etwas –, wenn Kurt aber von ihm Geld verlangte, wurde er doch mit Flüchen abgewiesen. Was war zu tun? Der alte Isaak schickte seiner Tochter unbedingt, was sie verlangte. Er bildete sich ein, daß seine Tochter in Italien irgendwo einen goldenen Palast bewohnte, und bemaß seine Geldsendungen danach. Wenn nun Emma sich mit einer Pension zu fünf Francs begnügte und alles übrige als treue Gattin ihrem Manne nach Hause schickte, so war das doch nur ganz in der Ordnung? Oder hätte Kurt von der Egge ein häßliches, krankes Judenmädchen geheiratet, auch wenn sie arm gewesen wäre? Was ging es ihn an, daß Tinas Luxus, die Gutmütigkeit der Tochter und die Spekulationen des Sohnes den Alten zu ruinieren anfingen!

Und das Geld, das Emma sandte, betrug noch immer große Summen. Er konnte bis heute recht, recht gemächlich davon leben. Wenn Emma nun plötzlich starb, so versiegte diese Quelle und er stand dem Freiherrn sofort als armer Schlucker gegenüber, nicht in der angenehmen Stellung eines wohlhabenden Mannes. Das war der Nachteil der einen Chance.

Wenn Emma aber leben blieb, d. h. noch einige Jahre sich hinschleppte, so galt er dem Freiherrn immer als der verächtliche Schwiegersohn des alten Wucherers, so mußte er bei Auenheims in der langweiligen Rolle eines traurigen Strohwitwers auftreten und konnte vor allem natürlich nicht um die Hand eines der Mädchen werben. Mochte es also kommen wie es wollte, er durfte nicht länger der Mann dieser Emma bleiben.

Wenn er sich aber sofort, rasch noch vor ihrem Tode von ihr scheiden ließ!

Triumphierend durchzuckte dieser Einfall Kurts Gehirn. Wenn er sich von ihr scheiden ließ? Wenn er ihr die Sache so darstellte, daß er aus Familienrücksichten eine standesgemäße Ehe eingehen müßte? Emma war edel genug, selbst darauf einzugehen. So ging's! Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Emma sandte, solange sie seine Frau hieß, natürlich nach wie vor, was sie erübrigen konnte. Kurt aber stand von dem Tage an, wo die Scheidungsklage erhoben wurde, seiner Familie als der verlorene Sohn gegenüber, der die Millionen seines Schwiegervaters verschmähte, um zu den Seinigen zurückkehren zu können. Kurt lächelte selbstzufrieden. Not macht klug, dachte er.

Wenn nun aber Bruno am Ende gar nicht tot, wenn er gerettet war? Kurt erblaßte bei dem Gedanken, so sicher hatte er bereits auf seine Erbschaft gerechnet.

Er hatte in der wilden Jagd seiner Gedanken, wie auf dem Pirschgang nach dem Glücke völlig übersehen und überhört, was um ihn her vorging. Jetzt erst bemerkte er, daß ein förmlicher Auflauf vor der Redaktion entstanden war. Seine erste Sorge war das Schiff, von welchem Nachrichten eingelaufen sein konnten. Er trat hinzu und vernahm die Kunde von dem Verbrechen. Und wieder starrte er wie geistesabwesend vor sich hin.

Er versuchte, das Gehörte seinen rastlos arbeitenden Gedanken einzuschalten. Aber neben der Frage nach Brunos Schicksal hatte heute keine andere Regung Raum. Mitten im Getümmel, das sich um ihn her erhob, wartete er mit gefurchter Stirn auf die Liste der Toten oder der Geretteten und schritt – jetzt etwas abseits vom Getümmel – ungeduldig auf und nieder.

Er sah nicht, wie die Bewohner der Umgegend in ihren Hausanzügen auf die Straße traten, um nachbarlich über das Vernommene zu plaudern, sah nicht, wie die Pferdebahnwagen leer nach den Toren zufuhren, dafür aber gefüllt mit bestürzten, mitten im Vergnügen des Sonntagnachmittags aufgestörten Bürgern von den Gärten der Vororte zurückkehrten. Er sah nicht die geballten Fäuste, die auf jeden schlechten Patrioten niederzufallen drohten, sah nicht die mißtrauischen Blicke, die einen Verschworenen, einen Königsmörder hinter jedem Gleichmütigen vermuteten.

Er rechnete und rechnete, er überlegte wie im Kartenspiel alle Möglichkeiten, welche in dem beginnenden neuen Kampfe den Gewinn ihm zuführen konnten. Bruno mußte vor allem tot sein! Wenn der Junge bei einer Katastrophe wie dieser davonkam, dann gab es für den, der sich mit Vergnügen der Hölle verschrieb, keinen gefälligen Teufel mehr, dann war's wirklich das beste, sich totzuschießen, durchzugehen oder tugendhaft zu werden. Nein, Bruno mußte tot sein!

War ja doch selbst Brunos Tod nur ein Lächeln des Glücks, nicht eine Umarmung. Kurt war nicht so ohne weiteres Brunos Erbe. Es zu werden, nachdem der Tod erst Gewißheit war, darum mußte er ringen. Er mußte einmal zeigen, daß er auch ernste Pläne durchzuführen vermochte. Er war zu alt, um sich eine solche Gelegenheit entschlüpfen zu lassen. Hier war jedes Zögern ein Verbrechen gegen sich selbst. Wer ihn am Zögern hinderte, wer ihn vorwärts schob, war sein Feind! Jeder!

Plötzlich forderte jemand in Kurts Nähe die Anwesenden zu irgendeiner loyalen Kundgebung auf. Alle schrieen mit, nur Kurt, der nicht gehört hatte, schwieg; jetzt fühlte er aber doch, wie die feindlichen Mienen auch ihm galten und er hier nicht länger unbelästigt bleiben würde. Er durfte aber seinen Posten nicht verlassen, er konnte die Sicherheit über Brunos Schicksal nicht anderswo erwarten; er mußte den Alten sofort nach der Botschaft beobachten können.

So wandte er sich denn nach kurzem Besinnen dem gegenüberliegenden Restaurant zu. Wenn er dort am Fenster Platz nahm, konnte er in Ruhe überlegen und den Eingang zur Redaktion im Auge behalten.

