Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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VIII.

Von der Tagesarbeit ermüdet, kehrte Heinrich wenige Tage nach der Abreise der Familie Auenheim in seine Wohnung zurück; da fand er unter anderem einen Brief mit dem Poststempel Eggerwitz vor. Die Aufschrift war mit großen feinen Zügen geschrieben. Er kannte die Hand nicht, aber der Brief mußte von Clemence sein! Heinrich wog das leichte Schreiben lange sinnend in der Hand, bevor er den Umschlag behutsam aufschnitt. Was konnte geschehen sein, das sie zwang, an ihn zu schreiben? Heinrich durchlebte in wenigen Augenblicken ein Welt von Abenteuern und nahm sich vor, alle siegreich zu bestehen, wenn seine Dame es verlangte. Und nun erst las er.

Der Brief war nicht von dem geliebten Mädchen geschrieben, sondern von Evchen. Heinrich mußte lächeln, wenn er die kleine Gefälligkeit, um die sie ihn ersuchte, mit seinen heroischen Gedanken verglich. Sie schrieb:

»Sehr geehrter Herr Doktor!

Wäre es uns vor unserer plötzlichen Abreise möglich gewesen, Sie zu sprechen, so hätten wir eine große Bitte an Sie zu richten gehabt. Eigentlich ist es aber nicht meine Angelegenheit, sondern Clemence ihre. Clemence bittet Sie nämlich recht herzlich, doch einmal in die zweite Straße von der Klosterstraße rechts gehen zu wollen. Dort wohnt der Schneidermeister Oswald Fränkel und seine Familie. Die Frau hat einmal bei uns gedient und war stets ein Liebling unserer lieben Mutter. Die braven Leute wurden von der Mutter oft mit Rat und Tat unterstützt und werden nun nicht wissen, warum niemand mehr kommt. Sie möchten nun mal hingehen und nach dem Rechten sehen. Clemence dankt Ihnen recht schön und läßt sagen, daß die Leute sehr eigen sind und keine Almosen annehmen, daß man nur sehr vorsichtig etwas tun könne.

Von uns ist nicht viel zu erzählen. Ich mache mir recht viel Sorge um Clemence; aber Papa ist wieder, gottlob, recht munter. Ich selbst weine meine Taschentücher im Stillen voll.

in Hochachtung und aufrichtiger Verehrung

Ihre ergebenste

Eva von Auenheim

P.S. Ich weiß nicht, weshalb Ihnen Clemence diesen Brief nicht selbst geschrieben hat. Ein bißchen Zerstreuung tut ihr so gut. Grüßen Sie Ihren Freund.«

Am nächsten Tage gegen ein Uhr war Heinrich in der Klosterstraße und forschte in der ganzen Gegend vergebens nach dem Schneidermeister Oswald Fränkel. Im Adreßkalender war der Name überhaupt nicht zu finden gewesen, und hier kannte ihn niemand; die Angabe, er wohne in der zweiten Seitengasse rechts, war auch gar zu ungenau.

Einstweilen freute sich Heinrich über den Auftrag. Er lebte nun schon so viele Jahre in Berlin und hatte diesen Winkel noch nicht kennengelernt, der, wie mancherlei Anzeichen verrieten, bald neuen umformen Häusern Platz machen sollte. Er glaubte sich wie durch Zauberei in seine Vaterstadt zurückversetzt, in das alte Prag mit seinen winkeligen Gäßchen und seinem architektonischen Ghetto. Die schwarzen Mauern, die sich enger und enger gegeneinander neigten, die vielen verkümmerten blaßgelben Gesichter, aus deren Augen das konfessionslose Elend herausblickte, alles hätte die Erinnerung an die Prager Judenstadt wachgerufen, auch wenn nicht an zahlreichen Speisehäusern und Schlächterläden dieser Gegend die drei bekannten hebräischen Buchstaben geprangt hätten.

Und noch andere hebräische Inschriften verrieten, daß hier eine altgläubige jüdische Bevölkerung im engen Anschluß aneinander hauste und von den kosmopolitischen Gewohnheiten anderer Stadtteile nichts wissen wollte.

Heinrich stand vor einem Eckhause, auf welchem in großen Buchstaben zum Besuche der billigsten und nahrhaftesten Küche Berlins eingeladen wurde. Es gab da nach den Versprechungen der Plakate feine Weine und echte Biere, an bestimmten Wochentagen bestimmte Lieblingsspeisen, Hühnerfrikassee oder Erbsen mit Sauerkohl, auch fehlte ein französisches Billard nicht. Aber über jeder Tafel standen die drei hebräischen Buchstaben und erklärten kurz und bündig, daß alle Genüsse dieses Hauses streng nach den Regeln bereitet waren, welches Moses den Juden vor einigen tausend Jahren auferlegt haben sollte.

