Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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IX.

Das also war Herr Doktor Stropp. Heinrich konnte sich nur dunkel erinnern, ihn bei Tina gesehen, vielleicht auch ein paar Augenblicke gesprochen zu haben. Der schlimme Eindruck, den das heuchlerische, zudringliche Gesicht auf ihn gemacht, war jetzt wieder so widerwärtig wie damals, es lauerte eine solche Spitzbubenfrechheit in den neugierigen Augen, daß Heinrich nur mit Mühe seinen Abscheu überwinden und ein höfliche Antwort geben konnte. Und während er ruhig erklärte, er sei als Arzt zum Schneider Fränkel gerufen worden, fielen ihm die Worte wieder ein, mit denen vorhin Samuel Schöpps auf Stropps Leidenschaft für Frau Doretta angespielt hatte.

Heinrich wollte rasch das Gespräch abbrechen, als Stropp sich herzlich anbot, den lieben Doktor ein wenig zu begleiten. Dieser mußte annehmen und tröstete sich bald über die aufgezwungene Gesellschaft. Wenn Samuel recht hatte, dann war Stropp der Ruhe von Menschen gefährlich, an deren Schicksalen Clemence Anteil nahm. Ein solcher Mann war es schon wert, daß Heinrich mit einiger Selbstüberwindung seine nähere Bekanntschaft machte.

Und bald sollte es sich herausstellen, daß Doktor Stropp auch zu anderen Menschen aus Heinrichs Gesichtskreis in Beziehungen stand. Er begann sofort von seinem Freunde Kurt von der Egge zu erzählen, mit welchem er häufig die Abende zubrachte.

Heinrich kannte nur zu gut das Elend in diesem Hause; dennoch tat es ihm weh, über die Verhältnisse jetzt in brutalen Ausdrücken, wie über einen gleichgültigen Stadtklatsch sprechen zu hören. Und dieser Mensch durfte so reden, ein Mann, der zum näheren Umgang Kurts gehörte. Es war da kein Wunder, daß Stropp um Dinge wußte, die alle Welt kannte. Daß er aber von dem Schrecklichen mit kaltem Hohne sprach, war unerträglich.

Und Stropp hatte scharf Augen. Einzelne Umstände, welche Heinrich nur unsicher vermutet hatte, trotzdem er manchen Blick in Emmas Elend tun durfte, sprach Stropp keck als Tatsachen aus.

Immer fremder waren die Ehegatten einander geworden, das wußte der Arzt der unglücklichen jungen Frau. Kurt führte das Leben eines reichen Junggesellen oder etwa eines nichtswürdigen Gesellen, der sich schon als Witwer fühlt, während die Frau noch mit dem Tode ringt. Und wenn er einmal aus Bosheit oder Neugier nach Emma gefragt wurde, dann antwortete er immer nur: »Die arme kranke Person!« und zuckte dazu mitleidig mit den Achseln, als wollte er andeuten, daß sie's nicht mehr lange werde treiben können.

In Wahrheit fiel es ihm gar nicht ein, die Gesundheit seiner Frau für gefährdet anzusehen oder gar eine solche Gefahr leicht zu nehmen. Der alte Isaak, der jetzt so viel Geld hergab, als man nur immer wollte, wäre nach dem Tode seiner Tochter wohl kein allzu zärtlicher Schwiegervater geworden. Emma mußte deshalb leben. Und Kurt mochte sich die Sache auch ganz bequem ausdenken. Emma sollte irgendwo im Süden an einem recht heilsamen Orte leben, so lange wie möglich leben, und Kurt indessen in Berlin ihre volle Genesung abwarten. Daß Emma leidend war, mußte den Alten nur veranlassen, verschwenderisch alles zu ihrer Heilung aufzubieten. Emma aber würde schon hübsch sparsam sein und Kurt, ihrem Kavalier, zukommen lassen, was er brauchte; verstand sich das gute Frauchen doch jetzt schon dazu, einfache Kleider zu tragen und dem Gatten ihr reiches Nadelgeld zu überlassen.

Heinrich sollte sie nach dem Süden schicken, und in der besten Absicht hatte er als Arzt den Befehl dazu erteilt, als Freund eindringlich dazu geraten. Emma aber war nicht zu bewegen. Stropp sagte es jetzt roh heraus, daß Emma es nicht wagte, ihren Mann zu verlassen, es nicht wagte, weil sie eifersüchtig war, weil sie ohne seinen täglichen Anblick, ohne seine täglichen Beleidigungen nicht leben zu können vermeinte.