Kaum war er jedoch in dem Gastzimmer eingetreten, als er von einem fröhlichen »Willkommen, Herr Hauptmann!« begrüßt wurde. Unangenehm überrascht, in einer Weißbierstube erkannt zu werden, wandte er sich der Stimme zu. Hart am Fenster, an dem einzigen Tische, der ihm dienen konnte, saß Dr. Stropp neben einem dicken Herrn, der sich eben mit einem bunten Taschentuche den Schweiß von der Stirne wischte. Kurt machte gute Miene und setzte sich heran. Stropp aber begann sofort, ihn damit zu necken, daß er hier die Nachricht abwarte, ob sein Vetter tot sei oder nicht.

Als Kurt sich solche Späße verbieten wollte, rief Stropp lachend:

»Das ist ja nur Bumcke, der darf alles hören. Bumcke, der Sozius ihres Schwiegervaters – Herr Hauptmann a. D. Kurt von der Egge. Bei Ihrer Hochzeit, Herr Hauptmann, haben wir beide Freundschaft geschlossen, und nun will dieser Knauser mit ein paar lumpigen Tausendtalerscheinen zurückhalten, trotzdem sich Großes damit schaffen ließe.«

»Ach, Sie reden schon wieder von Ihrer Judenzeitung?« sagte Kurt obenhin. »Nun, wenn Sie recht haben sollten und ich heute ein reicher Erbe geworden bin, so wird es mir nicht darauf ankommen.«

»Topp!« rief Stropp »Und ich wette darauf, Sie legen das Geld gut an, die Konjunktur stand nie so günstig wie heute für den antijüdischen Feldzug. Wer heute meine Idee zuerst ausführt, ist übers Jahr ein großer Mann.«

»Also Sie?« sagte Kurt lachend, während er lauernde Blicke nach dem Hause gegenüber warf.

»Wenn er vorher nicht pleite geht, Herr Hauptmann«, sagte Bumcke unter endlosen Verbeugungen. »Ein heller Kopf der Doktor Stropp, aber immer entweder mitten durch oder unten durch. Entweder Cäsar oder Nihilist, wie der Lateiner sagt.

Stropp fuhr zornig auf.

»Sie können meine großen Ideen nicht fassen, Bumcke. Aber Sie, Herr Hauptmann, haben immer mit mir sympathisiert. Sie hätten mir längst das nötige Geld gepumpt, wenn Sie selbst welches gehabt hätten. Sie werden meine Genialität würdigen. Hören Sie! Seit dem Augenblicke, wo ich die heutige Greuelnachricht vernahm, dachte ich an nichts als an meine große Idee. Es fehlte nur noch ein welterschütterndes Ereignis. Hier ist es. Ich arbeite schon seit einer Stunde in meinem lichten Kopfe an dem Programm, das an der Spitze meines Blattes stehen soll. Seit den letzten Kriegen herrscht in ganz Deutschland eine ungeheure Aufregung. Sowohl die Leute, die im Feld lagen, als auch die andern, die daheim blieben, haben abenteuerliche Dinge, haben Mord und Totschlag erlebt. Nach dem Kriege mußte der süße Pöbel immer jemanden haben, auf den er öffentlich schimpfen durfte. Aber der heutige Tag hat uns gezeigt, wie gefährlich eine solche zur Gewohnheit gewordene Aufregung einem Volke ist. Wir werden es erleben, daß man strenger als bisher das öffentliche Wort unterdrücken wird. Die Reaktion kommt, sie muß kommen, sie soll kommen. Da heißt es für die oppositionellen Blätter aller Richtungen sich immer mehr ducken, die wahre Meinung immer mehr hinter diplomatischen Redensarten verbergen. Die Blätter werden noch langweiliger werden, als sie schon sind. Angriffe auf die Regierung und den Aberglauben werden nicht mehr geduldet werden. Welcher gebildete Deutsche wird ein solches Blatt noch lesen wollen?

Da komme ich mit einem neuen Unternehmen. Was wir alle uns erzählen, wenn zufällig kein Jude unter uns ist, das lasse ich drucken und füge manches hinzu, was nur mir einfällt. Täglich bringe ich Räubergeschichten aus dem jüdischen Lager. Ich gründe Vereine, die es sich zur Aufgabe machen, die Juden zu ärgern. Ich überrede Gastwirte, keinen Juden mehr in ihr Lokal einzulassen. Und was die Gastwirte tun und was in den Vereinen geredet wird, das ist wieder Stoff für meine Zeitung. Und meine Zeitung bestärkt die Leute in ihrem Tun. So stärken wir einander gegenseitig. Jeder wird dieses Blatt lesen wollen, hunderttausend Abonnenten sind mir sicher. Das Geld kommt im ersten Jahre zehnfach ein, denn mein Blatt wird ein Weltblatt. Und wissen Sie schon, wie dieses Blatt heißt, das seinen Verleger zu einem Millionär machen wird? »Arminius« heißt es, so steht es fest in meinem Kopfe.«

»Merkwürdig, daß Sie jetzt immer nur vom Erfolge und vom Gewinn sprechen, nicht von Ihrem Ehrgeiz«, sagte Bumcke mißtrauisch. »Und dann tun Sie so, als wenn Sie der Erfinder von dieser Idee wären. Wenn ich nicht gewesen wäre und Ihnen gesagt hätte: ›Raus mit den Juden aus Deutschland‹, so säßen Sie jetzt vielleicht als Korrektor hinter dem Bogen einer jüdischen Zeitung.«

»Wer sind Sie, Bumcke, daß Sie sich rühmen wollen, den Riesengedanken durch Ihren kleinlichen Neid auf Isaak Feigelbaum geweckt zu haben. Ja, ich habe mit Ihnen und jetzt mit dem Herrn Hauptmann, dem künftigen Majoratsherren, von meinem Geldbedürfnis sprechen müssen, weil ich in dieser jämmerlichen Zeit noch unerkannt auf Erden wandle, weil ich noch nicht ausgerufen bin als der große Reformator, weil ich Ihr Geld noch brauche. Ist aber das Blatt erst ins Leben getreten, so sollen Sie Ihre blauen Wunder erleben, Bumcke. Alle Welt soll sagen: Wer ist Stropp, den wir bisher nicht gekannt haben? Und anfangs wird man vielleicht nur antworten: Stropp, der große Judenfeind! Aber bald wird mein Licht selber leuchten, und im Landtage soll meine Stimme ertönen und sofort vernommen werden im Saale und auch draußen. Die Minister und Räte werden kommen und sich vor mir verbeugen, und ich werde ihnen gnädig die Hand reichen und sie meiner Gunst versichern, bis eines Tages in den Zeitungen stehen wird: Stropp ist selbst Minister geworden! Und daran ist's noch lange nicht genug! O, nein! Ich will noch höher steigen, höher, höher!«

