Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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Erster Teil

Zwei Weltwanderer ziehen durch die Lande, heute wie vor tausend Jahren, in ihren Gesichtern den Bruderzug der milden Trauer.

Wuotan heißt der eine Wanderer, Ahasver der andere.

Als von der ersten deutschen Christenkirche der erste Glockenton zum Himmelsdom emporschallte, da verblichen wohl die alten Götter, da fiel Thors Hammer mit ungeheurem Getöse ins Meer hinab, und Wuotan fühlte Winterfrost im Herzen.

Eng zog er den schwarzblauen Mantel über der Brust zusammen, tief drückte er den breitkrämpigen Hut in die Stirn und begann seine Wanderung.

Der Menschen Geschlechter starben. Immer länger und grauer wuchs dem Unsterblichen der Bart, immer tiefer sanken die strahlenden Augen in ihre Höhlen, immer finsterer blickte Wuotan.

Ruhelos zog er einher. Die Straßen vermied er nicht, einsame Wälder suchte er auf. Wenn er Leidende sah, blieb er wohl teilnahmsvoll stehen. Aber er durfte nicht helfen, seine Göttermacht war gebrochen.

Nur grüßen durfte er. Aber die Leute verstanden sein Grüßen nicht.

Doch der andere Weltwanderer, der oft und oft mit Wuotan dieselbe Straße hinschritt, verstand den Gruß. Und wenn die beiden ragenden Männer einander in die Augen blickten, dann erzählten sie einander von überwundenen Göttern, und nur ein einziges Wort kam über ihre Lippen: »Friede!« sprach Wuotan und »Friede!« antwortete Ahasver.

Und als die christlichen Ritter sich einst erhoben, um das heilige Grab aus den Händen der Ungläubigen zu reißen, da war es ihr erstes Werk, daß sie ein paar tausend Juden verbrannten.

Der Wuotan kam des Weges, und unter seinen buschigen Brauen, die sich, rätselhaft in eins verwachsen, unter der Stirn hinzogen, warf er trübe Blicke auf die verkohlten Trümmer. Da rief das Volk: »Habt Ihr den alten Mantel gesehen? Und den Reisehut? Und die schrecklichen Augen? Und den Staub auf seinen Füßen? Das war Ahasver, der ewige Jude, der bei der Kreuzigung des Heilands zugegen war und als Zeuge leben bleiben muß bis zum jüngsten Tag. Steinigt ihn!«

Das Volk kannte den Wuotan nicht mehr und hielt ihn für Ahasver.

Da mußte Wuotan lächeln, weil das Volk in seiner Torheit das Richtige erraten hatte. Was heute einige gelehrte Männer in ihren Folianten entdeckt haben, was Ahasver selbst nicht glauben wollte, das wußte der weise Wuotan: Er und Ahasver waren nur Eins.

Einst stießen die Weltwanderer wieder aufeinander. Es war ein wilder Ort zwischen Gletschern und Gestein.

Wuotan war freudigen Herzens. Zu den alten Ehren wuchs sein Stamm wieder empor, fromme Sänger fingen an, Wuotans Namen wieder anzurufen, und riefen das Volk zu künftigen Siegen. Und Wuotan stritt unerkannt in den Reihen der Seinen.

Ahasver aber wanderte weiter.

Und die Leute wurden allgemach sanfter.

Und eines Tages – es war eigentlich eine Nacht, die Nacht vom 4. auf den 5. August des Jahres 1789 – da versammelten sich die Männer, die man später die Girondisten nannte, und sprachen unter dem Jubel der Erde von allgemeinen Menschenrechten.

Da lächelte Ahasver zum ersten Male beglückt, legte sich in sein Grab und glaubte, er wäre tot. Und wir alle hielten ihn für tot.

Was wir nun plötzlich unter uns auftauchen sahen, das Gespenst des gemarterten ewigen Juden, ist es der alte Ahasver, der aus seinem Totenschlaf wieder auferstanden ist? Oder ist es ein neuer, ein noch unglücklicherer Ahasver?

Er hat seinen alten Mantel und Hut abgelegt, und auch den langen Bart trägt er nicht. Er geht gekleidet wie alle Welt. Das ist von den Menschenrechten noch übriggeblieben.

Er wird auch nicht mehr verbrannt oder mit dem Beil getroffen.

Aber die alte Bosheit steht wieder gegen ihn auf und bewaffnet ekles Geschmeiß und Mücken gegen ihn, daß er, durch unzählige Mückenstiche verletzt, unterliege.

Und weil ich weiß, daß nicht alle die Gespenster erkennen, die am lichten Tage umhergehen, darum will ich die Geschichte eines schlichten Mannes erzählen, der die Züge des neuen Ahasver trägt, der sein Schicksal erduldet, und für den ich Teilnahme und Achtung gewinnen möchte.

Denn auch der neue Ahasver stirbt nicht mit dem Tode des einzelnen Juden.


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