Emma war eifersüchtig. Nicht auf diese oder jene Frau, von der sie wußte, daß Kurt ihr huldigte, nicht einmal auf die Zirkusreiterin, der zuliebe Kurt neuerdings beim Juwelier Schulden gemacht hatte. Nein, solche öffentlichen Erklärungen zugunsten einer Dame, deren klangvoller Name täglich auf den Anschlagsäulen prangte, gehörte ja wohl zu den Pflichten und Gewohnheiten seines Standes. Und daß er in den Gesellschaften, die er fast nur noch ohne seine Frau besuchte, noch immer jedes Weib mit einigen Worten für sich einnehmen konnte, das war ja trotz alledem und alledem noch ihr Stolz und ihre Genugtuung. Kurt mußte ein Kavalier bleiben, wenn sie nicht an sich verzweifeln sollte!

Sie war also nicht eifersüchtig auf eine bestimmte Nebenbuhlerin. Sie fürchtete nur ins Ungewisse hinein die Stunde, in der er einem Weibe begegnen mußte, das für ihn alles das war, was Emma ihm nicht hatte werden können. Sie zitterte vor einer Gefahr, die ihr nicht drohte.

Stropp lachte bubenhaft, als er von ihrem Glauben an Kurt sprach. Kurt und sentimentale Sehnsucht nach einem Weibe! Und dabei übersah die gute Emma, was zwischen ihrem Kurt und Tina vorging.

Was Heinrich nicht glauben wollte, wenn er's auch deutlich vor sich sah, was der alte Isaak mit zitternden Lippen verfluchte und doch nicht beweisen konnte, das wußte Doktor Stropp und hätte es vor Gericht beschwören können.

Stropp erzählte mit faunischem Behagen von der täglich wachsenden Keckheit Kurts und seiner Geliebten. In Tinas Boudoir und in Kurts Wohnung seien ihre Zusammenkünfte. Bei Tina sei Kurt oft während der Börsenzeit anzutreffen; in seinem eigenen Hause aber wage Kurt es sogar, seine Geliebte zu empfangen, und Tina komme oft zu Kurt, ohne Emma auch nur guten Tag zu sagen. Es sei ein Skandal vor der Dienerschaft. Emma werde von der wilden Wirtschaft immer mehr aus allen Räumen herausgedrängt, und wenn Tina eines Tages als Frau ins Haus ziehen sollte, so werde sie nicht viel Mühe mit der Übersiedlung haben. Überall finde man ihre Handschuhe, ihre Bücher, ihre Fächer.

Stropp bemerkte wohl, daß seine Eröffnungen und sein spöttischer Ton den Arzt peinlich berührten. Er versuchte plötzlich eine würdigere Lebensanschauung zur Schau zu tragen. Er sprach von Sünde und von göttlichem Gericht und von der Vergeltung, die nicht lange ausbleiben werde. Vielleicht sei der alte Isaak das künftige Werkzeug in der Hand der Vorsehung. Schon fiel Stropp aber wieder in seine boshafte Weise zurück. Der verdammte alte Jude sei doch an dem ganzen Unsinn schuld. Warum mußte er seine Tochter, die für jeden Kleiderhändler vom Mühlendamm gut genug war, an den wilden Freiherrn verkoppeln? Das käme von der nimmermüden Hast dieses Wuchererpacks, das mit seinem Gelde alles kaufen zu können glaubte, Häuser, Ehrenstellen, Namen, Titel und Ehegatten. Freilich, dem alten Isaak werde jetzt ein wenig arg mitgespielt. Kurt mache Isaaks Tochter unglücklich, indem er Isaaks Sohn entehre. Aber lustig sei die ganze Sache doch für den Zuschauer. Und wenn's einmal zu einer Katastrophe käme, so könnte man sich vom alten Isaak überraschender Handlungen versehen. Bei dem sammle sich gegen den Schwiegersohn und gegen alle Egges ein Haß an, wie man ihn einmal auf dem Theater brauchen könnte. Der Alte scheine über einer entsetzlichen Rache zu brüten.

