Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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XVII.

Viele Tage lang irrte Heinrich in der Stadt umher, als wäre er ein Fremder im Orte, besäße keinen Freund da, keinen Beruf und keine Heimat. Die Stadt schien ihm verwandelt.

Was er aus den Berichten über mittelalterliche Schrecken kannte, das schien sich in seinem lang ersehnten neuen Reiche wieder, wenn auch in stillerer Form, erneuern zu wollen. Wie durfte er als Arzt einem Armen seine ärztliche Hilfe anbieten, wenn er fürchten mußte, daß der Kranke ihn von sich wies und rief: »Du bist ein Jude und willst mich mit Deinen Arzneien vergiften, um die Christen aus der Welt schaffen zu helfen.«

Heinrich schalt sich selbst, daß er in seinen grüblerischen Gedanken die Zustände vielleicht ins Dunkle übertrieb. Und doch – worin lag denn die Übertreibung? Wenn das wirklich schon Geschehene berechtigt war, dann durfte die Bewegung nicht stehenbleiben, dann mußte man den vielen Tausenden, welche mit Heinrich in völliger Unkenntnis ihre Ruchlosigkeit an der Entwicklung der deutschen Dinge ihren Anteil genommen hatten – dann mußte man diesen Tausenden im Ernste den Verkehr kündigen und gegen sie einen neuen Kreuzzug predigen. Den Kreuzzug von Neu-Rom gegen Jerusalem!

War denn das alles wirklich so unmöglich? Las er es nicht täglich in den neuen Blättern, welche sich der Unterstützung hochgeborener und hochgestellter Menschen rühmen konnten?

Und war überhaupt noch etwas unmöglich, nachdem das Entsetzliche eingetreten, nachdem die herrliche Clemence ihm fremd geworden war, die Sonne der Heimat ihr Licht verloren hatte? Wenn das deutsche Volk dieselbe Handlung beging, durch welche er seine Braut verloren hatte – durfte er das deutsche Volk härter anklagen als seine Braut? Und klagte er diese denn an?

Heinrich irrte friedlos umher. Keiner von seinen alten Bekannten grüßte ihn auf der Straße. Und wenn auch niemand von seiner Anwesenheit wußte, wenn auch der lange Bart und die gebräunte Gesichtsfarbe ihn fast unkenntlich gemacht hatten, so überkam ihn doch jedesmal das bittere Gefühl, als ob sein Inkognito, wenn nicht eine Folge, so doch ein Symbol des barbarischen Treibens wäre.

Victor sei auf sein Gut gefahren, hieß es, als Heinrich nach Tagen den Freund wieder aufsuchte. Gewiß, Victor hatte das Recht, auf sein Gut zu fahren. Aber daß er so plötzlich abreiste, gerade als Heinrich nach langer Abwesenheit zum Kampfe um sein Glück zurückkehrte, daß Victor abreiste, ohne für den Freund einen Gruß, ein Wort zurückzulassen – das konnte kein Zufall sein. Nie, nie hätte Heinrich es vom Freunde geglaubt und wenn er es hätte glauben müssen: es hätte ihn in seinem ganzen Wesen erschüttert. Aber nun – Clemence war abgefallen, das Leben war zerstört. Was macht es dem gefällten Baum, wenn noch ein Axtschlag gegen den umgeworfenen Stamm geführt wird?

Als Heinrich von Victors Wohnung nach seinem Hotel zurückkehrte, führte ihn der Weg an dem Hause vorüber, dessen erstes Stockwerk Kurt von der Egge innehatte.

Er wollte, in seinen Gedanken versunken, weitergehen, als ihn vom letzten Fenster her die wohlbekannte Stimme Omars anrief. Heinrich blieb einen Augenblick überrascht stehen, dann entschloß er sich rasch hinaufzugehen, um sich nach Emma und nach der Aufführung des Schwarzen zu erkundigen.

Das prächtige Haus hatte heute die Torflügel weit geöffnet. Auf den Treppen gingen geschäftige Männer und Frauen hin und her.

Oben standen die Türen der Wohnung auf. Einige Zimmer waren ausgeräumt, in anderen drängten sich die Möbel unordentlich durcheinander.

Heinrich erhielt auf seine Frage von den Umstehenden bereitwillige Antwort. Er hörte zu seinem Schrecken, daß Emma vor kurzem im Hause ihres Vaters gestorben sei, daß der Witwer in einem Hotel allein wohne und daß heute die gesamte kostbare Einrichtung einzeln an den Meistbietenden versteigert werde. Die Geschäftsleute, die hier billige Einkäufe zu machen hofften, schienen in alle Geheimnisse der Familie eingeweiht.

»Nun wird auch Frau Tinaleben sich ein bescheidenes Zimmer suchen müssen«, rief ein alter Mann, während er die Festigkeit eines Gardinenstoffes prüfte.

»Der alte Feigelbaum gibt keinen Pfennig mehr her, nicht für den Julius, nicht für Tina und am wenigsten für den Herrn Hauptmann«, sagte eine würdevolle Dame, welche drei Spucknäpfe und eine Bronzestatuette in den Händen hielt.

»Sie haben ihm nicht viel übrig gelassen«, rief jemand vom Korridor herein.

Heinrich ging rasch ins letzte Zimmer, wo der Auktionator während der eingetretenen Pause eben sein Frühstück verzehrte. Neben ihm, auf einem zusammengerollten Teppich, hockte Omar und grinste seinem ehemaligen Herrn frech ins Gesicht.

Der Arzt ließ sich von dem Schwarzen bestätigen, was er eben gehört hatte. Dann fragte er, wie es ihm gehe, ob er seiner schönen Herrin gern diene.

Omar lachte. Er habe keinem Menschen zu gehorchen als dem Herrn Hauptmann. Der sei ein guter Mann und erzähle ihm, wie deutsche Betrüger nach Afrika gehen und sich für Zauberer ausgeben. Omar sei jetzt klug geworden und wisse schon, daß der Herr Doktor, den sie unter den Wilden für einen großen Wundermann hielten, hier auch nicht mehr sei als ein Schwarzer aus Afrika. »Auch Semit!« schloß er und blickte stolz um sich.

Doch er sprach die Worte so komisch aus und schnitt in seinem Hochmute dazu ein so dummes Gesicht, daß Heinrich den Zorn, der ihn beschleichen wollte, leicht überwand und kopfschüttelnd die ungastlichen Räume verließ, als der Beamte eben wieder begann, ein Dutzend Stühle »antik, eichengeschnitzt« auszurufen.

Die Nachricht vom Tode der armen Frau hatte den Arzt weich gestimmt. Er sehnte sich noch mehr als sonst nach einem Menschen, dem er sein volles Herz ausschütten konnte; aber der Gedanke, alle seine Bekannten im Banne der neuen Mode zu finden, schreckte ihn zurück.