Und schnaufend sank Stropp in seinem Stuhle zusammen. Die Rede hatte auf Bumcke Eindruck gemacht. »Stropp«, sagte er, »wenn der Hauptmann sich beteiligt, so gebe ich ebensoviel wie er. Aber Sie müssen mir versprechen, daß mein Name als Gründer der Partei genannt wird und daß Sie mich dafür in Ihrem Blatte nicht nennen, wenn ich einmal in einer Gerichtsverhandlung wegen Wucher – Sie wissen schon! Aber Wuchergesetze dürfen Sie fordern! Ich weiß mir schon zu helfen!«

Stropp reichte Bumcke würdevoll die Hand. »Abgemacht!« sagte er. »Die Juden sind so gut wie geschlagen, wenn ich die Zeitung gründen kann.« Plötzlich zuckte es gräßlich in seinen Zügen. Seine Lippen zitterten, seine Wangen wurden kirschrot und seine Augen starrten hinaus.

»Herr Hauptmann«, rief er stotternd vor Aufregung. »Bleibt es dabei, daß ich mein Geld kriege, wenn Ihr Vetter tot ist?«

»Es bleibt dabei«, sagte Kurt und schlug auf den Tisch. »Es ist Zeit, den frechen Juden die Wege zu weisen. Auch mir läuft einer im Wege herum.«

»So?« rief Stropp mit ironischer Verwunderung. »Das glaub' ich! Nicht wahr, dieser Doktor Wolff ist ein Jude, ich weiß es jetzt. Und nun blicken Sie hinaus! Da schleicht der alte Egge aus der Redaktion zurück. Sieht er aus, als ob sein Enkel noch lebte? Ist er nicht in einer Stunde zum Greis geworden?«

Rasch hatte Kurt seinen Hut ergriffen und schon sahen Stropp und Bumcke, wie er über die Straße stürzte und den alten Mann unter dem Arm faßte.

 

Der Freiherr fuhr zusammen, als er die plötzliche Berührung fühlte. Trübe blickte er auf, und als er Kurt erkannte, wollte er auffahren und jede Hilfe zurückweisen.

Von dem ersten Momente hing alles ab, das sah Kurt ein. Und wehmütig flüsterte er, während er seinen Arm fester um den alten Mann legte:

»Ich bin ein Egge. Der Tod Brunos ist entsetzlich.«

Da brach dem Alten wieder die Kraft. Er ließ sich in einen Wagen heben und rührte sich nicht, bis ihm Kurt vor seiner Wohnung heraushelfen wollte. Da bäumte sich sein Stolz noch einmal auf. Er weigerte sich, die Zimmer zu betreten, die Isaak Feigelbaum bezahlte.

Kurt biß die Lippen zusammen. Aber gehorsam fügte er sich dem Willen des Alten. Sie fuhren zum Bahnhof und von dort geradeaus nach Eggerwitz. Der Freiherr machte einigemal Miene, sich die Begleitung Kurts zu verbitten, aber immer wieder sank er in sich zusammen.

Als sie auf Eggerwitz anlangten, mußte der Alte zu Bett gebracht werden. Ein heftiges Fieber schüttelte ihn und der herbeigerufene Arzt erklärte den Zustand für so bedenklich, daß er riet, die nächsten Angehörigen des Kranken, das waren Auenheims, kommen zu lassen. Kurt widersetzte sich entschieden. Der Anblick von Brunos Braut würde den alten Mann aufs neue erschüttern. Absolute Ruhe täte not und für die wollte Kurt schon sorgen.

Der Arzt und die Dienerschaft unterwarfen sich seinem festen Willen.

Ein anderer Geist schien in Kurt gefahren, seitdem er auf Eggerwitz lebte und das reiche Gut als sein zukünftiges Eigentum betrachtete. Er war unermüdlich: die Nächte wachte er sorgsam bei dem Kranken, tagsüber vertrat er dessen Stelle in der Wirtschaft. Überall hatte er sein Auge, und schon gewöhnten sich einzelne der Leute daran, Kurt als ihren baldigen Herrn zu betrachten.

Mehr als acht Tage kam der Freiherr vor Fieber und Schwäche nicht zum klaren Bewußtsein. Als er später allmählich begriff, was ihn daniedergeworfen und was jetzt um ihn her vorging, begnügte er sich damit, Kurt oft verwundert und prüfend ins Gesicht zu sehen. Aber er schwieg noch immer. Und Kurt ließ ihn gewähren. Auch er tat stumm die Pflicht, die er sich selbst auferlegt hatte, und je länger der Freiherr seinen Aufenthalt in Eggerwitz, seinen Dienst und seine Pflege duldete, desto sicherer fühlte er sich.

Als der Freiherr endlich mit schwachem Körper und gedrücktem Geist wieder aufstehen konnte, fand er sein Gut in trefflicher Ordnung. Die Ernte war heimgebracht, die Kasse gut versorgt, die Arbeiter bezahlt, die überflüssigen Tagelöhner entlassen. Er konnte nicht umhin, Kurt seinen Dank auszusprechen. Es war das erste Wort, das er außer den augenblicklichen Wünschen eines Kranken an Kurt richtete.

Kurt nahm das Lob und den Dank bescheiden hin und ließ dem Alten Zeit, ihn in seiner plötzlichen Verwandlung noch einige Zeit zu beobachten. Seine Mühe blieb nicht unbelohnt. Nach Verlauf einiger Wochen war der Freiherr überzeugt, sein Großneffe sei im Herzen doch ein rechter Egge und habe seine schwere Jugendsünde vielleicht zu hart gebüßt.

Kurt empfand die veränderte Gesinnung des Freiherrn sofort an einzelnen vertraulichen Bemerkungen über Familienverhältnisse, wie sie der Alte zu keinem Fremden geäußert hätte.

Mochte auch die größere Offenheit nur einer der greisenhaften Züge sein, die jetzt nach überstandener Krankheit plötzlich hervortraten. Kurt war's nicht minder zufrieden. Wenn der alte Herbert jetzt untätig in seinem Polsterstuhle saß, wenn er, der einst so eigensinnige Freiherr, jetzt zu jedem Vorschlage seiner Beamten nur mit dem Kopf nickte, wenn er sich träumerisch in die Vergangenheit versenkte: Kurt wäre ja ein Narr gewesen, wenn er versucht hätte, ihn diesem Zustande zu entreißen. Im Gegenteil! Recht geflissentlich mußte die Erinnerung an Bruno gehegt und gepflegt werden, die den Alten so willenlos machte.

