Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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XVIII.

Victor hatte Wort gehalten. Als Heinrich am Abend des verabredeten Tages bei Auenheims eintrat, fand er den Freund in Gesellschaft der beiden Mädchen. Victor begrüßte ihn mit unbefangener Heiterkeit. Evchen eilte ihm entgegen und rief jauchzend:

»Nun sind die beiden Ritter wieder hier! Nun fürchten wir uns vor niemand mehr!«

Clemence war still aufgestanden und lehnte wie ohnmächtig an dem Tische. Die Arme hingen regungslos hinunter, das blasse, unveränderlich schöne Gesicht senkte sich wie im Gefühle des Unrechts zu Boden, und auch die Augen wandten sich wie umflort von der Tür ab, nur um die Lippen spielte ein leises, kindliches Lächeln des Glückes, und Heinrich, der es mit gierigen Blicken wohl bemerkte, schöpfte tief Atem. Sie lächelte noch wie einst. Sein Glück war noch wiederzuerkämpfen.

Er nickte dem Freunde zu und reichte dem frohen Evchen die Hand. Dann wandte er sich zu der Braut, welche auf ihrem Platze niederzusinken drohte. Evchen blieb besorgt neben der Schwester stehen; auf einen Wink Victors jedoch zog sie sich mit ihm auf den kleinen Balkon zurück, der vom Wohnzimmer nach dem Garten führte.

Heinrich stand seiner Braut allein gegenüber.

Noch hatte keins von beiden ein Wort gesprochen. Es widerstrebte Heinrichs Gefühl, das alte Recht geltend zu machen, Clemence vertraulich anzureden. Und doch bedeutete es fast einen Verzicht, wenn er das geringste seiner Rechte preisgab. Fest entschlossen, sie mit »Du« anzusprechen, sagte er endlich doch:

»Sie sind lange nicht bei Ihren Freunden in der Klosterstraße gewesen. Das hat den Leuten weh getan.«

Clemence erblaßte. »Es war unrecht von mir. Ich werde den Fehler wieder gut zu machen suchen... Herr Doktor.«

»Ich habe kein Recht, Ihnen Vorwürfe zu machen... liebe Clemence. Aber eines möchte ich gern, sehr gern wissen. Darf ich fragen?«

»Ich bitte Sie darum, Heinrich.«

Heinrich wollte ihre Hand fassen. Clemence entzog sie ihm scheu, setzte sich aber nieder und forderte ihn durch einen Blick auf, neben ihr auf einem Stuhle Platz zu nehmen. Heinrich begann:

»Ich finde hier viele Menschen und Gesinnungen verändert. Es ist eine... nein, ich will kein hartes Wort gebrauchen. Mir aber, dem Arzte, muß es wie eine Krankheit erscheinen, daß tausende, sonst trefflich erzogene Personen, plötzlich gegen eine unbestimmt abgegrenzte Menschenklasse mit Haß erfüllt sind. Clemence, an dieser Krankheit leiden gegenwärtig viele gebildete und sonst wackere Männer. Sie hat sich selbst in sonst vornehmen Familien festgesetzt. Es wird Sie also nicht verletzen: Haben Sie von den Schneidersleuten Ihre Hand abgezogen, weil Oswald Fränkel doch nur ein Jude ist?«

Clemence schüttelte fast schalkhaft lächelnd den Kopf.

»Ich habe noch nie daran gedacht!«

Ernster und trauriger fügte sie hinzu:

»Sooft bei uns das Gespräch auf diesen häßlichen Gegenstand kam, war ich innerlich verletzt. Und man hat mich damit oft verletzt, sehr oft, Heinrich. Mir ist die ganze Frage so fremd. Und dann – trauen Sie Ihrer Schülerin, der Leserin Ihrer Bekenntnisse, wirklich so wenig Menschlichkeit zu? Selbst wenn ich die Lehren und Theorien, die ich jetzt immer hören muß, zu den meinigen machen würde, ich dürfte sie doch nie auf den einzelnen anwenden.«

»Ich fürchte sehr, Clemence«, entgegnete Heinrich, »daß wenige außer Ihnen diesen Unterschied zwischen Lehre und Leben machen würden. Doch davon soll heute zwischen uns beiden nicht die Rede sein. Sie merken wohl, daß ich zugleich an mich dachte, als ich vom Schneidermeister sprach. Ich habe mich nicht verändert, seitdem ich hier von Ihnen Abschied nahm. Aber ich bin ein Jude, und die Bedeutung dieses Wortes hat sich seitdem verändert. Ich mußte wissen und muß nun näher fragen: Sehen auch Sie in einem Juden etwas anderes als einst?«

Clemence schaute sich nach Hilfe um. Als sie sah, daß Evchen und Victor auf dem Balkon plauderten und sich um sie nicht im mindesten kümmerten, versuchte sie, dem Gespräche eine weniger persönliche Wendung zu geben.