Da fiel ihm der kleine Sanitätsrat ein. Doktor Friedmann hatte sich ja selbst einmal einen Juden genannt, von dem war also nichts zu besorgen. Heinrich ärgerte sich zwar über sich selbst, daß er in Gedanken nach der Konfession des Freundes gefragt hatte; als es aber Abend wurde, wo er einst den vielbeschäftigten Arzt stets in seiner Wohnung zu finden pflegte, ging er freieren Herzens hin.

Die Frau begrüßte ihn herzlich, die Kinder lärmten wie immer, hier hatte sich nichts verändert. Bald kam auch der Sanitätsrat nach Hause und hätte den Kollegen vor Freude beinahe in die Arme geschlossen.

Ja, hier war alles noch wie einst. Der Sanitätsrat küßte erst sein Weib, dann die Kinder, eins nach dem andern.

»Wo ist Paul?« fragte er dann.

»Er ist noch nicht aus der Schule zurückgekommen«, sagte die Frau.

»Du mußt nicht so streng sein, Friedmann«, fügte sie hinzu, da ihr Mann die Stirne runzelte. »Paul ist schon fünfzehn Jahre alt und immer Primus gewesen. Auf den können wir uns verlassen. Er wird bei einem Mitschüler die deutsche Arbeit überlegen.«

Der Sanitätsrat war beruhigt und begann mit Heinrich zu plaudern. Und es dauerte nicht lange, so erzählte dieser auch schon, wie schwer das häßliche Treiben Berlins auf ihm lastete. Er durfte hier von dem Nächsten, von seinem Liebesleid nicht sprechen; aber er vergaß es auch völlig, während er schilderte, wie bitter er diese Nichtswürdigkeiten empfand.

Frau Friedmann nickte ihm oft zu, der Mann aber ließ ihn ruhig ausreden. Dann drückte er seine Hand und sagte nach einigem Besinnen:

»Ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Mich läßt die dumme Hetze nicht gleichgültig, wenn sie mich auch bisher nicht persönlich berührt hat. Ich bin gar nicht abgeneigt, diesem Doktor Stropp oder wie er heißt, sein Wahnsinns Attest auszustellen. Aber so tragisch müssen Sie die Sache nicht nehmen! Mögen die Leute hinter meinem Rücken reden, was sie wollen! Ich lese die Hetzblätter nicht, ich unterhalte keinen ausgedehnten Verkehr, ich weiß nicht viel von der Welt. Und wenn ich mich in meinen vier Wänden umschaue, so bin ich mit mir und meiner Familie so zufrieden, daß ich den Leuten einfach nicht glaube, wenn sie mich einen Wucherer oder Gott weiß was schimpfen. Ich bin und bleibe ein Jude und will, daß meine Kinder nie völlig den Zusammenhang mit unseren Überlieferungen verlieren. Ja, ich bin zu stolz, um mich von diesen Leuten ärgern zu lassen. Mich soll ihr Lügen nicht aus meiner stoischen Ruhe schrecken. Ich tue unentwegt meine Pflicht und blicke verächtlich auf sie hinunter.«

Das Gespräch über die »Tagesfrage«, wie man auch hier sagte, dauerte noch fort, als es mehrere Male rasch nacheinander klingelte.

»Es wird Paul sein«, sagte die Frau.

Doch plötzlich stieß das Mädchen, das öffnen gegangen war, einen furchtbaren Schrei aus und riß jammernd die Tür auf. Die Eltern waren aufgesprungen. Da brachten zwei Männer den Liebling auf ihren Armen herein.

Paul versuchte, als er die Mutter erblickte, den Kopf zu heben und die Hand auszustrecken. Aber er blieb steif liegen, als zögen ihn die triefenden Haare zurück.

»Mein Kind, mein Paul! Du bist ins Wasser gefallen! Lebst Du? Mein Gott, mein Gott, stirb mir nicht!«

Der Sanitätsrat brachte den Knaben mit Heinrichs Hilfe rasch zu Bett und verordnete alles Nötige. Der Knabe zitterte vor Frost und Fieber. Eine schwere Krankheit war im Anzuge. Sprechen konnte er nicht.

Die Mutter blieb am Krankenbett zurück, während die Ärzte ins Wohnzimmer traten, um sich nach den näheren Umständen des Unglücksfalls zu erkundigen. Die Männer, die Paul heraufgetragen hatten, wußten nichts, sie hatten den Knaben ins Wasser springen sehen und herausgezogen. Ein anderer Knabe, der draußen auf der Treppe stehe, habe ihnen die Wohnung angegeben.

Als der Sanitätsrat hörte, Paul sei ins Wasser gesprungen, sank er auf einen Stuhl und vergrub seinen Kopf in den Händen. Heinrich holte den kleinen Freund herein. Es war ein Mitschüler, der – selbst vor Angst und Schrecken zitternd – Bericht erstatten mußte. Es war eine kurze Geschichte:

Paul war bisher immer Primus gewesen. Heute hatte ihn der Lehrer abgesetzt und gesagt, ein »Mauschel« dürfte in einer christlichen Klasse nicht regieren. Paul berief sich vergebens trotzig auf sein Recht; er wurde vom Lehrer verspottet und nach der Stunde von der ganzen Klasse gehänselt. Paul griff seine Peiniger an, wurde aber von der Überzahl überwältigt und jämmerlich geprügelt. Paul hatte nur noch einmal gerufen: »Das wird mir die Mutter nicht glauben!« Dann wäre er, ohne innezuhalten, vom Schulgebäude bis zum Wasser gelaufen und da von der Mitte der Brücke hineingesprungen.

Heinrich ließ den Knaben nach Hause gehen.

Als er selbst sich selbst zum Fortgehen anschickte, saß der Sanitätsrat noch immer auf seinem Stuhle, rief ein über das andere Mal »Mein armes Kind!« und schluchzte mit verhaltenem Atem vor sich hin.

Mit wildem Humor streifte Heinrich von nun an wie ein Tourist in der Stadt umher. Er besuchte alle Museen, alle großen Denkmäler, alle Paläste, alle Kunstinstitute, um sich überall persönlich zu überzeugen, daß unter dem hereinbrechenden Inhumanismus noch die konventionelle Pflege von althergebrachten Formen der Wissenschaft und Kunst nicht aufgehört habe.

Und mittags und abends besuchte Heinrich wenig bekannte Gasthäuser aller Stadtteile und trank sein Bier inmitten von Gruppen, die über die Existenzberechtigung der Juden stritten.

Heute war er in der Kneipe, die von freisinnig denkenden Bürgern besucht wurde. Das Gespräch war nicht heftig und gebrauchte nicht die schlimmsten Schlagworte; über die Stadtverwaltung wurde geredet und, ohne daß es die wackeren Leute selbst bemerkten, gelangten sie dahin, das Judentum, welches sie im allgemeinen mit kühlen Worten verteidigten, für die Fehler der Wasserleitung verantwortlich zu machen.