Heinrichs Gesicht verfinsterte sich. Wieder stand die Gestalt des ewigen Juden vor ihm, wieder starrten ihn die großen müden rätselvollen Augen an. Spielte ein Kobold mit seinem Leben, daß es ihn immer wieder mitten in diese enge Welt trieb?

Da wurden im Hause vor ihm scheltende Stimmen laut, Türen wurden aufgerissen und plötzlich stürzte dicht neben ihm ein kleiner Mann die steile Treppe herunter auf die Straße hinaus und fiel nach rückwärts hin, daß der Kopf hart auf das Pflaster aufschlug.

Heinrich trat eilig hinzu, und da in der menschenleeren Straße keine andere Hilfe zur Hand war, bemühte er sich allein, den Verwundeten aufzuheben. Der Mann war unsauber, aber nicht eben bettelhaft gekleidet. Im Gesichte war nichts von Trunkenheit oder Trunksucht zu bemerken. Als Heinrich ihn kräftig unter den Achseln angefaßt hatte, schlug er die Augen auf, rieb sich mit der Hand die schmerzende Stelle am Hinterkopf und richtete sich rasch, wenn auch ein wenig schwankend, empor. Der Arzt erinnerte sich, dem Manne schon einmal begegnet zu sein.

Er bot ihm noch ferner seinen Beistand an und fragte nach dem Anlaß einer so barbarischen Behandlung. Der Fremde lachte häßlich auf, und indem er sich doch wieder auf Heinrichs Arm aufstützte, sagte er:

»Das hab' ich nu wieder von meiner Frömmigkeit! Ich bin nämlich Samuel Schöpps, wenn Sie sich noch erinnern, und ein frommer Jud nach dem alten Glauben. Kann ich was dafür, wenn sogar in den koscheren Wirtshäusern die Speisegesetze nicht mehr beobachtet werden? Bin ich gesessen da drin und hab' gegessen 'nen Schmorbraten. Kann ich was dafür, daß ist gelegen mitten in der Schüssel ein Stück Speck? Ein Stück Schweinespeck, mit Respekt zu melden. Hab' ich gerufen laut und die Hände zusammengeschlagen und hab' auf der Gabel aufgespießt das Stück Schweinespeck. Sind gekommen die Wirtin und der Kellner, der's mit ihr hält, und haben mich rausgeschmissen. Nu, es hätt' schlimmer werden können.«

Die Wunde mußte jedoch noch tüchtig schmerzen, denn Samuel Schöpps verzog sein Gesicht nicht mehr zum Lachen, sondern schloß die Augen wie in einer Ohnmacht. Auf die Frage Heinrichs, wo er wohne, sprach er schwach: »Wo werd' ich wohnen, bester Herr? Kann ich wohnen unter Menschen? Kann ein Schnorrer leben in Berlin wie ein Mensch? Bei wem werd' ich wohnen? Beim verrückten Flickschneider, beim Herrn Oswald Fränkel, dem Religionsstifter. Gotteslohn, wenn Sie mich hinbringen. Sind Sie doch ein Arzt und werden einen armen Verwundeten nicht lassen entgelten Ihren alten Zorn!«

Jetzt erinnerte sich Heinrich an das Gesicht des Vagabunden. Dieser Schöpps hatte sich in Tinas Verein für Wöchnerinnen gemeldet und hatte wochenlang Unterstützung genossen, bis des Arztes energische Dazwischenkunft zur Entdeckung führte, daß Samuel weder Frau noch Kind besaß.

Heinrich verzieh ihm die verjährte Spitzbüberei gern, da er endlich hoffen durfte, durch ihn den Schützling der schönen Clemence ausfindig zu machen.

Herr Samuel Schöpps war noch zu schwach oder noch zu sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um auf die Frage nach des Schneiders Wohnung sofort zu antworten.