»Sie sind nicht Jude, Heinrich, Sie haben mir's ja selbst gesagt. Sie sind ein Philosoph, ein Spinozist, der über solche Fragen erhaben sein sollte.«

Der Ton der Neckerei gelang ihr schlecht. Heinrich aber verstand die Absicht, einer ehrlichen Antwort auszuweichen, und stütze traurig den Kopf in seine Hände. Lange schwiegen beide. Endlich rief er aus:

»Es gibt keinen Trost, nicht in der Arbeit, nicht im Denken, nicht im Spinoza. Solange man jung und glücklich ist, versteht man die Philosophen falsch, weil man sich ihre Sätze für den eigenen Frohsinn zurechtlegt. Die Philosopheme sind Kirchhöfe, jeder Gedanke ein Grab, mit bunten Blumen überwachsen. Solange man jung und glücklich ist, hält man das Ganze für einen Garten; dann kommt ein Tag, an welchem die Blumen verblühen und bald liegt kalt und schauerlich der schneebedeckte Kirchhof da.«

Clemence hörte den Ausbruch seines Schmerzes bekümmert an. Ihre Hand zuckte unwillkürlich, ihm die glühende Stirn zu streichen, aber rechtzeitig besann sie sich und blickte wieder starr zu Boden. Dann sah er mit tiefster Traurigkeit auf das abgewandte Haupt seiner Braut und fuhr fort:

»Necken Sie mich nicht mehr mit meinem Spinoza. Einst freilich war es mir viel, alles.«

Und leise, wie mit sich selbst sprechend, sagte er noch:

»Einst leuchtete mir zwischen den knisternden Blättern des lateinischen Buches eine deutsche Rose hindurch. Man hat mir die Rose geraubt. Noch weht aus dem Buche ein schwacher Duft hervor; wenn ich mich aber an ihm erquicken will, so ist er nicht mehr zu fassen. Man hat mir die deutsche Rose geraubt. Und seitdem spricht das Buch eine tote Sprache für mich.«

Heinrich glaubte, fast nur für sich gesprochen zu haben. Clemence aber saß da, von einem heftigen Zittern erfaßt. Eine fliegende Röte deckte ihr Gesicht. Sie faßte so heftig, daß Heinrich erschrak, seine Hände und rief:

»Geraubt? Heinrich! Geraubt?«

Er suchte das Mädchen zu beruhigen. Clemence aber, außer sich, eilte ins Nebenzimmer. Heinrich, der ihr nicht zu folgen wagte, hörte sie schluchzen und heftig ein Schubfach auf- und zuschließen. Victor und Evchen traten ängstlich auf die Schwelle.

Aber schon stürmte Clemence wieder herein. Ihre feuchten Augen strahlten, in der Hand hielt sie die welke, getrocknete Rose, die Kurt ihr gebracht, und rief noch einmal mit jubelnder Stimme: »Wirklich geraubt? Diese Rose hat man Dir geraubt?«

Evchen sprang herbei und umschlang die Schwester unter Liebkosungen. Als Clemence jedoch abwehrte und das Gesicht mit den Händen bedeckte, winkte Evchen den beiden Männern, das Zimmer zu verlassen. Victor zog den Freund auf den Gartenbalkon hinaus und schloß die Glastür. Hier konnten sie beobachten, mit wie allerliebst mütterlichen Gebärden das Evchen ihre Schwester wieder zu Besinnung brachte. Kein Wort war zu verstehen, aber die jüngere mußte die richtige Sprache gefunden haben; denn bald blickte Clemence aus tränenden Augen dankbar lächelnd zum Schwesterchen empor, umklammerte deren Hände mit den ihrigen und sprach einige Worte. Schon wandte sich Evchen fröhlich um, die Herren wieder hereinzurufen; Clemence jedoch wehrte freundlich mit den Händen ab, setzte sich mit Evchen in der dunklen Ecke des Zimmers, wohin Heinrich nicht blicken konnte, auf das Sofa nieder und hier begann ein vertrauliches Gespräch. Nach wenigen Minuten sprang Evchen mit gerötetem Gesicht und freudestrahlenden Augen zur Balkontür, riß sei ein wenig auf und rief durch die Spalte:

»Sie erzählt mir alles! Ich bin kein Kind mehr. Sie hat mir gesagt, daß sie mich als ihre erwachsene Schwester betrachtet! » Und sie warf Victor eine Kußhand zu. »Laßt uns nur allein!«

Sie schloß die Tür und eilte zu Clemence zurück.

Heinrich ging aufgeregt hin und her. Victor sagte vergnügt: »Nun bin ich wieder für einen Tag mit dem Weltlauf zufrieden. So ist's nun in Ordnung. Du hast natürlich nur Augen für Deine Clemence, sonst hättest Du heute endlich doch einsehen müssen, um wieviel Evchen... Nun, ich will keine Vergleiche anstellen.«

Heinrich drückte dem Freunde die Hand. Jetzt habe der Kampf um die Geliebte begonnen. So sehr es ihn schmerze, sie vielleicht mit ihrer Familie entzweien zu müssen, er könne nicht zögern.

»Clemence hat nur noch mich«, rief er aus, »wenn sie mein Weib wird!« Der Vater sei schwach und selber haltlos, der Vetter, ein ausgemachter Schurke und der alte Großvater gerade durch seinen Wert und seine guten Gesinnungen der gefährlichste Gegner.

Victor stand auf und sah Heinrich mit seinen treuherzigen Augen beinahe böse an.