Am Abend saß Heinrich nicht weit von einigen Studenten in einem versteckten Speisehaus, in welchem außer Milch, Wasser, Gemüsen, Limonaden und Brot nichts verabreicht wurde. Die Studenten, welche bei dieser Kost ihrer deutschen Gesinnung und ihrem knappen Geldbeutel Genüge zu tun glaubten, waren im Grunde prächtige Burschen. Sie führten große Worte im Munde, gaben sich nicht mit Kleinigkeiten ab, behandelten die Frage vom hohen wissenschaftlichen Standpunkte mit starker Logik und mangelhaften Kenntnissen. Für sie war es ausgemacht, daß jeder Jude ein Betrüger, wenn nichts Schlimmeres war. »Kein Jude kann deutsch sprechen oder schreiben«, rief der eine. Und: »Wenigstens ein richtiger Lyriker ist unter den Juden unmöglich«, rief ein anderer, und sie trällerten: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, zahlten ihre Milch und gingen.

Am nächsten Tage geriet Heinrich in ein Bierhaus, in welchem ein wilder Haufe von Menschen durcheinander schrie, deren sonstiger Beruf schwer zu erkennen war. Es waren »Führer« darunter, flüsterte der Kellner dem neuen Gaste zu, dem er sofort eine Handvoll der neuen Zeitschriften brachte.

Heinrich erkannte in dem Gewimmel der heftig streitenden Menschen den Doktor Stropp. Seine Aufmerksamkeit war dadurch noch mehr erregt. Er hörte den Debatten zu, welche ungeordnet von Tisch zu Tisch geführt wurden. Es handelte sich um die Verteilung der Beute. Eine einträgliche Stellung war zu besetzen, und ein jeder Tisch, an welchen drei bis zehn Bezirksgenossen saßen, forderte die Stelle für seinen Führer. Immer lauter wogte der Streit, immer roher fielen die Beleidigungen hinüber und herüber, immer erregter wurden die Gesichter. Da stieg Stropp auf einen Stuhl, um von allen gehört zu werden.

Heinrich betrachtete mit Abscheu und doch wieder mit ärztlichem Interesse die Haltung und Miene des Menschen. Er unterschied sich äußerlich noch immer durch seinen würdevollen langen Rock, die weiße Binde und das sauber gescheitelte Haar von seinen Genossen. Aber in dem Gesichte selbst und in seinem ganzen Körper hatte eine rätselhafte Krankheit arge Zerstörungen angerichtet. Zu jeder einfachen Armbewegung brauchte der Redner die Hilfe des ganzen Körpers, und auch dann noch zuckte der Arm wie unschlüssig. Die Wangen waren dicker geworden, aber eine tiefe Furche zog sich von den Nasenflügeln herab; die einst recht hübschen Augen standen aus den Höhlen hervor, das Weiße war blutunterlaufen, und aus den großen schwarzen Pupillen glänzte es wie unbezähmbare Leidenschaft. Stropp wies in seiner mächtig dröhnenden Rede auf die Verdienste hin, die er sich selbst um die Partei erworben.

Zischen und Beifallklatschen unterbrach den Redner. Die Freunde und Feinde riefen hin und her, drohende Arme erhoben sich, und als Heinrich angeekelt das Lokal verließ, hörte er noch das erste Bierglas über dem Kopfe eines der Streitenden an der Wand zerschellen.

Doch je mehr ihn das Treiben der Sekte anwiderte, desto schmerzlicher empfand Heinrich die Teilnahme der Menge. Wie stark mußte ein uralter Rassenhaß in den Tiefen des Volkes wurzeln, wenn solche öden, heuchlerischen, ideallosen und verbrecherischen Gesellen ihn aufs neue anzufachen und breite Schichten der Provinzbevölkerung anzustecken vermochten!

Heinrich war sich bewußt, daß sein täglich wachsender Zorn nichts mit seiner persönlichen Stellung zu dem Streite zu tun hatte. Der Deutsche in ihm war empört, nicht der Jude.

Stand er doch, wie er wußte, nicht mehr auf dem Boden des Judentums. Ging er selbst doch in der Bekämpfung der orientalischen Weltanschauung viel weiter als alle die heuchlerischen Vorkämpfer der Bewegung, welche das alte Testament als eine von Gott selber diktierte Schrift zu verehren vorgaben, während sie gleichzeitig die Gläubigen dieser heiligen Schrift wie eine Bande internationaler Verschwörer verfolgten.

Heinrich sah mit ernster Teilnahme noch einmal nach dem Stammhause in demjenigen Augenblick zurück, da er es für immer verlassen wollte. Da kam eine Schar Mordbrenner gegen das Haus gerannt.

Mußte er da nicht umkehren und das morsche Gebäude verteidigen helfen, wenn ihm auch vor den gegenwärtigen Besitzern graute?

War er nicht verächtlich wie der erste beste Überläufer, wenn er den Übertritt zum Christentum vollzog, während der Jude wieder wie vor Jahrhunderten dem Hasse und Neide des Pöbels preisgegeben ward? Konnte er seines Lebens je wieder froh werden, wenn er im Kreise der Nächsten brutale Äußerungen über die Juden, die ja am Ende doch seine Stammesgenossen blieben, vernahm – wenn man ihm damit Hand und Zunge band, daß man großmütig bei ihm eine Ausnahme zuließ? Mußte er nicht während des Kampfes zu seinen Stammesgenossen treten und in ihren Reihen leiden, um nach dem endlichen Frieden, vielleicht mit gebrochener Kraft zurückzutreten und zu sprechen: »Lebt wohl! In der Not hatten wir etwas Gemeinsames. Im Glücke habe ich nichts mit Euch zu schaffen!«

Was kümmerten ihn im gewöhnlichen Gang der Dinge die Juden? Er kannte nicht ihre Gewohnheiten, nicht ihre Gesetze. Er wußte es nicht anders, als daß er ein Deutscher war, so lange er denken konnte. Konnte er aber, wie die Sache nun stand, den kühlen Philosophen spielen und so empfinden, als ginge ihn die Sache nichts an? Er gab sich wohl Mühe, aber er merkte doch, es wollte nicht gelingen.

So wanderte Heinrich bei einbrechender Dämmerung wieder einmal in schweren Gedanken zum Brandenburger Tor hinaus und in den Gängen des Tiergartens umher, als er plötzlich eine unheimliche Gestalt auftauchen und scharf beobachtend stehenbleiben sah. Es war ein hagerer Mann mit glänzenden Augen, das blasse Gesicht umflogen von wildem rotem Bart- und Haupthaar. Als der Fremde den Arm erhob, faßte Heinrich seinen Stock schon fester, doch mit einem Freudenschrei flog der andere heran und drückte den Arzt stürmisch an sich. Es war Oswald Fränkel, der närrische Schneider.