Heinrich wurde aufmerksam, aber er bezwang sich und stellte keine Frage. Er konnte sich aber doch nicht enthalten zuzuhören, als Stropp fortfuhr:

»Der alte Isaak, das ist ein ganzer Mann. Von dem sollten wir Deutschen Konsequenz im Hassen lernen. Kaum hat ihm jemand, wahrscheinlich sein Herr Schwiegersohn selbst, mitgeteilt, daß die schöne Clemence heiraten wird, so hat er den Bräutigam auch schon in seiner Schlinge. Wie gesagt, auf den bloßen Verdacht hin. Sie kennen ihn ja, den Leutnant von Laskow. Er hat's dem alten Isaak freilich leicht gemacht, und wenn der lustige Leutnant erst als Bräutigam im Hause derer von Egge aufgenommen sein wird, gibt's ein Ungewitter. Und den Donnerkeil hält Papa Isaak in seinen knochigen Händen. Aber das muß man sagen: das Schuldenmachen versteht der Leutnant...«

Heinrich wollte nichts weiter hören.

Wenn Victor selbst ihn nicht ins Vertrauen zog, so durfte er sich nicht vom ersten besten auf der Straße Aufgelesenen die Geheimnisse verraten lassen. Er wollte sich darum kurz verabschieden, schützte vor, Eile zu haben, und rief eine Droschke.

Stropp aber ließ sich nicht so leicht abschütteln. Er bat um die Erlaubnis, mitfahren zu dürfen. Er habe das Bedürfnis, mit dem Doktor Wolff noch über wichtigere Dinge zu reden. Und schon saß er neben Heinrich im Wagen, der in langsamem Trabe über das Pflaster hinrollte.

Wieder machte Stropp den Versuch, einen üblen Eindruck zu verwischen. Er warf sich plötzlich in leidenschaftlicher Bewegung in die Wagenecke zurück, lüpfte, wie vor Erregung, den Hut und rief mit zitternder Stimme.

»Es ist so schmerzlich, verkannt zu werden! Von Ihnen besonders möchte ich nicht verkannt sein, von Ihnen nicht! Sie haben ein Etwas in Ihren Zügen, das mich mitteilsamer macht, als ich es anderen Leuten gegenüber bin. O, auch ich liebe die vornehme Zurückhaltung, aber manches Mal packt mich übermächtig der Geist, der mich zu großen Taten treiben will und redet aus mir, ohne daß ich meiner Zunge Einhalt gebieten kann. Dann wünsche ich stets, ganz Deutschland stände um mich versammelt und könnte mich hören. Dann würde ich vielleicht siegen und die Gedanken zur Tat werden sehen, die ich tief im Busen hege. Ja, bester Herr Doktor, ich bin Reformator, ich fühle die Kraft in mir, das deutsche Leben von Grund aus umzugestalten. Ich sehe mit den Augen des Geistes in den Gestirnen meinen Namen geschrieben und sehe auf dem Marktplatze Bildsäulen sich erheben, die meinen bisher so unberühmten Namen tragen. Ja, die Buchstaben der Worte »Doktor Adalbert Stropp« sollen dereinst den Setzern und Steinmetzen noch viel Geld einbringen.«

Stropp hatte sich wirklich in Hitze gesprochen. Er war mit seiner oratorischen Stimmung zufrieden und wischte sich mit selbstgefälliger Nachlässigkeit den Schweiß von der Stirn. Dann schielte er kurz zur Seite nach Heinrich, ob dieser auch nach Gebühr erschüttert wäre.

Da der Arzt aber ihn mit ruhigen Augen forschend ansah, fuhr er fort:

»Sie fragen sich gewiß, bester Herr Doktor, worin die neuen Reformen bestehen, die ich begründen will? O, Sie sollen noch einst von mir hören! Was der Heide Arminius nicht vermochte, da er die Legionen des Varus niederwarf, was Luther nicht völlig erreichte, als er den römischen Antichrist bekämpfte – Sie sind doch nicht etwa katholisch? –, was der erhabene Lessing nicht verstand, der doch die Franzosen aus Deutschland hinauswarf, das blieb mir vorbehalten, mir, dem bescheidenen Doktor Adalbert Stropp! Es muß etwas geschehen! Unsere größten Männer, unsere tüchtigsten Politiker sehen ein, daß etwas geschehen muß! Unter uns – einer der hellsten Köpfe hat mir erst gestern gesagt, daß man oben wünsche, daß etwas geschehe! Was aber soll geschehen? Die große Reform muß alle Seiten des menschlichen Daseins in seiner Totalität auf einmal umfassen, sie darf nicht stehenbleiben bei der Individualisierung des Ich, sie muß fortschreiten zu der Ganzheit, der in ihrer Großheit beschränkten Nationalität! Sie verstehen mich doch, Doktor? Mit den Molekülen ist's vorbei, rein vorbei! Die Sozietät muß das Molekül besiegen. Diese Reform muß demnach gleichzeitig religiös, gesellig, national, sittlich, wissenschaftlich und sanitär sein. Diese Reform muß mit dem Kinde an der Mutterbrust anfangen und darf erst mit dem Greise im Sarge aufhören. Unsere Reform muß die Menschheit von sich selber erlösen.«

Heinrich betrachtete den erhitzten Redner, der die letzten Worte pfeifend hervorgestoßen hatte aufmerksamer. Der Schweiß, der ihm auf der Stirn stand, das Zucken der Finger, das Aufreißen der Augen war keine Komödie mehr. Dieser Wahn war ehrlich, war eine Krankheit.

Der Arzt war doppelt froh, als die Droschke vor seinem Hause hielt. Er war des lästigen Gesellschafters müde, und Stropp empfahl sich auch wirklich, kam aber plötzlich auf der Treppe nachgeeilt.

Er habe eben erst bemerkt, daß er seine Börse zu Hause vergessen habe: nun wolle er zu Mittag essen und müsse den lieben Doktor um eine Kleinigkeit anpumpen.

»Unsereiner braucht nicht viel zum Leben, ich esse für eine Mark«, sagte er obenhin. »Doch könnte ich eine solche Lappalie leicht zurückzuzahlen vergessen. Leihen Sie mir darum gefälligst gleich ein Zwanzigmarkstück. Das behalte ich gewiß.«

Heinrich gab trotz seines Ärgers ohne Zögern das Goldstück und wünschte guten Appetit.

Stropp steckte die Münze vornehm in die Westentasche und sagte:

»Ich bin Ihnen nun außer diesem Gelde noch das letzte Wort meiner großen Reform schuldig. Dasselbe lautet: Hinaus mit den Juden aus Germaniens Gauen! Hinaus mit den Semiten, welche in weichen Wagen durch die Straßen fahren, während wir zu Fuße nebenher laufen müssen – die ihre Taschen mit Gold gefüllt haben, während wir im Schweiße unseres Angesichts kaum das trockene Brot verdienen können. Hinaus mit den Juden! Ich hoffe, an Ihnen einen Gleichgesinnten zu besitzen, Adieu!«

Bevor Heinrich noch antworten konnte, war Stropp verschwunden. Der Arzt ging langsam in seine Wohnung hinauf. Er war empört über die freche Narrheit des zudringlichen Menschen und überlegte, ob er es mit einem bösartigen Schelm oder nur mit einem Wahnsinnigen zu tun gehabt. Bald jedoch fielen ihm Stropps Andeutungen über Victors Verhältnisse wieder ein, und die Sorge um den Freund verdrängte bald jede Erinnerung an die Schimpfworte des Fremden.

Doktor Stropp bummelte indessen mit dem so mühselig erbeuteten Goldstück in der Tasche nach den Linden, stellte dort seine Uhr richtig und wanderte, da die vornehme Dinerstunde noch nicht geschlagen hatte, etwa zehnmal die Straße hinauf und hinab, suchte in den reichsten Schaufenstern die Prunkstücke aus, die er einst, wenn erst Könige seine Gäste waren, für seine Salons sammeln wollte. Dann kaufte er für sein letztes eigenes Zwanzigpfennigstück ein Veilchensträußchen, steckte es ins Knopfloch und trat geräuschvoll in ein bekanntes Restaurant, wo er nach langwierigem Lesen der Speisekarte und Studieren der Preise ein regelrechtes Diner von sechs Gängen bestellte.