»Ich bin natürlich gar nicht auf der Welt, mich nimmt man nicht ernst, ich bin ein lustiger Taugenichts, in den man seine Leiden hineinwimmert wie in einen nächtlichen Wald und der nicht mehr helfen kann als eben dieser Wald. Nein, lieber Heinrich, Du hast vergessen, daß auch ich zu der Familie Deiner Clemence zu gehören hoffe. Du weißt nicht, daß ich seit gestern abend von Rechts wegen dazugehöre.

Ja, blicke mich nicht so erstaunt an. Während Du aus schlechten Zeitungsblättern Dir mühsam Dein bißchen Ärger zusammensuchtest, habe ich gehandelt wie ein Mann. Setze Dich her, ich will Dir alles möglichst kurz und möglichst ordentlich erzählen:

Ich trat also vorgestern in Eggerwitz beim Alten an und bat ihn, als das Haupt der Familie, um die Hand seiner Enkeltochter Eva von Auenheim. Du hättest mehr Respekt vor mir, wenn Du seine Freude über meine offizielle Werbung gesehen hättest. Unter uns, unausgesprochen war die Sache lange schon richtig. Mich freute nur, daß der Alte, der in den letzten Monaten die Herrschaft dieses Kurt wie ein Kind geduldet hat, mich noch immer lieb hatte. Denn daß eine Werbung gelingt, dessen ist ein entschlossener Husarenleutnant immer gewiß. Wir wurden also bei zwei bis drei Flaschen Rauenthaler sehr gemütlich; der Alte übernahm es, die Sache mit dem Schwiegervater ins reine zu bringen. Ich wollte natürlich sofort zu Evchen zurück, um... Sei doch nicht so langweilig und höre nicht so aufmerksam zu, Du weißt ja doch, was ich bei Evchen wollte!

Da ließ mich aber der Alte nicht fort. Er habe sich schon lange darauf gefreut, mit mir über eine wichtige Angelegenheit zu reden und kurz und gut – wir kamen von meiner Wenigkeit auf meinen unliebenswürdigen Freund Heinrich Wolff. Der Alte hat noch immer scharfe Augen, sage ich Dir, pfeilscharfe, trotzdem ihn Brunos Tod um seine frühere Strammheit gebracht hat, und ein gerades ehrliches Herz dazu – ein Schwiegergroßpapa, der schwerlich so bald wieder vorkommt. Der Alte sah die Sachlage viel deutlicher als ich, der ich doch für Deinen Vertrauten gelte. Vor allem betrachtet er sich durch sein Wort gebunden. Die Wühlereien, welche Du so tragisch nimmst, sind zwar nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben, aber im Handeln wird er human bleiben. Den Juden wirft er eigentlich nichts weiter vor, als daß sie vor achtzehnhundert und einigen Jahren verstockt geblieben sind. Wenn Du also für Deine Person die Verstockung ablegst, wie Du ja entschlossen bist – unterbrich mich nicht, Du mußt entschlossen sein! – und den Alten beim Wort nimmst, so steht Deiner Verbindung nichts mehr im Wege.«

Beide standen auf und Victor schüttelte kräftig die Hände des Freundes. Heinrich starrte düster zu Boden. Um ihn aufzuheitern, begann Victor lustig:

»Du schneidest ja ein Gesicht, als wüßtest Du schon von den entsetzlichen Umständen, unter den Du in das Haus derer von Egge aufgenommen wirst. Du sollst nämlich Dich mit Clemence begnügen, während ich, weil ohnehin von Adel, außer dem bißchen Eva auch den Namen und das Majorat derer von Egge zu meinen bisherigen Gütern übernehmen soll. Wie ich Dich kenne, hast Du mir gar nicht recht zugehört, und ich muß Dir die Sache juristisch noch einmal auseinandersetzen.«

»Ich bitte Dich, necke mich jetzt nicht!« sagte Heinrich. »So übermütig Du auch bist, mir kommt es doch so vor, als ob Du noch ernstere und schlimmere Dinge zu erzählen hättest als Erbschaftsfragen.«

»Schön«, rief Victor, »Du sollst alles hören. Aber von meinem Majorat mußte ich Dir doch erzählen. Erstens, um Dich zu ärgern, und zweitens, weil es den historischen, logischen und moralischen Übergang zu dem folgenden abgibt. Der Alte nämlich hat längst bemerkt, daß zwischen Dir und Clemence nicht alles richtig ist; daß sie Dich liebt, war zwar klar, daß die Bemühungen des Vetters sie unberührt gelassen hatten, nicht minder. Es mußte also ein Vergehen von Deiner Seite vorliegen, welches das Mädchen kopfscheu machte, und darauf baute der Alte seinen Plan, Herrn Kurt trotz ihrer sichtlichen Abneigung mit Clemence zu vermählen und ihn durch ihre Engelsfittiche mit zum Himmel emporheben zu lassen. Bleib ruhig, drüben sitzt Clemence und wird Dir nicht vor der Nase entführt werden.

Ich nickte also gravitätisch mit dem Kopfe und stellte die wohl aufzuwerfende Frage, warum nicht der Blutsverwandte, der die älteste Tochter freit, Majoratsherr würde, sondern ein Fremder, der nur Evchen heimführt. »Nur« und »Evchen!« Es ist himmelschreiend, aber ich habe es doch gesagt. Darauf teilte mir der Alte mit der Feierlichkeit eines Behmrichters ein großes Geheimnis mit, welches nur ich als Angehöriger der Familie wissen und keinem Menschen verraten dürfte.