Die warme Begrüßung tat dem Arzte wohl. War es auch nur Oswald, so war es doch endlich ein Mensch, der ihn wiedererkannte. Heinrich fragte nach dem Wohlsein der Familie, nach Doretten und Siegfried. Der Schneider schüttelte betrübt und heftig den großen Kopf.

»Es ist nicht, wie es sein sollte, Herr Doktor«, sagte er dann. »Die Erde wird immer schmutziger, und die Sonne brennt im Sommer noch furchtbar heiß. Aber Sie können mich nicht verstehen, Herr Doktor. Sie können den traurigsten Zwiespalt der menschlichen Individualien unmöglich fassen; Sie können nicht wissen, wie es tut, wenn die Menschen eine neue Grenzlinie ziehen und einer das Pech hat, so zu liegen, daß die neue Grenzlinie ihm mitten durch seinen armen Rücken geht.«

»Doch«, antwortete Heinrich mit traurigem Ernste, »auch ich bin, was man so nennt, ein Jude.«

Der Schneider fuhr zurück wie geblendet. Dann faßte er den Arzt mit wilder Kraft am Arm.

»Sie sind ein Jude?« schrie er mit zitternder Stimme und schien Heinrich mit seinen Augen verschlingen zu wollen. »Dann sind Sie ja selbst mein lebendiges Ideal, dann gibt es Sonnenkinder auf der Erde. Sie sind ein Jude? Man hört es nicht, man sieht es nicht, man fühlt es nicht, und man bezahlt es nicht! Es ist ja unglaublich und doch, Sie sagen's, es muß wahr sein.«

Der Schneider begann heftig zu schluchzen, rief die Erde und die Sonne zu Zeugen des großen Augenblickes an und fiel dem Arzte wieder um den Hals. Heinrich mußte ihm versprechen, ihn bald zu besuchen.

Als er gleich am nächsten Morgen die schmalen Treppen emporstieg, schien ihm das verfallene Häuschen Oswalds das einzige Bleibende in der stürmischen Zeit. Dieselben knarrenden Töne waren auf denselben Holzstufen zu vernehmen, und dieselben matten Lichtstrahlen fielen noch immer auf dieselben schmutzigen Stellen des Flurs. Auch als er eintrat, glaubte er sich in die alte Zeit zurückversetzt. Links stand Doretta hinter ihrem Plättbrett und rechts arbeitete Oswald. Freilich, der kleine Siegfried war größer geworden. Er schob sich, ohne aufstehen zu können, auf den sauberen Dielen bald vom Vater zur Mutter und bald wieder zurück. Und in dem Jahre, in welchem das blasse Kind sich bis zu dieser Kraftäußerung entwickelt hatte, waren die Eltern andere geworden. Mit sorgenvoller Miene nähte Oswald an seiner Arbeit, die Körperhaltung war gebückt, in das wallende rote Haar mischten sich graue Streifen. Auch Dorettas milde Augen leuchteten nicht mehr mit dem ehemaligen Glanze. Manches Fältchen begann sich in das runde Gesicht einzugraben, und in den Bewegungen merkte man etwas von Müdigkeit.

Bei Heinrichs Eintreten nickte der Schneider nur traurig mit dem Kopfe, während Doretta mit einem lauten Aufschrei das Eisen fortsetzte und um das Brett herum auf den Arzt zulief. Oswald, ihr böser Oswald hatte ihr gar nicht gesagt, daß er den Herrn Doktor so früh erwartete, und nun wußte sie vor Freude und Überraschung nicht, was sie zuerst erzählen sollte.

Nachdem sie die ersten Fragen und Antworten ausgetauscht hatten und Heinrichs Meinung über Siegfrieds Aussehen und Kräfte eingeholt war, blickte Doretta ihrem Gast ernst in sein düsteres Gesicht. Sie strich mit ihrer Hand über die seine und fragte zögernd, ob er Fräulein von Auenheim schon besucht hätte. Heinrich wandte sich ab.

Da nickte Doretta eifrig und wischte sich mit dem Ärmel eines noch nicht geplätteten Hemdes die Augen. Dann begann sie zu erzählen.

Nach Heinrichs Abreise war Clemence anfangs oft und, wie es schien, mit verdoppelter Herzlichkeit zur Frau Schneidermeisterin gekommen. Man plauderte über Siegfried und Heinrich. Wenn es Doretta einfiel, daß sie für die Besucherin gar zu viel von ihrem Kinde erzählt hatte, so fing sie von Heinrich an; und dem Fräulein ging es wohl umgekehrt.

Dann kam sie seltener, blieb immer nur kurze Zeit da, war zwar nicht weniger herzlich, wurde aber immer verlegen, wenn Doretta von Heinrich zu sprechen anfing. Um dieselbe Zeit wurde Oswald wegen der schrecklichen Dinge, von denen Doretta nichts wußte, immer mürrischer, und da glaubte sie lange, Fräulein Clemence bleibe deshalb fort. Einmal aber – es war das letzte Mal – vor mehr als einem halben Jahre, kam sie in Gesellschaft ihres Vetters, eines unverschämten, wenn auch sehr hübschen Herrn. Der schaute sich in der Doppelwerkstatt naserümpfend um, blickte höhnisch auf den ängstlichen Siegfried herab, lächelte abscheulich über jedes Wort Oswalds, ging endlich und führte das bleiche Fräulein wie ein Opferlamm mit sich fort.

Am nächsten Tage kam der Herr von der Egge allein wieder. Er wollte wissen, wie oft seine Cousine hier mit dem Doktor zusammengekommen wäre und ob sie vielleicht jetzt noch durch Vermittlung der Schneidersleute in Verbindung ständen. Als Doretta in ihrer Bestürzung schwieg, bot der Herr gar Geld für den Verrat, indem er dem kleinen Siegfried ein Zwanzigmarkstück hinwarf und sagte, er solle es in seine Sparbüchse tun. Da sprang Oswald aber in hellem Zorn auf, riß dem Kleinen, der schon danach gegriffen hatte, das Goldstück aus der Hand und warf es zum Fenster hinaus auf die Straße, daß es klirrte. Herr von der Egge besann sich nicht lange, ging davon und vergaß nicht, das Goldstück wieder aufzuheben und einzustecken.