Als der Freiherr eines Abends wieder anfing, das traurige Ende Brunos zu beklagen, da faßte Kurt sich ein Herz und sprach frei von der Leber weg. Wenigstens gestand er mit so ehrlichem Gesicht seine egoistischen Absichten ein, daß der Freiherr an seiner Aufrichtigkeit nicht gut zweifeln konnte.

Kurt sagte, daß er sofort daran gedacht habe, nach dem so schrecklichen Ende Brunos die Rechte und Pflichten des letzten Egge auf sich zu nehmen. Er habe zu seiner eigenen Freude entdeckt, wie groß die Arbeitslust in ihm noch sei und wie er seine wahre Aufgabe darin erkannt habe, ein Landwirt zu werden.

Der Alte schüttelte immer noch mißtrauisch den Kopf, aber er hörte doch gern zu, wenn Kurt jetzt bei jeder Gelegenheit auf den Gegenstand zurückkam und sich mit deutlichen Worten als den würdigsten Nachfolger Brunos empfahl. Als Kurt aber gar einmal die Andeutung fallen ließ, er habe seit dem denkwürdigen Gespräche, am Tage vor der Hochzeit, viel über die Worte des Freiherrn nachgedacht und sehe in einer Vereinigung mit Clemence nicht nur das höchste irdische Ziel seines Lebens, sondern auch die Erlösung von den Qualen seiner Erinnerung, da hob der Alte jäh den Kopf und fragte mit traurigem Lachen und erstaunt:

»Und Deine Frau?«

Nun erst berichtete Kurt trotzig, daß der Scheidungsprozeß bereits angestrengt sei und daß er binnen kurzem von dieser Fessel befreit zu sein hoffe.

Der Alte nahm die Nachricht scheinbar sehr mürrisch auf. Er schalt den Neffen, daß er erst eine unadelige Handlung begehe, um sie dann durch eine andere ebenso unadelige gut zu machen. Er schalt sehr laut und sehr zornig, aber Kurt war mit der Aufnahme zufrieden.

Wirklich kam der Freiherr bald darauf auf den Plan Kurts zurück. Er sagte ihm, daß er über die Hand seiner Enkelin nicht zu verfügen habe, daß alles davon abhänge, ob der schöne Kurt seine Cousine Clemence binnen einem Jahre zur Liebe bewegen könne. Mehr konnte Kurt fürs erste nicht erfahren.

Da erschien eines Tages zu seinem Erstaunen Victor von Laskow auf dem Gute. Was er hier wollte, konnte nicht lange verborgen bleiben. Kurt war wieder in Gnaden als Verwandter aufgenommen und hatte das Recht, von so wichtigen Verhandlungen zu erfahren.

Victor wiederholte am Tage nach seiner Ankunft seine Werbung um Evchen, und mit Wehmut wurde sie vom Freiherrn angenommen. Nur sollte sich Victor ein wenig gedulden. Evchen hatte vor kurzem, zu ihrem siebzehnten Geburtstage, erfahren, daß Bruno ihr zugedacht gewesen. Die Trauer um den Vetter mußte deshalb strenge eingehalten werden.

Victor blieb über eine Woche auf Eggerwitz und konnte die Tätigkeit und zuvorkommende Höflichkeit Kurts nicht genug rühmen. Es freute ihn um so mehr, mit Kurt hie und da die Gegend durchstreifen zu können, als der Freiherr auch ihm gegenüber sein düsteres Wesen nicht gänzlich verlor, sondern immer wieder in seine Schwermut zurückfiel, sooft auch Victors Fröhlichkeit ihn für Augenblicke mitzureißen schien. Einmal kam es dem harmlosen Gaste beinahe vor, als ob Kurt öfter als gerade notwendig von Bruno sprach oder doch Verhältnisse berührte, welche unwillkürlich an den Toten erinnern mußten. Und er machte den Hauptmann vorsichtig darauf aufmerksam, wie sehr der Alte sich verändert hätte, wie er durch jede neue Aufregung mehr von seiner Geistesfrische verlöre.

Kurt mußte sich während der Dauer dieses Besuches recht zusammennehmen, um seine Ungeduld nicht zu verraten. Der zuversichtliche Freier und der herzliche Empfang erschreckten ihn nicht wenig. Aus dem gutmütigen Kameraden konnte der gefährlichste Gegner werden. Es war noch ein wahres Glück, daß es mit der Ehe von Victor und Evchen nicht eilte. Kurt konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Herr v. Laskow sich so ohne weiteres seine Schwägerschaft würde gefallen lassen und dann – war Victor nicht der intime Freund dieses Doktor Wolff, der sich offenbar wirklich unterstand, Clemence schön zu finden?

Kurt fragte einmal recht unauffällig nach dem Doktor Wolff, der ja jetzt unter stammverwandten Semiten oder unter Negern lebe. Da wechselten Victor und der Alte sonderbare Blicke, die den aufmerksamen Beobachter plötzlich ängstlich machten. Wie hatte er bisher so blind sein können! Der Freiherr sprach ja von Clemence beinahe wie von einer Verlobten! Dieser Doktor Wolff war also viel ernster zu nehmen, als Kurt bisher geglaubt. Er mußte klarsehen!

Und kaum hatte Victor das Gut wieder verlassen, von wo die Trauer des Freiherrn ihn vertrieb, als Kurt langsam und vorsichtig, aber ohne abzulassen, seinem Ziele zustrebte und den Freiherrn gegen Doktor Wolff aufzubringen versuchte.

 Die Zeitung, welche Stropp in der Stadt nun wirklich herausgab und welche in der Tat durch ihre rohen Angriffe auf die Juden unter dem Landadel von sich reden machte, kam ohnedies täglich nach Eggerwitz, ohne daß der Freiherr sie beachtet hatte. Kurt begann nun alle Artikel, welche gegen den jüdischen Stamm gerichtet waren, vorzulesen, seine Übereinstimmung auszudrücken und die Einwürfe des Alten, die gewöhnlich nicht allzu sicher klangen, zu widerlegen.