Dir brauche ich auch gar nichts zu erzählen. Denn Du kennst das Geheimnis leider auch, wenn Du auch von den alten Geschichten nichts weißt, das öffentliche Geheimnis nämlich, daß Monsieur Kurt von der Egge ein Lump ist.

Ein wie großer Lump aber dieser Herr ist, wirst Du daraus erkennen, daß jeder von uns sich persönlich und durch gänzlich verschiedene Erfahrungen davon überzeugt hat. Du hast die Beweise für seine Intrigen seit einer halben Stunde in der Hand. Der alte Herbert, der von den Verleumdungen keine Ahnung hat, hält andere Beweise, und zwar die entsetzlichsten und schmutzigsten, seit fünfzehn Jahren vor aller Welt geheim. Ich aber habe meinerseits die schlimmsten Dinge mit Herrn Kurt erlebt und habe es nur der Güte eines braven Weibes zu verdanken, daß ich an Kurts Gift nicht gestorben bin. Das Nähere geht Dich nichts an. Im Vertrauen nur soviel, daß die arme Emma mir wenige Tage vor ihrem Tode das Leben gerettet hat, während Du Dich, ein Narr in zweiter Potenz, mit Windmühlen und Narren zu gleicher Zeit herumschlugst. Das gehört aber nicht zur Sache. Kurz, der Freiherr bezichtigte den letzten Egge einer Infamie.

Ich wurde sehr ernst und fragte, ob man mir denn zumutete der Schwager eines solchen Menschen zu werden? Als ich nun merkte, daß der Alte für das ehrlose Familienglied noch immer Zuneigung genug besaß, um ihn für gebessert zu halten, und als er deutlich die Absicht merken ließ, Fräulein Clemence dem Kerl zu opfern – als ich ihn bei der Erinnerung an Dich schwanken sah und schließlich sogar erfuhr, daß Herr Kurt das Arrangement des Alten gar nicht kannte, sondern sich selbst für den zukünftigen Majoratsherrn hielt – als ich ferner erfuhr, daß die Bemühungen um Clemence erst nach dem Tode des Erben Bruno begonnen hatten, da gab ich meine kleine Geschichte zum besten: wie dieser Kurt den feigsten Mordversuch gegen mich geplant hat. Wahrhaftig, mehr der armen Clemence als Dir zuliebe redete ich von der Sache.

Die Wirkung war blitzartig. Der Alte schien wie betäubt und errötete bis unter sein weißes Haar über die Schändlichkeit. Nun will ich gestehen, daß ich das Eisen schmiedete, solange es warm war, und nicht unterließ, auf die Verbindung zwischen Kurt und Stropp und auf den Nutzen hinzuweisen, den die antijüdische Bewegung dem sauberen Herrn gewährte. Sie erschien dem Alten jetzt freilich in einem anderen Lichte. Zornglühend sprang er auf und ging mit heftigen Schritten umher. Gerade so, wie Du soeben tust. Er raffte seine hohe prächtige Gestalt stramm zusammen, wie ich ihn seit Brunos Tode nicht mehr gesehen. Einigemal hob er drohend seine Hand – es konnte einem ganz bange werden. Mit einem verächtlichen Griff zerriß er die letzte Nummer des »Arminius«. Endlich faßte er sich wieder, dankte mir und beklagte, daß er sich so lange Zeit mit sehenden Augen gegen sein besseres Gewissen habe am Narrenseil führen lassen. Gestern abend ist er als rächender Genius in Berlin eingetroffen und im Hotel abgestiegen, damit die Mädchen nichts von den stürmischen Familienszenen erfahren. Und heute, während wir hier sprechen, ist großer Familienrat beim Alten, das Gewitter bricht über den Schuldigen los und Du hast Zeit, Dich vollends mit Clemence zu versöhnen. So, nun weiß Du alles. Ich hoffe, Du führst nun Dein Tuch gerührt an die Augen und drückst mich mit schwägerlicher Inbrunst an Dein Herz.«

Heinrich war noch nicht zu Ende mit Dankesworten und Fragen, als die beiden Mädchen sich der Tür näherten, Evchen mit drolliger Strenge in den Mienen, Clemence mit flehendem Blick. Als Heinrich hinzueilen wollte, verschloß Evchen von innen die Tür und rief hindurch, die Liebenden hätten zur Strafe für ihre Narrheit verdient, sich durch eine Glasscheibe versöhnen zu müssen. Da lachte auch Clemence auf; Victor schalt, daß man wenigsten ihn hineinlassen sollte; Heinrich verlegte sich aufs Bitten und nach vielen Strafpredigten und halbernsten Ermahnungen entschloß sich Evchen, die Tür wieder aufzuschließen.

Plötzlich ertönte die Klingel des Vorzimmers rasch zweimal hintereinander. Kaum standen die beiden Paare wieder beisammen, als auch schon die Eingangstür heftig aufgerissen wurde und Kurt hastig eintrat. An der Tür blieb er stehen, suchte seiner Bewegung Herr zu werden und in Gegenwart der Damen die gewohnten Formen zu beobachten. Aber so stürmisch flog sein Atem, so wild blickten seine Augen, daß die beiden Männer unwillkürlich einen Schritt vortraten und Clemence sich ängstlich an Heinrichs Arm hing.