»Verliebt gemacht hat er die Clemence nicht, das können Sie mir glauben«, rief Doretta. »Aber irgendwas ist geschehn, was mir mein gutes Fräulein verwandelt hat. Ach, wenn sie doch nur noch einmal hierher käme, nur einmal, es könnte alles wieder gut werden. Bitte, sagen Sie ihr's doch! Das wäre gar nicht schön, können Sie ihr sagen, sich um uns nicht mehr zu bekümmern.«

Heinrich war von dem Gehörten so bewegt, daß es ihn nicht länger in der niederen Stube litt. Mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen und mit Oswald über seine Angelegenheit zu sprechen, wollte er forteilen. Der Schneider erbat sich jedoch Heinrichs Adresse, er habe Männersachen mit ihm zu besprechen. Doretta fuhr zusammen und blickte ihren Mann wieder, wie schon einigemal vorher, scheu von der Seite an; als Heinrich aber seine Wohnung nannte, horchte sie auf und kehrte zu ihrer Arbeit zurück.

Heinrich eilte auf die Straße zu kommen, um dort ungestört die Gedanken, die ihn bedrängten, ausdenken zu können.

Was Doretta ihm erzählt hatte, gab ihm wieder Hoffnung. Er hatte es geahnt an dem unglückseligen Abende, als ihm Kurt mit dem nervösen höhnischen Lächeln gegenüber saß. Er hatte den Glauben immer festhalten wollen, daß Clemence nicht treulos war, daß eine unerklärliche, unheimliche Gewalt ihres Vetters Kurt sie band. Und daß diese Macht nicht Liebe sei, wie Heinrich im ersten Augenblick mit schwindelndem Kopfe gefürchtet, das hatte sich in des Mädchens Blässe und Trauer nur zu deutlich ausgesprochen. Und nun hatte auch die scharfsichtige Doretta die Beobachtung gemacht, daß Clemence nur widerwillig dem Vetter gehorchte.

War es nicht sein gutes Recht und überdies seine Pflicht, wenn er um das teure Mädchen kämpfte gegen ehrlose und gegen versteckte Feinde, gegen sie selbst, wenn es nötig war? Mußte Heinrich nicht zurückkehren und eine Unterredung erzwingen, die ihm wenigstens Klarheit verschaffte?

Aber konnte die unerklärliche Ablehnung jeder Annäherung irgendeinen anderen Grund haben, als jenes entsetzliche Fieber, welches sich Deutschlands bemächtigt hatte? War denn nicht auch Victor treulos geworden? Und ließ sich gegen einen solchen Feind mit Vernunft kämpfen?

Unter Fassen und Verwerfen von Plänen verbrachte Heinrich den Tag. Ein Entschluß verjagte den andern, und als er abends müde in seinem Hotel anlangte, war er mutloser und niedergeschlagener als früher. Er hatte zufällig im Vorübergehen gehört, wie ein Straßenjunge einem Knaben, der in Begleitung seiner Eltern ging, »Jud« nachrief. Die Mutter hatte den Ruf überhört, der Vater sein Kind bei der Hand ergriffen und zu rascherem Gehen genötigt; dem kleinen Judenknaben aber waren die Tränen in die Augen getreten.

Und so wie diesem Knaben hatte man auch ihm bei der Rückkehr nach Deutschland »Jud« entgegengeschrien, und wenn das Wort auch keine Beschimpfung war, so war es doch als eine Beschimpfung gemeint. Und er war so hilflos wie der arme Judenknabe auf der Straße.

Im Hotel meldete man ihm, ein Herr sei dagewesen und habe nach ihm gefragt, der Fremde wollte um acht Uhr abends wiederkommen, Herr Doktor möchte ihn erwarten.

Mit freudiger Erregung las Heinrich die Karte: Victor war dagewesen.

Bevor noch Heinrich mit seinen widersprechenden Gedanken in Ordnung gekommen war, klopfte es schon rasch an der Tür, und Victor, unverändert in seinem herzlichen Lachen, trat ein.

Heinrich schämte sich eine Minute später, daß er dem Freunde jubelnd entgegenflog, die beiden entgegengestreckten Hände ergriff und so innig wie einst drückte. Hatte denn dieser einzige Freund, den er besaß, ihn nicht schmählich verlassen und hatte er sein Schweigen auch nur mit einem Worte erklärt?

Und Heinrich gab sich Mühe, eine ruhige Zurückhaltung zu bewahren, um nicht durch Erinnerung an die alte Freundschaft die Forderung einer Fortdauer zu stellen. Victor bemerkte das aber durchaus nicht; er plauderte bald so unbefangen, als hätten sich die beiden erst gestern getrennt und entschuldigte sich wegen der neulichen Flucht nur obenhin damit, daß er in Geldverlegenheiten und darum verstimmt gewesen sei. Das bittere Lächeln Heinrichs beachtete er wieder nicht und begann lebhaft den Zweck seines Besuches anzudeuten. Er habe auf seinem Gute wichtige Veränderungen vorgenommen, plane noch eine große industrielle Unternehmung und wolle über alles noch Heinrichs Urteil hören. Er habe zu dessen praktischem Sinne großes Vertrauen.

In der gereizten Stimmung, deren Heinrich seit seiner Rückkehr nicht mehr Meister werden konnte, war ihm diese Wendung des Gesprächs die allerempfindlichste. Daß Victor sich der wahnsinnigen Bewegung anschloß und mit Hunderten seiner Standesgenossen gegen den Freund Partei ergriff, das war schlimm genug, aber vielleicht noch immer verzeihlich. Daß dieser Duzbruder jedoch es über sich gewann, sich der ehemaligen Freundschaft um geschäftlicher Vorteile willen zu erinnern – daß er in dem jüdischen Freunde nur den befreundeten Juden sah, den man ungescheut in Geldgeschäften benutzen konnte, das war unerträglich.

Während Victor unbefangen an den Tisch trat, um sich dort seine Zigarette anzuzünden, sammelte sich Heinrich zu einer ablehnenden Antwort.

»Ich habe kein Talent zu Geschäften«, sagte er bitter. »Wenn Du Rechnungen prüfen zu lassen hast, so wende Dich an einen anderen Juden. Vielleicht wird es mir gelingen, einen halbwegs Vertrauenserweckenden aufzutreiben.«

Victor starrte dem Freund überrascht ins Gesicht. »Ist das Afrikanisch, was Du da sprichst?« rief er. »Was für einen seltsamen Ton hast Du von der Reise mitgebracht!«

»O, nicht mitgebracht«, schrie Heinrich gequält auf. »Aber rasch gelernt habe ich ihn hier, in der Heimat, wo ein Jahr hingereicht hat, die heiligsten Bande zu zerreißen. Bitterkeit, tödliche Bitterkeit habe ich in wenigen Tagen fühlen und sprechen gelernt!«

»Um Gotteswillen, Heinrich, was ist Dir? Ach so, richtig, Du bist ja ein Jude! Das hatte ich ganz vergessen.«

Victor mußte der plötzlichen Freude, welche Heinrichs Züge verklärte, wohl ansehen, daß der Arzt ihm schlimmere Gedanken zugetraut hatte.