»Pech hab' ich, weiter nichts«, rief er, und das häßliche scheue Lächeln flog wieder über seine Züge. »Alle Schabbes beinahe, wenn ich gut essen will, passiert mir so was. Ich tret' ein, laß mir auftragen, und wenn ich satt bin, muß ich immer irgendeine Sünde gegen das Gesetz entdecken. Einmal ist Schweinespeck zum Braten getan, ein andermal Butter. Milchig und fleischig auf einem Teller! Dann steht wieder Käse auf dem Tisch, während ich Fleisch esse, oder ich esse Käse und soll ihn mit einem Messer schneiden, woran noch klebt eine Faser Wurst. Oder ich laß mir geben ein Huhn und seh', es ist nicht geschlachtet, wie sich's gehört. Oder ich will essen ein Lamm, und es ist 'ne Katz, oder ich hab' Appetit auf ein lebendig geschlachtetes Rebhuhn, und es ist geschossen, und ich, ich muß finden beim Essen die Schrotkörner, daß ich mir die Zähne daran entzwei beiß' und schrei', und der Spektakel ist fertig.«

»Können Sie's nicht dahin bringen, daß Sie solche Verstöße, an denen Sie überdies unschuldig sind, weniger streng empfinden?« fragte Heinrich, der bei allem Abscheu, den der Mann einflößte, sein Mitleid nicht unterdrücken konnte.

»Gott, das Gesetz kennt kein Erbarmen«, sagte Herr Samuel pfiffig. »Und dann – die Sache hat auch ihre gute Seite. Ich weiß nicht, wie's kommt, aber ich brauche nie zu bezahlen. Entweder die Leut' haben ein schlechtes Gewissen, dann bitten sie mich zu schweigen, heißen mich gehen und nehmen kein Geld von mir. Oder sie haben ein gutes Gewissen, nu, dann schmeißen sie mich raus, wie heute, und in der Wut vergessen sie auch wieder auf die Bezahlung. Schad', daß man in dasselbe Lokal nie zweimal gehen kann! Die schlechten Leut' sagen nämlich, ich bring' den Speck und die andern unreinen Sachen selber mit, um nicht bezahlen zu müssen.«

Und Herr Samuel kratzte wieder seinen verschwollenen Kopf. Heinrich, der wider Willen über die List des Scheinheiligen lachen mußte, wiederholte seine Frage nach dem Schneider.

»Der verrückte Flickschneider? Ein Lamm, sag' ich Ihnen, ein gutes Schaf, Manna in der Wüste für einen treuen Sohn Israels! Zum Lohn dafür, daß ich zeitlebens alle seine Speisegesetze gehalten hab', als ob ein Schutzmann vor jedem aufgepflanzt wäre, hat mich Gott diesen Schneider finden lassen. Er heißt eigentlich David Fränkel, David auf gut jüdisch; daß er sich Oswald nennt, ist auch nur eine von seinen Verdrehtheiten. Er bildet sich nämlich ein, er ist berufen, den Unterschied zwischen Juden und Christen aus der Welt zu schaffen. Gott, was für ein Narr! Als ob dann die Menschen nicht andere Gründe hätten, einander Steine und faule Äpfel an die Köpf' zu werfen. Genug, er will eine neue Religion gründen. Die Christen sollen sich zum Judentum und die Juden zum Christentum bekehren. Was weiß ich? Da, wo sie auf halbem Wege zusammentreffen, da will der Herr Oswald Fränkel eine neue Kirche bauen. Gott, was ein Unsinn! Zwei Menschen hat er bis jetzt, an denen er arbeitet wie ein Heidenbekehrer. Der eine ist sein Sohn. Er ist nebbich erst drei Monat alt und kann sich nicht wehren. Der andere« – und Samuel lachte dummschlau – »der andere bin ich! Glauben Sie mir, bester Herr Doktor, ich bezahl' das bißchen Miete und Essen teuer, wenn ich jeden Abend das geschwollene Zeug anhören muß. Man möcht' selber verrückt werden, wenn man ihn so anhört und sieht, wie die Frau immer mit dem Kopf nickt und ihren Mann anstaunt wie ein Weltwunder. Und so einer hat mehr Geld als ich, der ich Gottes Gebote befolge von früh bis spät.«

Heinrich fragte, ob der Schneider in der Tat wohlhabend sei und woher er die Mittel nehme.