So gut war es ihm schon lange nicht geworden. Ein Mittagessen, das mit einem Glase Chablis und einem Dutzend Austern anfing, hatte er schon lange nicht verzehrt – noch niemals selbst bezahlt wie heute. Als er, keuchend vor Behagen, beim Kaffee angelangt war, ließ er zur Zigarre noch eine kleine Flasche Kapwein bringen und war der Ansicht, daß er täglich so zu Mittag speisen müßte, wenn er erst anerkanntes Haupt der modernen Gesellschaft war.

Dazu waren fürs erste die Aussichten nicht sehr erfreulich. Stropp hatte mit der ihm eigenen Zähigkeit den Gedanken Bumckes zu dem seinigen gemacht, hatte Tag und Nacht unter seinen Bekannten die Stimmung untersucht und den Boden nicht ungünstig gefunden. Es fehlten nur die Kraft und der Mut der Initiative. Und er, der große Reformator, der diese Kraft und diesen Mut besaß, er konnte nicht sofort auf sein Ziel losgehen, weil ihm zu seinem großen Plane das Geld fehlte. Er wollte ja nur eine Zeitung gründen, welche die Höflichkeit und die Steuern abschaffen, den Pauperismus vernichten, die Juden vertreiben und Deutschland in ein neues Utopien verwandeln sollte. Wie das alles möglich zu machen war, wußte er noch nicht. Hatte er aber erst eine halbe Million Abonnenten und Anhänger, so fand sich das Übrige von selbst. Viele seiner Freunde hatten versprochen, das Blatt zu halten oder dafür zu schreiben. Niemand jedoch wollte auch nur tausend Mark an die große Sache wagen. Stropp aber, der diesmal alle seine Beziehungen, alle seine Hilfsquellen auf die eine Karte setzen wollte, zögerte immer, solange er seinen Gewinn nicht sicher hatte.

Geld! Geld!

Wo das Geld zu seiner Gründung hernehmen? Er hatte sich in der letzten Zeit zu tief gerade mit den Kreisen der jüdischen Finanz eingelassen, als daß die anderen so rasch Zutrauen fassen konnten. Und den guten Julius konnte er doch nicht zu solchem Zweck um Geld angehen! Wenn er auch fürs erste den eigentlichen Zweck verbarg, so witterte der Börsianer doch etwas von mittelalterlicher Gesinnung in dem so vorsichtigen Programm und hielt seine Taschen zu. Und da Stropp bei aller Schlauheit sich hie und da vergaß und im Gespräche Ausdrücke gebrauchte, wie sie nun seit Wochen im Dienste seiner Pläne in seinem Gehirn brodelten, so wurden seine bisherigen Helfer widerwillig und wiesen ihn öfters ab.

Stropp biß die Zähne zusammen. Wenn diese reichen Börsenmenschen heute noch die Hand auftaten und ihm zum Besitz einer einflußreichen Stellung, zu der eines Bankdirektors, eines liberalen Abgeordneten oder wohlbestallten Redakteurs verhalfen, so war er vielleicht – vielleicht! – heute noch bereit, mit sich reden zu lassen und den großen Krieg gegen Kapital und Juda hinauszuschieben. Daß sie ihn aber vor der Zeit fallen ließen, das besiegelte ihr Schicksal!

Und wenn Doktor Stropp nur an die letzte ablehnende Antwort des guten Julius dachte, so fühlte er vergnügt in seinem Herzen den Judenhaß heftiger entbrennen, der ihm für seine zukünftige Tätigkeit so nützlich war. Der Ast, auf dem er saß, war morsch, er mußte sich beeilen, auf einen grünen Zweig zu kommen. Und wenn der alte, morsche bei der Bemühung zusammenbrechen sollte – desto besser!

Stropp fühlte, daß seine Zeit gekommen war. Im öffentlichen Leben bereiteten sich große Umwälzungen vor. Große Massen des Volkes zeigten offen und feindselig ihre Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustande. Es gärte in der Tiefe. Jeder kluge Mann mußte dabei einsehen, daß die Regierenden den Unzufriedenen unmöglich ihre Forderungen bewilligen konnten, ohne das Ganze in Gefahr zu bringen. Es galt also, den wühlenden Parteien einen Bissen hinzuwerfen und sie dadurch auf lange Zeit zum Schweigen zu bringen.