»Aber Heinrich, Heinrich«, rief er. »Altes Haus! Was hat Dich denn so verwandelt, was hat Dich denn so menschenfeindlich, so mißtrauisch gemacht? Wie kannst Du das Geschwätz von ein paar Bierhausrednern und ehrgeizigen Demagogen so ernst nehmen?«

»Ja, wenn's nur diese wären!« rief Heinrich und gab dem Freunde in gedrängten Worten einen Bericht über seine Erlebnisse. Nur von Clemence vermied er zu sprechen.

»So fand ich Berlin wieder«, schloß er. »Kein Mensch kann sich mehr weigern, zu der roh aufgeworfenen Frage Stellung zu nehmen. Und ich fürchte, ich fürchte, auch der Wackerste ist nicht mehr unberührt geblieben. Es ist so angenehm, für alle Leiden der Welt einen Sündenbock zu haben. Und ich frage Dich Victor, einen gebildeten Mann, bist auch Du noch so unbefangen wie früher?«

»Muß ich antworten?« fragte Victor schmollend. Als er jedoch in Heinrichs ernstes Antlitz sah, zündete er sich eine frische Zigarette an und sagte:

»Ich hatte bisher gar keine Meinung. Ich dachte über die Judensache ebensowenig nach als über die Frage, wie man die Stuben im Sommer heizen soll. Wenn Du mich aber so aufs Gewissen und mit Berufung auf meine akademische Laufbahn zu einer formellen Erklärung zwingst, so will ich Dir dieselbe nicht vorenthalten. Also höre, ich will mit einem Vergleich antworten, der nicht mehr hinken soll als andere. Die Judenangelegenheit ist keine Frage, sondern eine Tatsache. Es ist eben Tatsache, daß seit undenklichen Zeiten mitten unter uns Deutschen auch einzelne Franzosen, Wenden und Juden wohnen, nur daß die Juden nicht auf einem Fleck beisammen sind, sondern überall verteilt, überall in einigen Exemplaren dieselben menschlich guten und bösen Eigenschaften aufweisen. Daß viele Wucherer Juden sind, das ist für mich gar keine Frage, sondern ein Faktum, welches man entweder historisch erklären, begreifen und vergeben oder volkswirtschaftlich mit denselben Waffen wie den christlichen Wucher bekämpfen muß. Was das mit dem einzelnen zu tun haben soll, der zufällig auch jüdischer Abstammung ist, im übrigen aber nicht besser und nicht schlechter fühlt, als elf andere Deutsche, die mit ihm ein Dutzend ausmachen, das versteh ich eben nicht. Die Juden – jetzt paß mal auf, jetzt kommt mein Vergleich – erscheinen mir unter den Deutschen wie die Fremdworte in der deutschen Sprache. Es gibt einzelne darunter, die gar keine Existenzberechtigung haben – andere, die sich noch ein wenig anpassen müssen – viele aber, die so vollständig mit dem Stamm der Sprache verwachsen sind, daß sie ohne Schaden gar nicht entfernt werden könnten. Es wäre nicht einmal besser für Volk und Sprache, wenn sie ohne jede Berührung mit den Fremden geblieben wären. Unsere Sprache und unser Leben wäre nicht so reich, so groß geworden, wenn nicht von allen Seiten befruchtende Elemente herangekommen wären. Und die ehrlichsten unter den neuen Kreuzfahrern, bei denen wirklich von einem zwar pöbelhaften, aber uneigennützigen Judenhaß die Rede sein kann, sind nur komisch wie die fanatischen Puristen, welche das undeutsche Wort »Billard« gegen das urgermanische »Grüntuchviereckkegelkugelspiel« umtauschen wollen. Und von den unehrlichen und heuchlerischen Judenfressern, von dem ganzen Gesindel der neuen Streber wollen wir doch miteinander nicht reden.«

»Wenn Du die Judenhetzer mit den Sprachpuristen vergleichst«, sagte Heinrich nachdenklich, »so mußt Du ihren Absichten doch eine gewisse Berechtigung zuerkennen.«

»Nicht die mindeste, Liebster«, rief Victor. »Die Entwicklung des deutschen Volkes wird sich um solche Fanatiker ebensowenig kümmern als die Sprache um verrückte Schulmeister. Die fremden Worte und die fremden Menschen werden in Deutschland nicht ausgestoßen, sondern angepaßt, angepaßt mit Schimpf und Ernst, mit freundlichem Zureden und mit Knuffen. Ist aber so ein fremdes Ding erst deutlich geworden, dann reißt's kein Teufel mehr von uns los. Der deutscheste Postmeister kann selber das Wort »Post« nicht los werden. Und dann! Sieh mal, Heinrich, wenn die Puristen ans Ruder kämen, müßten sie sogar das Wort »Christ« aus der deutschen Sprache als einen griechischen Eindringling herausschmeißen. Und so müßten die allerchristlichsten Judenhetzer konsequent dem Christentum den Krieg erklären, wollten sie nichts jüdisches im deutschen Volksleben dulden, denn das Wesen des Christentums ist ebensowenig germanisch wie das Wort. Und nun bin ich fertig. Gehen wir in die Kneipe und beweise mir dort, daß Du trotz Deiner krummen Leibesbeschaffenheit, von der ich äußerlich so wenig merke, noch mehr als ein Glas vertragen kannst.«

Heinrich versuchte zu lachen, und es gelang ganz gut.

Victors herzliche Freundschaft hatte ihn neu belebt. Er war so jung und so hoffnungsfroh, daß er freudig wieder aufatmete, wenn nur ein Stein von der über ihm ruhenden Last hinweggenommen wurde. Der Freund war wiedergewonnen; so gab er denn auch die Geliebte nicht verloren. Er ging mit Victor in die nächste Weinstube, hörte es nicht, wenn die Tagesfrage an den Nachbartischen erörtert wurde und vertraute ihm endlich sein tiefstes, sein ungelindertes Leid an.

Victor hörte aufmerksam zu. Er befestigte den Freund in dem Entschlusse, eine Unterredung mit Clemence zu suchen und den Kampf gegen die Intrigen Kurts aufzunehmen.

Dann sagte er nach einigem Besinnen: »Laß mir einige Tage Zeit, meine Vorbereitung zu treffen. Mit mir sind ernstere Dinge vorgegangen, als ich Dir erzählen kann und mag. Es muß Dir genügen zu hören, daß ich erst seit einigen Tagen außer Lebensgefahr bin – ja, so schlimm stand's mit mir, während Du mich einen Verräter nanntest! Daß ich endlich daran denken darf, um Evchens Hand zu werben, die durch Brunos Tod frei geworden ist, und daß ich bei dieser Gelegenheit wahrscheinlich in die Karten des Herr Kurt werde gucken dürfen. Du mußt mir aber völlig freie Hand lassen. Von heute in drei Tagen, gegen sieben Uhr läßt Du Dich bei Auenheims anmelden. Ich werde schon früher da sein und Dir und Clemence ein Gespräch unter vier Augen vorbereiten.«

Auf alle Fragen Heinrichs blieb Victor stumm. Doch schien es dem Freunde, als ob Victor Evchens doch schon sicher sein mußte, so verwegen sprach er von dem Besuche bei den alten Freiherrn, dem noch das letzte Glas der Freunde galt.