Der Freiherr geriet über die Juden und die gegen sie gerichtete Bewegung in eine Aufregung, für deren Stärke Kurt keine Erklärung zu haben vorgab. Was gingen einen Herrn von der Egge die Juden an? Ob der »Arminius« den Juden ihr Leben in Deutschland verleidete oder nicht, ob er die Juden mit den täglichen Angriffen ärgerte oder nicht, was kümmert das im Grunde einen Kavalier, wie der alte Herbert von der Egge einer war? Im wesentlichen wären die Judenfeinde, vor allem ihr Leibblatt, treue Genossen des deutschen Adels und müßten von jedem Konservativen unterstützt werden, auch wenn derselbe gerade kein prinzipieller Gegner der Juden wäre. Am Ende sollte sich doch aber ein jeder über die Bewegung freuen. Die Schmach für die Juden sei, selbst wenn unverdient, so groß, daß die Gesellschaft von ihrer Zudringlichkeit befreit würde, da doch kein vornehmes Haus inmitten dieser Hetze einen solchen Geächteten bei sich verkehren lassen könnte.

Mit solchen Gesprächen brachte Kurt den Freiherrn Abend für Abend in den heftigsten Zorn, bis der Alte einmal losbrach und Kurt zu schweigen befahl. Kurt verlangte den Grund einer so unerwarteten Zurechtweisung zu erfahren, und der greise Freiherr, froh über den Gegenstand seiner Sorge endlich sprechen zu können, erzählte weichmütig von Heinrichs Werbung und seinem Versprechen.

Die Lage der Dinge habe sich inzwischen verändert. Das Haus von der Egge habe seinen Erben verloren und müsse nun mit doppelter Vorsicht auf seinen Bestand achten. Der Freiherr sei zwar verpflichtet, sein Wort einzulösen. Wenn Clemence nicht von Ihrem Heinrich ließ, war nichts dagegen zu machen. Wenn Clemence aber inzwischen zu besserer Meinung käme und sich auf die Würde ihrer Abkunft besänne, so wäre ihm das lieb, sehr lieb. Er könnte dann sogar Kurt rehabilitieren, nur um einen passenden Mann für seine liebste Enkelin, für Clemence zu haben.

Nun wußte Kurt genug. Gleich brach er das Gespräch ab, entschuldigte sich mit einem unaufschiebbaren Briefe an den Rechtsanwalt, der die Scheidung betrieb und eilte ins Freie, um seine Lage zu überdenken.

Da standen seinem Glücke wieder die beiden Feinde entgegen, mächtiger als er es geahnt. Der Freiherr sah in ihm gar nicht den natürlichen Erben von Eggerwitz, er dachte vor allem an seine Enkelinnen. Und von diesen unschuldigen Mädchen, die er beide stets übersehen hatte, liebte die eine den Husarenleutnant, die andere den jüdischen Arzt. Und beide waren den geliebten Männern schon zugesagt. Das stand schlimm.

Freilich, Clemence zu erobern, während der Arzt in Afrika weilte, war nicht ganz unmöglich. Ein richtiger Instinkt hatte ihn am ersten Tage seines neuen Lebens gelockt, die antijüdische Zeitung Stropps gründen zu helfen. Jetzt mußte ihn die allgemeine Rücksichtslosigkeit, mit welcher die alten Vorurteile geäußert wurden, bei seinem Kampfe unterstützen. Eine Clemence von Auenheim vermählte sich doch mit keinem Juden, während man ihn mit Steinen bewarf!

Wenn nur dieser Victor von Laskow nicht gewesen wäre! Das war aber auch so ein vertrauensvoller deutscher Bär, der nichts Arges ahnte, solange man bloß gegen ihn selbst intrigierte, der aber furchtbar werden konnte, wenn man seinen Freund beleidigte. Kurt fühlte, daß er im Auenheimschen Hause nicht mit Erfolg vorgehen konnte, solange Victor daselbst verkehrte.

Er würde mit beiden Gegnern zugleich den Kampf aufzunehmen haben, wenn er nicht Sieger war, bevor der Doktor Wolff zurückkehrte.

So hatte Kurt keine Zeit zu verlieren. Als er beim nächsten Frühstück dem Alten wieder gegenüber saß, teilte er ihm seinen Entschluß mit, sofort nach Berlin zurückzukehren. Der Scheidungsprozeß fordere seine Anwesenheit; auch wolle er keinen Tag versäumen, der ihm die schöne Clemence näher bringen könnte. Übrigens sei der Freiherr ja ganz munter und brauche seine Hilfe nicht.

Der Freiherr sagte nichts, aber Kurt konnte wohl bemerken, daß sein Eifer ihm nicht unlieb war. Wenn Clemence ihn selbst aus der Verlegenheit zog, indem sie Kurts Bewerbung annahm, dann blieb ja das Haus der Egge vor vielen Aufregungen und Kämpfen bewahrt.

 

Kurt kehrte in seine elegante Wohnung zurück. Er fand da eine Anzahl zärtlicher Billets von Tina vor, die ihm Vorwürfe wegen seiner langen Abwesenheit machte, ferner einen Brief aus Italien, die Antwort Emmas.

Kurt hatte ihr brutal und kurz den Vorschlag gemacht, die Verbindung aufzulösen. Er müßte aus Familienrücksichten eine andere Ehe schließen.

Emmas Brief enthielt nichts als die Worte:

»Ich bitte Dich flehentlich, warte nur noch ein wenig. Ich bin sehr krank. Unsere Ehe wird bald in aller Stille aufgelöst sein. Emma.«

Kurt warf das Blatt fluchend in den Papierkorb.

»Die verdammte Närrin«, rief er. »Will die Klette nicht freiwillig von mir los, so werd' ich sie abzuschütteln wissen.«

Er hatte mit Emma Eile nötig. Sie tat zwar sonst alles, was er verlangte. Aber wenn sie sich jetzt weigerte in die Scheidung zu willigen, aus Liebe zu ihm sich weigerte, so war sein ganzer Plan durchkreuzt. Zornig dachte er über ein Mittel nach, das Emma zur Scheidung zwang; der zartfühlenden Clemence wegen sollte Emma den ersten Schritt tun.

Inzwischen jedoch mußte er bei Auenheims seinen Feldzug beginnen.