Bumckes schlichter Gedanke war die rettende Tat, die er nun schon seit so vielen Monaten allen, die den ehemaligen Zuchthauslehrer vor sich ließen, als neues Heilmittel anpries. An vielen Stellen, bei hochmögenden Herren, hatte er Verständnis gefunden, aber nirgends, nirgends den ehrlichen Mut, dem Patienten die starke Arznei zu reichen.

Doktor Stropp aber wollte leben, wollte bewundert sein, wollte etwas gelten!

Wenn ihn alle im Stich ließen, wer weiß, ob er nicht noch am Ende aus Zorn das Äußerste wagte, Bumckes Gedanken als gar zu gemein doch wieder fallen ließ und sich selbst an die Spitze der Unzufriedenen stellte, die in der Welt das Oberste zuunterst kehren wollten. Da war alles zu gewinnen und nicht mehr als alles, also nicht viel, zu verlieren. Und Stropp stürzte ein Glas nach dem andern hinunter. Er redete murmelnd mit sich selbst, so daß die übrigen Gäste des Restaurants sich mißmutig nach ihm hinwandten.

Es ging ihm ja gar zu jämmerlich. Unterschied er sich doch in seiner Lebensstellung nicht mehr gar so sehr von dem verächtlichsten Menschen, dem jüdischen Schnorrer, dem Samuel Schöpps, der gleich ihm die Albernheiten des verrückten Schneiders zu seinem eigenen Vorteil ausnutzte.

Ein sauberer Verbündeter, dieser Samuel Schöpps! Ein orthodoxer Jude, der es verschmäht hätte, mit ihm an demselben Tische in diesem Restaurant zu essen – ein betrügerischer Halunke, der ihn durchschaute, der seine letzten Ziele kannte und ihn dennoch unterstützte!

Vor wenigen Tagen erst, als sie beide auf Stropps Zimmer bei den ordinären Zigarren des Schneiders über den gutmütigen Narren lachten, hatte Stropp den Herrn Samuel gemütlich nach dem Grunde gefragt, der ihn den erwachenden großen Judenverfolger unterstützen und gegen seine Glaubensgenossen Partei ergreifen ließ. Und was hatte Samuel geantwortet? Stropp hörte, während er nervös zwischen den Zähnen stochernd zur Decke des Restaurants emporstierte, deutlich jedes Wort des Bettlers wieder.

»Ich bin ein guter Jüd, Herr Doktorleben! Und möchten alle Kinder Israels so an ihrem alten Gott hangen wie ich, so wären keine ägyptischen Strafen nötig, sie zurückzubringen zum Gesetz und zum Geldausteilen. Aber Sie wissen ja wie's geworden ist. Da leben in Berlin viele tausend Juden, die nennen sich reformiert, nennen sich Deutsche, beten deutsch, handeln deutsch und essen und trinken deutsch. Wohin wird das führen? Dahin wird es führen, daß sie einer nach dem andern abfallen von dem alten Glauben und den alten Gebräuchen und sich – Gott verhüt's – taufen lassen. Nu, das wär' mir auch ganz egal! Sollen sie Christen werden! Sollen sie schwarz werden! Ich will aber essen, und gut essen! Was soll nun aus mir werden, der ich nicht kann deutsch beten und lesen und essen und trinken? Was? Hungern werd' ich müssen! Schon jetzt kann ich an unsern hohen Feiertagen nicht mehr kommen wie in früheren Zeiten in jedes Judenhaus und mein Teil verlangen. Überall werd' ich angesehen von oben bis unten, weil ich nicht kann sprechen wie sie. Die Reformierten verachten uns alte, gute, treue Juden! Ist so was je gehört worden? Wenn Ihr aber kommen werdet wie das Strafgericht Gottes und werdet die Juden martern um ihres Judentums willen, so werden sich die Reformierten besinnen, denn sie sind am Ende doch Juden – gottlob. Und sie werden sich sagen: Schimpft man uns, weil wir sind Juden, so wollen wir nebbich stolz sein und uns zum Judentum bekennen! Die Gebildeten, die Reichen, die sind ja einmal solche Narren! Und die sind abgefallen im Glück, werden im Elend wieder fest zusammenhalten und werden sich's zehnmal überlegen, ob sie ihr Geld wollen hinauswerfen für städtische Spitäler und andere so deutsche Sachen. Hetzen Sie nur tüchtig! Mir tun Sie damit nicht weh! Und wenn die Judenverfolgung ordentlich im Gang sein wird, dann wird der Herr Kommerzienrat im Tiergarten nicht mehr beten deutsch, er wird beten hebräisch und wird den armen Schnorrer, der sich da nennt Samuel Schöpps, nicht hinauswerfen lassen von dem gallonierten Diener. Das ist so meine Rechnung!«