»Er arbeitet wie ein Pferd und lebt wie ein Hund. Wie soll er da nicht Groschen beiseite legen können?! Und dann – Sie glauben gar nicht, wie groß die Narretei des Menschen ist. Er hat von seinem Vater geerbt das Haus da – viel ist's nicht wert, aber es ist doch was – und eine Destillation in der Rosenstraße. Was hat er gemacht? Was glauben Sie? Er hat gesagt, die Juden sollen alle Handwerker werden, und er will den Anfang machen. Und hat die Destillation an einen christlichen Christen mit einem christlichen Namen verkauft, hat sich zurückgezogen in sein Schloß da drüben und hat angefangen zu lernen zu fünfundzwanzig Jahr – was glauben Sie, daß er angefangen hat zu lernen? Schneidern! Ein Hausbesitzer und Branntweinhändler – schneidern! Ein Narr, sag' ich Ihnen, ein Narr so groß, daß man aus ihm zwei machen könnte! Nun, ich dank' Ihnen, bester Herr Doktor, hier bin ich zu Hause.«

Sie standen vor einem winzigen einstöckigen Häuschen, dessen Vordermauern beinahe noch mehr schmutzig als schwarz, noch mehr zerdrückt als geneigt aussahen. Das Erdgeschoß schien mit der Straße gar nicht in Verbindung zu stehen. Das einzige Fenster war ohne Glas, aber mit Eisenstäben dicht verwahrt. Daneben führte eine entsetzlich steile enge Holztreppe zum ersten Stockwerk empor, welches in der Breite von zwei Fenstern sich vornüber neigte. Als Samuel Schöpps das schlüpfrige Treppengeländer schwankend anfaßte, um mit einer höflichen Abschiedsbewegung gegen Heinrich emporzuklimmen, faßte ihn der Arzt bei der Hand und sagte:

»Es wird doch besser sein, ich begleite Sie in Ihre Wohnung und schaue dort einmal nach Ihrer Wunde. Ich bin Arzt und wollte ohnedies eben zum Schneidermeister gehen.«

Samuel wandte sich entsetzt um. »Erbarmen, gnädigster Herr Doktor«, wimmerte er mit völlig verändertem Tone und mit leiser Stimme. »Hätt' ich gewußt, daß Sie sind bekannt mit dem ver.... mit Oswald, so hätt' ich mir lieber die Zunge abgebissen – nein die Zunge hätt' ich mir doch nicht abgebissen –, aber geschwiegen hätt' ich und nicht gelästert meinen Wohltäter. Bester Herr Doktorleben, ich beschwöre Sie bei dem Leben Ihres Weibes, bringen Sie mich nicht ins Unglück und verraten Sie mich nicht!«

Heinrich versprach Stillschweigen und half dem Elenden die knarrende und knackende Treppe hinauf. Oben führten zwei Türen in die Wohnräume. Samuel flüsterte seinem Begleiter zu:

»Hier links, wo Sie die weiße Visitenkarte auf der Tür sehen, wohnt Herr Doktor Stropp. Ein feiner Mieter! Wenn der könnte, wie er wollte, so wär's mit Oswalds Eheglück und mit der Ehrbarkeit der Doretta bald vorbei. Aber das duld' ich nicht – freilich, zum Glück Doretta auch nicht. Hier wohnen wir. Ich muß jedesmal die Werkstatt passieren. Bitte, Sie brauchen nicht anzuklopfen.«

Samuel öffnete die erste Tür gerade gegenüber der Treppe, trat ein und lud Heinrich ein, ihm zu folgen.

Man hätte in dem kleinen Häuschen kein so großes, helles, vor allem kein so wohnliches Gemach vermutet, wie Heinrich es nun erstaunt mit raschem Blick überfliegen konnte. Tisch, Kommode, Sofa, Stühle, alles stand sauber an seinem Platze. Auf der Kommode leuchteten ein paar Glasgefäße von grellen Farben, an den Wänden hingen, gleichweit abstehend, zu beiden Seiten des Spiegels eine Menge größerer und kleinerer Bildchen: Holzschnitte, Photographien und schlechte Öldruckbilder, in der Mitte links ein Holzschnitt und Michelangelos Moses, rechts eine schreckliche Nachbildung von Raphaels sixtinischer Madonna. Die Nettigkeit der tiefen niedrigen Stube, deren beide Fenster auf die Straße gingen, war um so anheimelnder, als zwei Werkstätten in derselben nebeneinander aufgeschlagen waren.

Ein Plättbrett stand an der Rückwand neben einem großen Korbe mit feiner Wäsche.

An dem ersten Fenster neben der Eingangstür hockte auf einem hohen Stuhle der Schneider. Wäre Heinrich nicht schon durch Evchens Brief und auch durch den Spott Samuels für den Schneider günstig gestimmt worden – das Gesicht desselben hätte ihm Mißtrauen eingeflößt. Die blasse Farbe, das krause brandrote Haar, der gleichfarbige Bart, der den dünnen Mund dicht umschloß und sich mit kurzen Stoppeln über die Wangen hin bis gegen die Augen vordrängte – die roten abstehenden Ohren, die lange schmale Nase, die niedrige, steile, tiefgefurchte Stirn vereinigten sich zu einem häßlichen Gesamtbilde, und als Fränkel die Augen aufschlug, flammte aus den schwarzen Pupillen ein leidenschaftliches Feuer auf, das den hageren Schneider fast unheimlich machte.