Hier hatte Victor schon die Meldung überbracht, daß Großpapa sich mit Kurt ausgesöhnt habe, und Kurt wurde infolgedessen mit besonderer Freundlichkeit empfangen. Er gab sich von seiner liebenswürdigsten Seite, so daß binnen wenigen Stunden zwischen ihm, Victor, Evchen und dem schönen Eberhard ein herzliches Einvernehmen herrschte.

Clemence dagegen war zurückhaltender als früher. Ihre erste Frage galt Emma, und als Kurt mit verlegenem Lachen ausweichend geantwortet hatte, ließ sie ihn ihre Unzufriedenheit fühlen.

So sah er gleich bei seinem ersten Besuche, wie schlimm es um seine Sache stand, wenn er nicht außerordentliche Hilfsmittel fand. Victor benahm sich nicht eben wie ein Bräutigam, aber jeder Fremde hätte auf den ersten Blick sehen müssen, daß die jungen Leute einander lieb hatten und vielleicht nur deshalb noch nicht Brautleute waren, weil sie ihrer glücklichen Zukunft sicher zu sein glaubten. Victor und Evchen waren wohl nicht mehr zu trennen.

Kurt nahm aber auf einer anderen Seite einen Erfolg wahr. Das erste Wort, mit welchem er die antijüdische Bewegung in der Hauptstadt erwähnte, rief das regste Interesse des schönen Eberhard hervor. Er hatte von der ganzen Sache bis heute kein Sterbenswort gewußt. Er war dem Vetter äußerst verbunden für den Hinweis und wollte gleich morgen auf den »Arminius« abonnieren. Ihm wäre der jüdische Stamm immer entsetzlich gewesen, die schönen Jüdinnen natürlich ausgenommen. Und der schöne Eberhard warf Kurt einen schlauen Blick des Einverständnisses zu.

Victors und Kurts Augen waren während dieser Reden auf Clemence gerichtet, welche erblaßte und eben im Begriff war, ihrem Vater zu antworten, als Victor für sie das Wort nahm und sich der Juden kräftig annahm. Kurt und Herr von Auenheim schauten einander an und schwiegen, wie man aus Höflichkeit schweigt. An diesem Abend war von den Juden nicht mehr die Rede.

Kurt durfte als Vetter täglich wiederkommen, während Victor auf die beiden Tage, die er seit Jahren als sein gutes Recht betrachten konnte, angewiesen blieb. So gewann Kurt einen bedeutenden Vorsprung und sooft Victor wiederkam, fand er den schönen Eberhard mit Kurt vertrauter, diesen anmaßender und Clemence trauriger.

Die Judenfrage war der einzige Gegenstand, von welchem die Herren sprachen, wenn Victor nicht zugegen war. Beide überboten sich in Schmähungen der Juden. Clemence versuchte einige Male, ihre Scheu zu überwinden und die Juden zu verteidigen. Aber das wurde ihr schwerer, als sie gedacht. Was ihr Vater sagte, das war nicht ernst zu nehmen. Das war eine schwache Wiederholung der Artikel des »Arminius«. Kurt aber stellte sich stets auf den Standpunkt der Religion und verwarf die versteckten Juden sowie diejenigen, welche ohne Überzeugung aus irgendwelchen frivolen Gründen zum Christentum übergetreten waren.

Das Herz krampfte sich dem Mädchen zusammen, wenn Kurt so sprach. Doch sie wußte nicht, wie sie antworten sollte. Sie konnte doch dem bösen Menschen nicht Heinrichs Tagebuch zeigen!

Als Kurt eines Abends nach einem solchen heimlichen Angriff auf Heinrich nach Hause zurückkehrte, fand er die zweite Antwort Emmas auf seine zweite Aufforderung vor, durch den Telegraphen, wie er es gewünscht hatte.

Er las: »Ich lasse nicht von Dir.«

Kurt stampfte mit dem Fuße auf und ging wütend auf und ab. Emma mußte sich fügen und sollte er deshalb selbst nach Italien reisen und ihre Scheidungsklage mit der Faust erzwingen. Aber gab es gar kein anderes, kein bequemeres Mittel?

Kurt fand keines und wollte sich schon mißmutig zu Bette begeben, als er auf dem Nachttisch ein Billet von Tinas Hand liegen sah. Mit geckenhaftem Lächeln öffnete er und las die alten Klagen, daß er sie vernachlässige, daß sie schon seit Wochen nicht an seinem Halse gehangen habe, daß sie ohne ihn das Leben mit ihrem Goldesel nicht aushalte.

Plötzlich fuhr Kurt empor. Solche Karten und Briefe von Tina müßten sich im Schreibtisch und im Papierkorb mehr als hundert finden. Rasch durchsuchte er selbst alles und binnen einer halben Stunde hatte er mehr als er brauchte; ein halbes Dutzend Liebesbriefe Tinas, welche über die Art ihres Verhältnisses keinen Zweifel ließen.

Mit diesen Papieren in der Hand konnte er Emma zur Einwilligung zwingen. Er kannte ja ihre Scheu vor jedem öffentlichen Aufsehen. Erfuhr Tinas Gatte von diesen Briefen, so trennte er sich mit großem Eklat von seiner Frau, und auch Emma mußte dann schon ihres Bruders wegen in die Scheidung willigen.

Und Tina?

Ach, wie oft hatte sie ihn nicht gebeten, sie von ihrem Julius zu befreien, der immer langweilig war und seit kurzem sogar anfing, geizig zu werden. Sie konnte nichts dabei verlieren.

Und Kurt blieb nicht müßig. Sofort packte er ein paar Proben des Briefwechsels in einen großen Umschlag und sandte sie an seinen Schwiegerpapa, Herrn Isaak Feigelbaum.

Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Am nächsten Tage saß Kurt eben noch bei seiner Zeitung und las vergnügt im »Arminius«, wie rasch die »Antisemitenbewegung« überall Boden gewinne, als ein Wagen vor dem Hause hielt. Wenige Sekunden später wurde bei ihm heftig an der Tür geklingelt und gleich darauf riß Tina im Morgenkleid, ohne Handschuh, die Tür auf. Weinend, das bleiche Gesicht noch verzerrt von dem ausgestandenen Schreck, fiel sie dem Geliebten um den Hals. Ihr Mann habe alles erfahren, habe sie aus dem Hause gejagt. Jetzt sei sie da, um ihren Kurt niemals zu verlassen.