So hatte der freche Samuel gesprochen und Stropp mußte bei der Erinnerung wieder ein Glas hinunterstürzen, um über des Vagabunden Spekulation ordentlich lachen zu können. Das wäre ja eine tolle Geschichte, wenn der Reformator Stropp mit seinen großen Plänen nur für die Geschäfte der jüdischen Schnorrer arbeiten sollte. Ach, bah, das waren ganz gleichgültige Nebenumstände, um welche der große Mann sich nicht zu kümmern brauchte. Das hatten die Juden untereinander abzumachen. Germanien aber wird einstimmig einfallen in das Feldgeschrei des neuen Arminius: »Juden raus!« Und Stropp sagte nicht mehr in gebildetem Deutsch »hinaus«, nein, »raus‹ rief er, wie er's von Bumcke gehört.

Er war auf seinem Platze immer unruhiger geworden und stieß den letzten Ruf halblaut hervor. Die anderen Gäste wandten sich wieder nach ihm um, er aber bemerkte es nicht und fuhr in seinen Selbstgesprächen fort.

Er hatte von der Verbindung mit dem verrückten Schneider manchen Vorteil. Er wohnte da umsonst und erhielt zur Not auch Nahrung, Kleidung und Wäsche zum Lohn für seine Bundesgenossenschaft im Lichte. Auch die Nachbarschaft Samuels wurde nutzbar gemacht, seitdem sich Stropp durch den Orthodoxen, der in seiner Jugend nichts als einige alte jüdische Ritualien gelernt hatte, in die Eigentümlichkeiten und Schrullen des talmudischen Gesetzes einweihen ließ. Aber um solcher kleinen Vorteile willen wäre Stropp niemals in die verrufene Gegend, in das baufällige Haus des verrückten Schneiders gezogen.

Dorthin zogen ihn, was hoffentlich niemand wußte, die hübschen Augen der Frau Doretta. Vom Markte auf dem Alexanderplatz war er ihr einmal nachgeschlichen, hatte sie bis zu dem schwärzlichen Bau begleitet, wo der Zettel ein möbliertes Zimmer für einen soliden Herrn ankündigte, und hatte in jäher Verliebtheit sofort gemietet. Nun lebte er seit bald einem Jahre in dem Loche, in welchem ihn zwar nicht jeder Gläubiger, aber auch nicht jeder Freund aufsuchen mochte; und doch hatte er's bei Frau Doretta noch nicht weiter gebracht als am ersten Tage. Eine unheimliche Angst vor einem Zornesausbruch des verrückten Schneiders hatte ihn bis heute abgehalten, die Tugend der hübschen Frau mit einem kecken Wagnis zu stürmen. Aber das war eine schändliche Feigheit!

Ja, es war eine Feigheit! Stropp schaute mit glanzlosen Augen in das Glas. Es war unstatthaft, es war unnatürlich, es war ein Verbrechen, daß ein jüdischer Flickschneider ein hübsches Christenweibchen allein besitzen sollte. Er, der germanische Doktor Stropp, sollte hungrig hinter der Türe stöhnen, während der jüdische Schneider den Schatz in den Händen hatte? Pfui! Und Stropp rief wieder, diesmal ganz vernehmlich: »Juden raus!« und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die geleerte Weinflasche umfiel.

Der Oberkellner eilte herzu und überreichte dem Gaste Hut, Stock und die Rechnung. Sie betrug gerade zwanzig Mark. Stropp warf das Goldstück Heinrichs verächtlich auf den Tisch und verließ mit einigem Brummen über die Unsitte des Trinkgelds, die auch nur von jüdischen Börsenspekulanten ins Land gebracht worden wäre, das Lokal.

Draußen fuchtelte er mit dem Stocke in der Luft lebhaft hin und her. Jetzt oder niemals; jetzt war er in der Stimmung, seine lächerliche Angst vor dem Blicke des Schneiders zu besiegen. Er eilte nach dem Hause und war doch beinahe verlegen, als er Frau Doretta allein antraf.


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