Kurt sah auf den ersten Blick, wie sehr die Lage der Dinge sich verändert hatte. Noch einmal schöpfte er tief Atem, dann näherte er sich mit zuckenden Lippen, aber in gemessener Haltung und machte der Gesellschaft eine kurze Verbeugung.

»Ich wollte mich nur persönlich davon überzeugen«, sagte er, »daß die Geschichte im reinen ist. Ich gratuliere Ihnen, Herr Doktor! Für eine Frau wie Clemence würde ich mehr als mein Judentum verkaufen.«

Bevor Heinrich noch antworten konnte, preßte Clemence flehend seine Hand, und Victor fiel rasch ein:

»Ich will nur bemerken, Herr Kurt von der Egge, daß ich mich heute abend mit Fräulein Eva von Auenheim verloben werde und daher schon jetzt das Recht beanspruche, mich hier als Vertreter des Hausherrn zu betrachten. Wenn Sie meine Stellung nicht anerkennen sollten, so müßte mich das um so mehr schmerzen, als ich mir von einem so nahen Verwandten meiner Braut keine Genugtuung verschaffen könnte.«

Kurt erbleichte.

»Sie täuschen sich vollständig, Herr Kamerad. Ich wollte den Herrn Doktor nicht verletzen. Ich habe es immer gesagt: Doktor Wolff erinnert gar nicht an einen Juden. Es ist merkwürdig. Oder auch nicht. Sie wissen ja: Pater semper incertus! Gilt wohl auch von jüdischen Müttern.«

»Es genügt«, rief Heinrich, der den Gegner bisher mit verächtlichen Blicken gemessen hatte, jetzt aber jäh auffuhr.

Die beiden Mädchen verstanden wohl die letzten Ausdrücke und ihre böse Meinung nicht, aber trotz der höflichen Miene Kurts ahnten sie doch, daß gefährliche Worte gefallen sein mußten. Clemence rang nach Fassung und Evchen rief ein über das andere Mal:

»Wenn doch Großpapa käme.«

Nur Victor hatte seine Ruhe nicht verloren. Er trat dicht an Kurt heran und sagte leise, indem er ihm fest in die unruhig flackernden Augen sah:

»Sie spielen ein gefährliches Spiel. Sie beginnen einen Streit und sollten doch wissen, daß Sie keine ehrliche Waffe gebrauchen dürfen.«

Kurt wurde blaß, schleuderte aber Heinrich noch einen herausfordernden Blick zu, bevor er mit einer höhnischen Verbeugung gegen die Damen sich zurückzog.

Doch in der Tür traten ihm schon der alte Herr und der schöne Eberhard entgegen. Der Freiherr wieder stolz aufgerichtet wie vor Brunos Tode.

Herr von Auenheim schien nicht eben aufgeregt zu sein, er küßte seine jüngere Tochter leicht auf die Stirn, reichte allen Anwesenden, auch Kurt die Hand und fing eben eine Bemerkung über das heutige Wetter an, als der Alte ihn mit hartem Tone unterbrach.

Herbert von der Egge hatte gleich beim Eintreten einen drohenden Blick auf Kurt, einen sorgenvollen auf die Mädchen geworfen. Schnell trat Victor auf ihn zu, um ihn mit zwei Worten von dem Vorgefallenen zu unterrichten.

Kurt schaute ängstlich beiseite und wollte das Zimmer verlassen, als der Alte rief:

»Sie bleiben, Herr Kurt von der Egge, wenigstens so lange, bis ich den Mitgliedern unserer Familien Mitteilung über Ihre Pläne gemacht habe. Mein Großneffe, Herr Kurt von der Egge, Hauptmann außer Diensten, hat sich entschlossen, Deutschland zu verlassen und im Heere des Sultans die Laufbahn fortzusetzen, die er vor vielen Jahren unter preußischen Fahnen begonnen. Was meinen Großneffen zu diesem Schritte veranlaßt, entzieht sich für uns alle fortan jeglicher Besprechung. Ich bitte Sie, Herr Kurt von der Egge, vor diesen Zeugen zu erklären, daß Sie den Vorschlag freiwillig angenommen haben und binnen heute und drei Monaten auf der Reise nach der Türkei begriffen sein werden.«

Kurt wandte sich wütend um und wollte dem Alten trotzig ins Gesicht schauen. Doch er hielt den finsteren Blick nicht aus, ging schwankend nach der Tür und rief von dort ins Zimmer hinein:

»Ich bleibe bis zum letzten Augenblick der Herr meiner Entschlüsse. Ich werde handeln, wie mir's gefällt. Und von Ihnen, Herr Doktor, hoffe ich noch zu hören. So vornehm wie Sie ist ein Egge immer noch.«

Und Kurt schlug die Tür hinter sich zu.

Der Alte wandte sich gegen Heinrich.