Kurt war anfangs geneigt, seine Beteiligung an dem Verrat einzugestehen, als Tina sich aber häuslich niederließ und, rasch beruhigt, ihre Aussichten für die Zukunft besprach, als sie ehrlich gestand, daß sie Kurt nach Emmas Tode heiraten wollte, da hielt er es doch für besser zu schweigen. Er wollte das schöne Weib, das so willenlos an ihm hing, nicht stutzig machen.

Schweigend erwiderte er eine Weile ihre Umarmungen und half ihr dann, die wenigen mitgebrachten Sachen zu ordnen, einen großen Koffer mit Kleidern, eine kleine Schatulle mit Schmucksachen und ein verschlossenes Kästchen, das Tina sofort an sich nahm.

»Was hast Du darin?« fragte Kurt.

»Deine Briefchen und allerhand Andenken aus der Kinderzeit.«

»Laß sehen«, rief er.

Sie öffnete und beide griffen in die Papiermappe hinein. Lachend erklärte sie die Bedeutung von diesem oder jenem Stück, einem Kotillonorden, einer Neujahrskarte. Plötzlich versuchte sie errötend, ein Blatt Papier zu verbergen. » Oho! rief Kurt und riß es ihr neugierig aus der Hand.

Auf dem Papier war eine verblichene Rose aufgeklebt.

» Rosa Clementiae. Berlin, den 16. Juni 1871« stand darunter.

Kurt blickte fragend auf.

»Ich hab's von Dr. Wolff!« sagte Tina kleinlaut.

Kurt warf zornig das Blatt auf den Boden.

»Muß mir dieser Mensch überall begegnen!« zischte er durch die Zähne.

»Nicht so grimmig«, sagte Tina schmollend. »Ich glaube, die Rose stammt aus Deiner Familie. Er hat sie von Clemence bekommen.«

Blitzschnell bückte sich Kurt und hob das Blatt wieder auf.

»Weißt Du das gewiß?« rief er erregt. »Doch was frag' ich noch viel! Da steht's ja schwarz auf weiß! Rosa Clementiae, die Rose der Clemence. Und das Datum! Der Einholungstag! Der Tag, an dem wir uns kennenlernten! Tina, dafür muß ich Dir einen Kuß geben!«

Bevor er jedoch den Kuß gab, dessen Anlaß sie nicht recht verstand, steckte er die Rose mit ihrem Blatte Papier sorgfältig in seine Brusttasche.

Das war ein Glückstag heute. Diese Rose mußte Clemence vom Dr. Wolff losreißen helfen, mochte Tina jetzt auch noch so ängstlich versichern, sie habe die Rose dem Heinrich gestohlen, er wisse von nichts, sie sei damals in ihn verliebt gewesen. Kurt lachte nur und versprach, der Jugendgeliebte sollte dadurch für sie frei werden.

Und der heutige Tag sollte noch fröhlicher werden. Gegen Mittag ließ der alte Isaak sich melden. Kurt schickte Tina aus der Stube, legte einen Revolver vor sich auf den Tisch und ließ den alten Juden eintreten.

Die Vorsicht war nicht ganz überflüssig. Denn wutschnaubend, halb wahnsinnig vor Schmerz und Rachsucht stürmte Isaak herein. Der Diener blieb zaudernd stehen. Kurt winkte ihm ab und blieb mit dem Alten allein. Kurt hielt ihm ruhig den Revolverlauf entgegen.

Mit einem unartikulierten Schrei streckte Isaak die Knochenhand nach seinem Schwiegersohn aus.

Mit einer Flut von Schmähreden, von entsetzlichen Verwünschungen gegen Kurt und dessen ganzes Geschlecht verschwor sich der Alte, nicht zu ruhen und nicht zu rasten, bevor nicht Gleich mit Gleich bezahlt sei. Der noble Herr von der Egge habe es durchgesetzt: sein armes Kind, die Emma, werde sich jetzt von ihm scheiden lassen, nachdem er den Vater um sein Geld, den Sohn, den Narren Julius, um sein Weib gebracht habe. Aber Gottes Strafe werde nicht ausbleiben.

»Also Emma willigt in die Scheidung?« fragte Kurt.

»Sie muß! Kein jüdisch Kind bleibt bei so einem Mann, wie Sie sind!«

»Gut! Weiter wollte ich nichts wissen. Jetzt gehen Sie oder ich lassen Ihnen die Tür weisen.«

Und Kurt hob wieder drohend die Hand.

Dem alten Juden stand der Schaum vor den Lippen. Er stöhnte und keuchte vor Wut und zog sich doch vor der Waffe zurück. In einiger Entfernung hob er jedoch den hagern Arm und schrie gellend:

»Sie sollen's büßen! Hab ich Sie nicht, so hab' ich doch einstweilen... Nu, Herr von Laskow soll für Sie alle bezahlen. Wenn ich hab' je gedreht einen Strick aus einem Schuldschein, so will ich... Herr von Laskow kommt heut zu mir, um zu prolongieren. Will ich ihm prolongieren, daß er soll zu sehen kriegen die Ewigkeit!«

Und der Alte wollte forteilen.

Kurt war aufgesprungen und hatte den Revolver fortgelegt.

Lieferte denn ein günstiges Geschick beide Gegner an einem Tag in seine Hände?

»Halt!« rief er mit gut gespieltem Schrecken. »Was wollen Sie mit Victor anfangen? Wissen Sie nicht, daß er der Bräutigam von Fräulein von Auenheim ist?«

»Eben darum«, schrie Isaak heiser. »Einer von Euch soll schmecken die bittern Tränen.«

»Mensch!« rief Kurt. »Bringen Sie aus Haß gegen mich nicht einen unschuldigen Menschen ums Leben.«

»Ums Leben, wieso? Kann ich einen Schuldner ums Leben bringen?«

»Leugnen Sie nicht! Sie wissen: Victor ist Offizier und war einer der ehrenhaftesten. Er ist Ihnen viel schuldig.«

»Nu, bald hunderttausend Mark.«

»Mensch, wenn Sie bei der Prolongation die Summe vergrößern, verdoppeln, dann kann er nicht zahlen. Und wenn Sie sich schriftlich sein Ehrenwort geben lassen, daß er Ihnen von heute in drei Monaten um zwölf Uhr Mittag das Geld wiederbringt, so muß er sich pünktlich erschießen.«

Kurt hatte seine Rolle vergessen; lauernd, flüsternd sprach er die letzten Worte.

Mit zitternden Fingern fuhr sich Isaak über die Stirn.