Heinrich war spät zu Bett gekommen. Kaum hatte er am andern Morgen eine Tasse Tee zu sich genommen, als der Zimmerkellner einen Besuch meldete. Eine einfache Frau, die ein Kind auf dem Arme trage, wünsche ihn zu sprechen.

Es war Oswalds Gattin, die nach ihm fragte.

Sie trat verschämt ein, als der Arzt ihr aber herzlich die Hand reichte, auch den verdutzten Siegfried durch Schmeichelworte und ein Butterbrötchen vertraulicher machte, atmete sie auf und sagte: »Ich hab' es ja gewußt, zu Ihnen darf man ohne Scheu mit Kind und Kegel kommen. Ja, wen die Clemence lieb hat, der muß brav sein.«

Siegfried saß schon nachdenklich und träumerisch auf dem Teppich und spielte mit einem Fetisch und einer ausgestopften Schlange. Doretta nahm neben Heinrich auf dem Sofa Platz; doch wollte sie lange nicht mit der Sprache heraus. Endlich erzählte sie ausführlich, daß es mit dem ehelichen Frieden und dem behaglichen Auskommen vorbei sei. Freilich sei auch sie mitschuldig daran, denn sie habe ihrem Manne etwas Wichtiges verschwiegen. Aber auch ihr Oswald sei nicht schuldlos, und die Zeitverhältnisse trügen das ihre bei.

»Wie soll das Glück einen Bestand haben, wenn es schlechte Menschen gibt, welche zwischen ein Ehepaar treten und Christen und Juden auseinanderreißen wollen, den süßen Siegfried am Ende in der Mitte entzweischneiden möchten, weil Oswald und ich gleiche Rechte an ihn haben. Mit Oswald habe ich nie darüber gesprochen, denn ich weiß, es würde ihn aufregen, und bei seinem schwachen Magen kann er nichts vertragen. Darum stelle ich mich auch immer so, als wüßte ich nichts von der ganzen Judenhetze. Aber ich seh's dem Oswald immer am Gesicht an, wenn die Kerle wieder mal eine Bosheit ausgeheckt haben. Und nun sind alle die schönen Pläne Oswalds zu Wasser geworden. Er grämt sich ins Grab und kann's doch nicht ändern.«

Heinrich fragte teilnahmsvoll, warum sie unter solchen Umständen noch immer einen der Hauptführer, den unheimlichen Stropp, unter ihrem Dache behielten. Doretta errötete bis unter die Haarwurzeln und blickte zu Boden. Dann aber legte sie die Hand entschlossen auf den Tisch und rief:

»Deswegen eben komme ich zu Ihnen, Herr Doktor. Wie dieser Stropp meinen Oswald herumgekriegt hat, das wissen Sie. Alles hätte mein Oswald für ihn hingegeben, Gut und Blut, und viel, viel hat er schon – na, ich soll nicht darüber reden. Und was ich bei den teuern Zeiten dem Schelm alles aufgetischt habe, davon weiß Oswald nicht einmal was. Er kümmert sich nicht um Geldsachen und wird eines Tages nicht verstehen, wo's hinausgeflogen ist. Und wissen Sie, wie's der schlechte Mensch gelohnt hat?«

Und nun erzählte sie alles. Den häßlichen Angriff Stropps und die Drohungen, mit denen er ihr Schweigen bis heute erzwungen hatte, ferner einige spätere, leichter abgewehrte Versuche Stropps, ihre Treue zu erschüttern.

»So«, fuhr sie fort, »nun ist's heraus. Sie müssen mir aber Ihre Hand darauf geben, daß Sie kein Sterbenswörtchen erzählen, Herr Doktor. Und dann müssen Sie mir raten. Der Stropp selbst geht ja herum wie das leibhaftige schlechte Gewissen. Dabei sieht er immer aus wie ein armer Sünder unterm Galgen, der seine Todesangst zu verbergen eine Rede an die Leute hält. Ich glaube, er ist verrückt. Er bleibt bei uns wohnen, weil er mich nicht vierundzwanzig Stunden allein zu lassen wagt. O, ich seh' dem schlechten Menschen bis in die Seele hinein! Er weiß ganz gut, daß ich meinem Oswald alles erzählen würde, wenn er nur einmal ein paar Stunden von mir lassen wollte. Darum sitzt er seine ganze freie Zeit zu Hause, darum lauert er so auf jede Bewegung Oswalds und zittert, sooft mein Mann wegen der Judengeschichte mit ihm brummt. Gott, Gott, wenn das nur kein böses Ende nimmt!«

Heinrich schüttelte den Kopf zu dem Gehörten und forderte Doretta auf, den gefährlichen Menschen doch ja aus dem Hause zu entfernen. Sie sollte doch seine Drohungen nur nicht so ernst nehmen.

Das beste sei immer, zwischen Mann und Frau kein Geheimnis walten zu lassen. Auch über die Judenhetze solle sie bei günstiger Gelegenheit ihre Gedanken dem Gatten mitteilen. Sie sollte ihrem Oswald nur sagen, wie wenig sie sich um die Lügen der Leute bekümmere, wie lieb sie ihn habe. Das würde dem Schneider wohl tun.

Inzwischen hatte Siegfried der Schlange den Schwanz abgebrochen, den Fetisch hinter den Ofen geworfen und begann aus Langeweile zu weinen. Doretta nahm ihn wieder auf den Arm, dankte dem Arzte und eilte fort.

Heinrich freute sich noch über das frische Wesen der einfachen Frau und über ihr Zutrauen, als es leise an die Türe klopfte und auf sein »Herein!« kein anderer als Oswald Fränkel heimlich wie ein Dieb durch die Türspalte hereinschlüpfte und schwer atmend hinter sich zuschloß.

Der Schneider setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den entferntesten Stuhl und drückte seinen Kopf stöhnend in die Hände, daß sein rotes Haar vorne herabfiel und beinahe die dicken Tränen verbarg, die ihm zwischen den Fingern hindurchrollten.