»Nach dem, was hier vorgefallen ist, muß ich Ihnen persönlich eine Mitteilung machen, die mir als dem Haupte der Familie sehr schmerzlich wird.«

Victor, der indessen Herrn von Auenheim und die beiden Mädchen ins Nebenzimmer geführt hatte, eilte herzu.

»Kurt hat Ihnen den Kummer erspart, Großpapa, seine Schmach zum zweiten Male erzählen zu müssen. Heinrich hat sich mit Clemence ausgesöhnt, und dabei erfuhr man, daß Kurt auch hier schändlich verleumdet und gelogen hat. Heinrich wird es uns beiden also ohne weiteres glauben müssen, daß Kurt ihn nicht beleidigen konnte, daß Kurt mit einem Worte nicht satisfaktionsfähig ist. Da hast Du nichts darein zu reden, Heinrich! Deine Schrullen will ich Dir austreiben, wenn wir wieder allein sind. Wenn dieser Freiherr von der Egge Dir versichert, daß einer seiner Verwandten ehrlos sei, so kannst Du Dich wohl dabei beruhigen, denke Ich!«

»Und ich, lieber Herr Doktor, habe noch um Entschuldigung zu bitten wegen des seltsamen Bildes, das Ihnen unsere Familie nach Ihrer Rückkunft darbot. Seien Sie mir willkommen!«

Wieder fiel Victor dem Alten lebhaft ins Wort. Er hörte mit peinlichen Gefühl den höflichen Ton der gegen den herzlichen Verkehr mit ihm selbst sichtbar abstach. Er sah, wie die Züge Heinrichs immer düsterer wurden, je schneller sich alle seine Wünsche zu verwirklichen schienen. Victor wollte den ehemaligen warmen Ton wiederfinden lassen und sagte deshalb:

»Hier kann von Übelnehmen und Entschuldigen überall nicht die Rede sein. Die eine Hälfte der Schuld tragen ja die hochbeladenen Schultern des Herrn Kurt und die andere Hälfte der gute Heinrich selber mit seiner ganz neuen Empfindlichkeit. Donnerwetter, Heinrich, steh doch nicht so steif da wie beim Staatsexamen. Dieser Herr von der Egge wird Dein Großpapa wie der meine, und wenn Du ihn nicht ebensolieb gewinnst wie ich, so ist es mit unserer alten Freundschaft vorbei. Du hast ein schlechtes Gewissen, weil Du ungetauft aus Afrika zurückgekommen bist. Das ist uns ganz recht. Wir wollen alle dabei sein und uns nicht mit dem Zeugnis eines schwarzen Pfarrers begnügen. Nimm Dir doch ein Beispiel an mir. Du bildest Dir doch gewiß ein – wenn auch mit Unrecht –, Deine Clemence sei ebensolch ein Schatz wie mein Evchen? Nun, so sei auch ebenso lustig wie ich. Kommen Sie, Großpapa, wir wollen mit Auenheim und Evchen den Hochzeitstag feststellen. Und dem Träumer hier schicken wir seine Clemence, damit er wach wird.«

Der Alte nickte und ging, von Victor unter dem Arm gefaßt, zu den übrigen hinaus. Heinrich blieb allein, er sank auf einen Stuhl nieder und preßte die Schläfen zwischen beide Hände.

Warum jubelte er denn nicht? Warum schwelgte er nicht wie der glückliche Victor in der Gewißheit, die geliebte Braut umarmen zu dürfen? Sie liebte ihn ja noch wie einst! Alle Qualen der letzten Tagen waren ja sinnlos gewesen, eine Krankheit, von der er beim ersten Liebesworte seiner Clemence genesen mußte! Was lastete denn noch auf ihm? Was drückte so schwer auf sein Gehirn, daß er vor dem Denken, vor der Klarheit wie vor einem tückischen Feinde bangte?

Da legte sich eine zitternde Hand auf seine Stirn. Es war Heinrich plötzlich, als ob die Last, die ihn bedrückte, sich leicht wie eine Feder von seinem Haupte höbe. Ohne aufzuschauen, griff er nach der weichen Hand und führte sie langsam zärtlich an seinen Mund.

»Clemence«, flüsterte er, »sage mir, daß Du mich liebst. Es waren schlimme Tage, in welchen ich an Dir verzweifelte.«

Clemence beugte sich sanft zu ihm nieder, daß ein entfliehendes Haar aus ihren Flechten seine Wange liebkoste, und sagte leise:

»Sei gut, Heinrich, und sprich nicht mehr von dem Vergangenen. Ich bin töricht gewesen und schlecht vielleicht, weil Du nicht bei mir warst. Nun mußt Du immer bei mir bleiben, ich muß immer in Deine lieben Augen blicken können, damit ich bin und bleibe, wie du mich haben willst, Du, Heinrich, Du, mein Geliebter.«

Und tiefer senkte sich die edle Gestalt, zwei weiche Arme schlangen sich um den Hals und warmer süßer Atem hauchte über seine Augen. Da hob Heinrich in glücklichem Selbstvergessen sein bleiches Gesicht, schaute von unten her in die glänzenden Augen des Mädchens, faßte mit beiden Händen den herrlichen Kopf und in einem langen Kusse verschmolz Liebe und Hoffnung.

Clemence machte sich zuerst aus der Umarmung los und setzte sich, da Heinrich ihre Hände festhielt, auf das Taburett neben ihm.