» Muß er sich erschießen?« fragte er heiser. »Wer zwingt ihn? Ich kann mein Geld einklagen, weiter nichts!«

Kurt versuchte wieder den Ton des Biedermanns zu treffen.

»Achten Sie ein Ehrenwort nicht zu gering. Ein Pfund Fleisch dürfen Sie sich nicht verschreiben lassen, alter Shylock. Wenn Laskow Ihnen aber auf einem Schein verspricht, zur bestimmten Frist entweder mit Geld oder mit seinem Leben zu bezahlen, so brauchen Sie nicht erst zu klagen. Kann er nicht zahlen, so wird, so muß er sich erschießen!«

Bleich, mit zuckenden Lippen stand Isaak da.

»So muß er sich erschießen?« wiederholte er tonlos. »Und Emma, mein Goldkind ist so krank! Soll er sich erschießen!... Wird er mir anbieten sein Ehrenwort, werd' ich sagen, was mach' ich mir aus dem Ehrenwort; wird er sagen, wenn ich nicht zahl', will ich mich erschießen, werd' ich sagen, geben Sie mir's schriftlich, daß Sie sich werden erschießen, wenn Sie nicht werden zahlen. Er wird mir's geben schriftlich, und ich werd' haben meine Finger im Nacken von einem von die Egges!«

Und wild, mit blutunterlaufenen Augen blickte Isaak seinen Schwiegersohn an.

»Sie meinen, ich mein', Sie sind wirklich erschrocken? Sie sind ein Teufel und haben mir eingegeben den Gedanken, mich an dem Leutnant zu rächen, damit Sie mir entkommen. Einerlei, ich halt' fest, wen ich kann von Euch Egges. Aber losgekauft haben Sie sich nicht mit dem Leben des Laskow! Gott, der Allgerechte, soll Sie lassen werden zum Krüppel an jedem Glied zehnmal...«

Noch einmal hob Kurt den Revolver, und der alte Jude verließ unter unverständlichen Rufen, nachdem er noch auf die Schwelle gespieen, die Stube.

Tina hatte im Nebenzimmer nur einzelnes gehört und war tief bewegt. Sie weinte und wollte die ganze Szene erklärt haben. Kurt beruhigte sie, und sie vergaß bald die Sorgen der Gegenwart, als er ihr eine kleine Spazierfahrt vorschlug.

Abends kam Kurt, vor Erwartung aufs Äußerste erregt, zu Auenheims. Es war ein Montag; also war Victor mit Sicherheit zu erwarten und ließ wohl aus seiner Stimmung erraten, ob er dem Wucherer ins Netz gegangen.

Kurt begann sofort mit dem schönen Eberhard ihr gemeinsames Lieblingsthema zu besprechen. Clemence wollte sich schon, wie sie jetzt öfters tat, mit Evchen zurückziehen, als Kurt sich beeilte, den Namen des Doktor Wolff in die Unterhaltung zu werfen. Der dürfte hier im Hause auch nicht länger verkehren. Jeder Jude sei ein geborener Betrüger.

Nun durfte Clemence nicht länger schweigen. In ruhiger Würde stand sie zürnend vor Kurt und sagte:

»Wie dürfen Sie als Gast des Hauses einen Freund desselben so beleidigen?«

»Ich habe Beweise gegen ihn, die ich aus Rücksicht für Sie bisher nicht benützt habe«, rief Kurt.

»Beweise? Sie kennen ihn ja kaum!«

»O, ich nicht! Desto besser kennt ihn Tina Feigelbaum, seine Jugendgeliebte, und die weiß von den jüdischen Männern mehr als ich.«

Clemence errötete glühend; sie wollte den Streit fallen lassen. Ruhig sagte sie:

»Ich glaube eben Herrn Doktor Wolff mehr als dieser Frau.«

Da erhob sich Kurt tief empört. Dieses Mißtrauen scheine ihm zu gelten und da müsse er freilich mit seinem Aktenstück herausrücken, das er schon sei Monaten bei sich trage.

Er öffnete langsam die Brieftasche und nahm die Rose hervor. Zitternd erkannte Clemence auf den ersten Blick ihr Geschenk. Sie wagte nicht zu atmen. Kurt aber sagte:

»Die schöne Tina hat die Marotte, sich von jedem ihrer Anbeter dasjenige Andenken schenken zu lassen, welches ihn an eine Jugendeselei erinnert. Sie hat davon eine hübsche lustige Sammlung, deren Erklärung ein nützliches Buch füllen würde. Als ich, der ich nicht Anbeter, sondern ungefährlicher ironischer Freund bin, die Sammlung einmal durchblätterte, entdeckte ich plötzlich die Handschrift des Herrn Doktor Wolff, des Freundes Ihres Hauses. Ich ließ mir die Blume reichen. Darunter steht für jeden verständlich: Die Rose der Clemence. Das Datum stimmt. Dieser jüdische Doktor hat sich erfrecht, Sie zu kompromittieren!«

Clemence wollte lächelnd die Hand nach der Rose ausstrecken. Das Lächeln gelang ihr nicht. Sie nahm das Blatt und schwankte, von Evchen begleitet, aus dem Zimmer.

»Ach, die Sache ist ja nicht so wichtig«, rief der Vater ihr nach. »Wir werden eben keinen Juden mehr empfangen.«

Da vernahm man einen dumpfen Fall. Evchen schrie um Hilfe. Clemence war ohnmächtig geworden.

Als Kurt mit dem Bedauern, die unschuldige Ursache des Unwohlseins zu sein, Herrn von Auenheim verließ, kam eben Victors Bursche und meldete, Herr Leutnant von Laskow lasse sich für heute entschuldigen.

Kurt verließ mit dem Burschen das Haus.

»Was fehlt denn dem Herrn Leutnant?« fragte er auf der Treppe.

»Ach Gott, ach Gott!« klagte der Bursche. »Der Herr Leutnant sind sehr verstört nach Hause gekommen und haben sofort eine Flasche Wein hinuntergestürzt. So habe ich sie noch nie gesehen, noch nie. – Ein Duell kann's nicht sein, darüber würden sie sich nicht so sehr aufregen. Aber eine Pistole haben sie frisch geladen, auf den Nachttisch gelegt und mir gesagt, da solle sie unberührt liegen bleiben, so lange Abraham – oder ein anderer Erzvater – sie liegen läßt.«

Kurt ließ den Herrn Leutnant bestens grüßen und blies vergnügt den Rauch seiner Zigarre vor sich hin.


 << zurück weiter >>