Heinrich ließ ihn ruhig gewähren. Endlich hob Oswald Fränkel sein tränenüberströmtes Gesicht und rief mit furchtbar tragischer Betonung: »Ich passe nicht für mein Jahrhundert, ich passe nicht für die Welt! O, es ist deplorabel, wenn man irrtümlich auf der Erde geboren ist, eigentlich aber seiner Gehirnkonstrukkatur nach auf die erkältete Sonne gehört. Sie, Doktor, und Ihr herrliches Mädchen gehören auch auf die Sonne. Vielleicht sogar früher als ich, vor der Erkaltung, für mich müßte sie noch länger sich abkühlen.«

Heinrich redete ihm freundlich zu, mitzuteilen, was ihn quälte.

»Muß ich's Ihnen erst sagen, Doktor? Mir ist der Boden unter meinem Sitz entzogen, die alte Erde schwankt, als wolle sie schon morgen in die Sonne fallen. Doktor, Doktor, die Judenhetze bricht mir das Herz. Die Angst allein, daß meine teure Doretta von der Sache erfahren und mich eines Tages im Zorn einen Juden nennen könnte, läßt mich bei Nacht nicht schlafen, bei Tage nicht denken. Denn auch das Lämmchen hat Stunden, in welchen es wie ein Löwe seine Jungen verteidigt. Ich entziehe ihr die notwendigsten Zeitungen, ich spreche selbst nicht mehr mit ihr, um mich nicht zu verraten. Was soll aber erst werden, wenn mein Siegfried, der Prachtbursche, alt genug ist und in die Schule zu den betörten Lehrern geht? Wenn er einmal aus der Schule nach Hause kommt und auf die Juden schimpft, häng' ich mich auf!«

Und Oswald Fränkel sprang von seinem Stuhl in die Höh' und ging aufgeregt auf und ab.

»Lassen Sie der Entwicklung ihren Lauf, lieber Herr Fränkel«, sagte Heinrich. »Die Welle, welche die abendlichen Völker gegen die sogenannten Irrgläubigen, die Helden, die Ketzer, die Juden oder wie sie alle heißen, seit Jahrhunderten zu werfen pflegte, wird schwächer und schwächer. Die Juden wurden erst gemordet und ausgeplündert, später entweder verbrannt oder beraubt, geprügelt und ausgepreßt, und jetzt im allgemeinen nur noch für vogelfrei erklärt, öffentlich nur noch beschimpft – bedroht aber und geplündert nur noch ganz privatim und ausnahmsweise. Noch ein paar Jahrhunderte und die Welle hat ihre Kraft verloren. Übrigens haben Sie sich ja von jeher gegen die Ausnahmestellung ereifert, welche die Juden mitten in der europäischen Welt behaupten wollen. Da müssen Sie ja die Hetzereien fast als ein Glück ansehen. Auch diese Hetzlehrer sind wie der Teufel, der stets das Böse will und stets das Gute schafft.«

Der Schneider stellte sich vor Heinrich auf und faßte ihn heftig an der Schulter.

»Das sagen Sie, Doktor? Und wie sagen Sie's? Mit trauriger verstellter Stimme, wie Sie am Krankenbette ein weinendes Kind trösten. Und wissen Sie auch, warum Sie mich wie ein weinendes Kind geringschätzen und lügen? Ja, lügen! Weil Ihnen gerade so zumute ist wie mir. Ja, Doktor, ich seh's Ihnen an. Sie haben nur nicht den philochologischen Blick wie ich, sonst müßten Sie Ihren Zustand schon verstehen. Wir nennen uns beide keine Juden, wenn die Krämer und Wechsler rufen: »Herbei, herbei, Ihr Juden! Wer ein Jude ist, bekommt von uns ein Goldstück! Und wer ein Christ ist, der soll es büßen!« – Wenn aber die Mörder und Henkersknechte kommen und rufen: »Fort, Ihr Christen! Die Juden allein sollen auf dem Platze bleiben, damit ein jeder von ihnen seinen Stein an den Schädel bekomme!«, dann entdecken wir alle, daß wir Juden sind. Wir treten in Reih und Glied mit Münzfälschern und Wucherern und wir rufen: Auch mir meinen Stein, denn auch ich bin ein Jude!«

Und Oswald richtete sich hoch empor und riß sich in theatralischer Bewegung die Kleider über der Brust auseinander.

Der Schneider konnte nicht ahnen, wie tief seine Worte den Hörer bewegten. So närrisch das alles auch klang – es war doch im Grunde dasselbe, was Heinrich seiner Braut sagen mußte.

Und der Schneider fuhr fort:

»Schon war alles vorbereitet! Ich war bereit, mit dem Wort Gottes auf den Lippen an die ungläubige Gemeinde zu treten, allen Schimpf und Spott zu ertragen und Israel durch die Kraft der Wahrheit hinüberzuführen zur Erlösung. O, wir alle, alle, wären bessere Christen geworden als die Alten; denn wir haben seit Jahrhunderten in Wahrheit, Wirklichkeit und als Faktotum das Kreuz auf uns getragen; wir kennen das Leiden und Mitleiden besser als die anderen. Leiden und Mitleiden! Wer das gekostet hat, ist ein Christ aus vollem Herzen! Heute jedoch – wer von uns wird den falschen Schein auf sich nehmen wollen und im Augenblicke der Verfolgung die Taufe empfangen? Nicht Du und nicht ich, nicht wahr? Auch Du, Geliebter, wirst kein so gemeiner Kerl sein wollen, daß Du am Tage der Schlacht Dein Regiment verläßt, weil Du vor dem Kriege zum Feinde reisen wolltest. Nein, Geliebter, ich will Dir ein Mysterium sagen. Es sind wohl Feinde des Judentums, welche die Verfolgungen anstiften. Aber ihr Werk ist höllisch; es sind teuflische Feinde, denn sie wollen das Judentum nicht vernichten – was ganz gut getan wäre –, sie wollen es verewigen – was jammerbar ist. Ja, mein Geliebter, längst schon hätten die Juden ihre alten Götter verlassen, wenn sie nicht immer wieder durch neue Verfolgungen und Injuramente zu einem einheitlichen Stamme geknetet worden wären. Ich aber lebe immer noch der einen Hoffnung, daß die Juden also durch solche Torturen und Martern im Laufe der Säkularien zu besseren Christen werden herangebildet werden, als die sind, die sie tortern und martern. Hätte ich diese letzte Hoffnung nicht, wahrlich, ich gäbe die Welt selber preis und würde mit meiner Doretta wieder ein Destillateur.«

Noch lange blieb der Schneider unter solchen Reden bei Heinrich. Dieser wußte nicht, ob er die Form, in welcher Oswald seine Philosophie vorbrachte, belächeln durfte.

Er redete ihm beim Abschied recht zu, seine Sorgen der treuen Doretta nicht vorzuenthalten, lieber für die Dauer seines Lebens auf die Erlösung Israels zu verzichten und dafür Siegfried zu seinem würdigen Nachfolger in der Humanität heranzubilden. Der Schneider versprach, den Rat in Erwägung zu ziehen, und ging wieder beruhigter an sein Tagewerk.


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