»Ich bin so glücklich«, sagte sie. »Wenn die Mutter es doch erlebt hätte!«

Wieder flog ein Schatten über Heinrichs Augen.

»Wenn die Mutter es doch erlebt hätte!« wiederholte er, schwermütig mit dem Kopfe nickend. »Sie war gut und klug und ihr hätte ich gehorcht. Sie hätte uns einen Weg gezeigt, hinaus aus dieser Verwirrung, aus dieser Welt der Lüge und des Hasses.«

»Was ist Dir, Heinrich?« rief Clemence entsetzt. »Die häßlichen Worte! Du sprichst von Lüge und Haß, und ich kenne doch nur eine Welt voll Liebe und Sonnenschein. Vergiß doch die alten Qualen! Freue Dich doch unserer Liebe; ich will von Deinen Augen jeden Wunsch ablesen, von dem Du selbst noch nichts weißt, und Du sollst recht, recht glücklich werden mit der Clemence, die Dich als Braut so viel geärgert hat.«

»Sprich nicht so!« sagte Heinrich traurig. »Schon der Gedanke, Dich mein zu wissen, ist unfaßbares Glück, Dich, meine Clemence, mein Himmelsbild aus Wolkenhöhen hier an meiner Seite zu haben, Deine Hand zu halten, Deine Sprache zu hören, Deinen Mund zu küssen...«

Heinrich sprang auf und rang nach Atem. Dann fuhr er fort:

»Willst Du Dich um meinetwillen lossagen vom Vater, vom Großvater, vielleicht auch von der Schwester? Willst Du den Zorn Deiner Familie, das Mitleid Deiner Jugendgenossen ertragen? Sonst darf ich Dich nicht die Meine nennen: Ich kann die eine Bedingung nicht erfüllen, ich kann nicht Christ werden.«

Clemence erhob sich langsam, und die Liebenden standen Hand in Hand einander gegenüber. Nicht erschreckt, aber sorgend blickte er sie an.

»Besinne Dich«, sagte sie liebevoll. »Du bist ja ein Christ, Du hast es mir ja selbst gesagt in jener ernsten Stunde, da Du mich zum erstenmal in meinem Leben in ein Mannesherz blicken ließest.«

»Ja, ich bin ein Christ«, rief Heinrich schmerzvoll, während er Clemence an sich heranzog. »Ich bin ein gottloser Christ, wie Victor es ist, wie meine Jugendgenossen es alle sind. Ich bin ein Christ, seitdem ich denken kann, und früher sollte doch niemand für sein Leben verantwortlich gemacht werden. Ich bin ein Christ, wenn schon ein Wort aussprechen soll, was besser unausgesprochen bliebe. Und gerade darum, weil ich der großen Christenheit durch freie Wahl angehöre mit jedem Zucken meiner Wimpern, gerade darum fühle ich doppelt die Qual, sagen zu müssen: Ich kann in diesen Zeiten den äußeren Übertritt zum Christentum nicht vollziehen. Wäre ich Jude, ein Jude noch dazu, wie er jetzt von unberufenen Fingern an alle Wände gemalt wird, so würde ich mich weigern, aber ich wäre mit ganzer Seele auf Seiten des Judentums, wäre einig mit mir selbst. So aber muß ich eine Tat unterlassen, nach der ich mich sehne, wahrhaftig wie nach Erlösung! Erlösung vom uralten Fluche des Trotzes wäre es, wenn die Millionen Juden durch Liebe gewonnen, in Reih und Glied mitkämpfen wollten mit den anderen Menschen! Ahasvers Erlösung! Aber der ewige Jude soll ja nicht sterben! Nur der einzelne, der den Tod fürchtet, findet ihn! Die Gesamtheit, die sich nach ihm sehnt, muß weiterleben! Und wenn ich, ein einzelner, auch einst mit ruhigem Gewissen das Judentum von mir abschütteln wollte, jetzt bin ich nicht frei! Ich weiß, was Du mir sagen kannst, weiß, daß ein Ehrenmann sich um das Treiben einer abscheulichen Rotte nicht zu bekümmern braucht; ich weiß, daß ich den falschen Schein verachten sollte, aber ich kann nicht anders, ich kann nicht!«

Clemence rang die Hände.

»Niemals wird Großpapa zugeben, daß ich durch meine Ehe aus dem Christentum heraustrete! Und niemals werde ich mich für Deine Frau halten können, wenn wir nicht in der Kirche, zu der ich gehöre, verbunden worden sind. Glaube nicht, Heinrich, es sei die äußere Form, die mir am Herzen liegt! Nein, komme mit mir in die nächste Dorfkirche, komm mit mir in die Kapelle eines Gefängnisses, und ich will mich als Dein Weib antrauen lassen und jubeln vor Glück und Seligkeit. Nur geh der Kirche nicht aus dem Wege, denn ich will Dein ehrliches Weib werden, Heinrich! Und wenn Du keine rechte Ehe suchst, wenn Du mich zu Deiner Geliebten machen, wenn Du mit mir leben willst gegen Sitte und Religion – Heinrich, auch dann kannst Du es von mir erlangen! Ich liebe Dich und folge Dir, wohin Du willst! Ich glaubte, Dich verloren zu haben, und weiß jetzt, und kann Dir's jetzt sagen, daß ich daran gestorben wäre, hätte ich Dich nicht wiedergewonnen! Ich lasse nicht von Dir, ich bin Dein! Mache aus mir, was Du willst! Trenne mich vom Vater, zu dem niemand gut ist als ich, ich allein, der's die Mutter aufgetragen hat – trenne mich von Evchen, von meinem lieben guten Evchen – trenne mich von meiner Sitte, von meinem Gott – ich will gehorchen! Aber Du, mein Geliebter, Du wirst, Du kannst das alles nicht wollen!«

Und schluchzend sank Clemence an seine Brust.

Schmeichelnd legte Heinrich den Arm um ihre Schultern; er zwang seinen Schmerz und sprach leise:

»Komm, mein süßes Glück, komm hinweg aus diesem Lande. Ich habe danach zurückverlangt wie ein verlorener Sohn nach seinem Vaterhause. Ich habe dafür geblutet wie die anderen und werde nun nicht geachtet wie die anderen. Komm, Clemence, folge mir, wir gehen zusammen in die Ferne, nach der Schweiz, in ein deutsches Tal zwischen himmelhohen Bergen. Unser Glück gründen wir dort, Du bist ja mein. Und Kranke wird's wohl auch noch dort geben, für die ich tätig sein kann. Komm, mein süßes Glück, wir wollen uns dort ein Haus gründen, ich will in den Hütten der Armen meine Rezepte schreiben und Du, Du sollst dort auch nicht müßiggehen, Hausmütterchen. Ich lehre Dich von meiner Wissenschaft, was Du lernen willst. Und während ich im Gebirge umherwandere und die Kranken aufsuche, empfängst Du zu Hause die Frauen des Dorfes, hilfst, wo Du kannst, und erteilst Deinen Rat. Und wo nicht mehr zu raten und zu helfen ist, da gehst Du selbst zu den Leuten und reichst den Sterbenden eine Labung; und Dein Anblick wird überall Trost bringen. Folge mir, Clemence! Wir sind dann ehrlich Mann und Weib und verdienen uns ehrlich, mit mühevoller Arbeit, unser Recht am Leben, unser Glück!«

Und er faßte den Kopf des Mädchens in seine Hände und bedeckte Mund und Augen mit seinen Küssen. Sie ließ ihn gewähren. Dann schlug sie die strahlenden Augen auf, faßte seine Hände, schüttelte das Haupt und rief flehend:

»Dein Weib kann ich nicht sein, bevor Du nicht mit mir in meiner Kirche vor dem Altar gekniet hast, bevor der Priester unsern Bund nicht gesegnet hat. Aber ich will ausharren! Ich will geduldig warten, bis Du versöhnt bist und einsehen gelernt hast, daß der Gott der Liebe es nicht verschuldet hat, wenn in seinem Namen Haß gepredigt wird. Doch wenn Du zürnen zu müssen glaubst, wenn Du dich nicht versöhnen kannst, so handle nach Deiner Einsicht. Ich bleibe Dein, ich bleibe Deine Braut, bis Du es an der Zeit hältst, mit mir in die Kirche zu treten!«

»Clemence!« rief Heinrich außer sich vor Schmerz. »Und wenn diese Zeit nicht mehr wiederkommt? Wenn die Wut dieses Kampfes nicht nachläßt, bis er das gegenwärtige Geschlecht für immer entzweit hat? Wenn wir wirklich wieder Juden werden, weil man uns nicht als Deutsche anerkennen will? Oder wenn wir im Zorn und aus Trotz wirklich zu Verbrechern und vaterlandslosen Verschwörern würden?«

»Dann bleib' ich Deine Braut bis in den Tod. Dann wissen wir, daß wir wir selbst geblieben sind, daß wir schuldloses Elend erdulden.«

»Schuldloses Elend?« lachte Heinrich bitter. »Wir sind die Erben unserer Väter. Ich bin ein Jude und büße heute dafür, daß mein Stamm so frei war, trotz jahrhundertelanger Verfolgung weiter zu leben und sich neben den Feinden sein Dasein zu erkämpfen, zu erkämpfen auch mit List und Schlauheit, den letzten Waffen gegen Übermacht und Blutgier. Du aber bist die Enkelin von höfischen Geschlechtern, die Glanz und Schönheit um den Preis der eigenen Überzeugung erkauft haben. Du siehst in den Menschen um Dich her die Welt, Du wagst um Deine Liebe nicht den Kampf mit dieser Welt. Gut denn, so will ich es versuchen, mit meinem eigenen Stolze um Deinen Besitz zu kämpfen. Wenn meine Liebe über meine Ehre siegt, komme ich wieder.«

Und Heinrich wandte sich zum Gehen.

»Heinrich!« schluchzte Clemence. »Mit Dir soll ich nicht, ohne Dich kann ich nicht leben. So möchte ich mit Dir sterben, Du geliebter, Du unseliger Mann!«

»Mit Dir sterben!« wiederholte Heinrich langsam. »Du hast es gesagt! So scheiden wir doch nicht völlig hoffnungslos!«

Noch einen langen, heißen Kuß preßte er auf ihre Lippen, dann verließ er das Haus.


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