Er schien übrigens den Fremden als Freund Samuels zu betrachten, der ihn nichts anging. Wenigstens begnügte er sich, den Gruß der Eintretenden mit ernstem, stummen Kopfnicken zu beantworten. Da trat aber die Frau mit glühendem Gesicht, das Plätteisen in der Hand, aus der Küche herein und grüßte herzlich. Es war ein kleines lebhaftes rundes schwarzhaariges Weibchen, nicht schön, aber blutjung und durch ein Paar träumerischer blauer Augen seltsam geadelt. »'n Morjen«, rief sie im reinsten Berlinisch dem Mieter zu. »Sind natürlich wieder nicht zum Essen zu Hause gewesen. Es gab freilich nur Milchreis; Sie wissen, Oswald liebt es nicht, gerade am Sonnabend was Gutes zu essen. Aber Milchreis hätten Sie doch mit uns essen können, das ist nicht vom Schwein.«

»Liebe Frau Dora«, sprach Samuel, der hier eine demütige Haltung annahm und dem frechen Fechtbruder von vorhin kaum mehr ähnlich sah, »nun muß ich's Ihnen zum hundertstenmal erklären, daß ich als rechtgläubiger Jude überhaupt keine Speise essen sollte, die eine Christin bereitet hat. Bei Ihnen ist nichts für mich koscher.«

»Gebrauche doch das hinterasiatische Wort nicht«, sagte vom Fenster her eine so tiefe, weiche, sanfte Stimme, daß Heinrich sich überrascht umwandte. Der Schneider sprach; und beim ersten Worte bat ihn Heinrich in Gedanken wegen jedes Vorurteils um Verzeihung, das er beim bloßen Anblick hatte fassen wollen.

Der Schneider sagte: »Gebrauche das hinterasiatische Wort nicht. Koscher ist eine hebräische Vokabularisation und heißt so viel wie »rein«. Nun wirst Du aber nicht ernstlich behaupten wollen, Friedrich, daß etwas unrein sei, was die Hände meiner Doretta bereitet haben.« Und der Schneider warf seinem Weibe einen innigen schönen Blick zu. »In Wahrheit sind aber die jüdischen Speisegesetze überhaupt veraltet. Sowohl vom Standpunkte der vergleichenden Völkerpsychokolo... na – und so weiter, als auch der Bibelauslegung. Es war nämlich Moses...«

»Lieber Oswald«, unterbrach ihn seine Doretta, »willst Du Friedrich nicht in seine Stube gehen lassen? Du siehst, er hat Besuch mitgebracht. Und feinen Besuch!«

Herr Samuel, der ein schiefes Gesicht schnitt, sooft er hier »Friedrich« angeredet wurde, fiel schnell ein: »Ich kenne den Herrn nur wenig. Er suchte den Schneidermeister Oswald Fränkel, und ich zeigte ihm den Weg. Provision, wenn er was Gutes bringt. Adieu!«

Herr Samuel ging durch die Küche in sein Zimmer und machte dem Arzte ein Zeichen, daß die Kopfwunde schon von selber heilen werde.

Frau Doretta plättete munter fort, sagte aber während der Arbeit: »Hat Sie jemand an meinen Mann gewiesen? Oswald arbeitet sehr sauber, und wenn Sie sich einen neuen Anzug bei ihm bauen lassen wollen, so wird Sie's nicht gereuen. Ein Frack von ihm sitzt wie angegossen.«

»Ich komme nicht als Kunde«, antwortete Heinrich. »Ich komme als Arzt. Fräulein Clemence von Auenheim hat mich beauftragt, hier vorzusprechen und nachzusehen, ob's für mich etwas zu tun gibt. Hoffentlich komme ich als Arzt nicht gerade erwünscht!«

Gleichzeitig legte die Frau das Plätteisen und der Mann den Rock, an dem er flickte, aus der Hand und kamen rasch auf Heinrich heran. Eifrig sprachen sie durcheinander. Ob der Herr Doktor die Familie kenne? Ob er die selige Frau, den guten Engel, in der letzten Krankheit behandelt habe? Was denn die schöne Clemence mache, das bravste und beste Mädchen der Welt?

Und ohne Heinrichs Antworten abzuwarten, erzählte die Frau, während Oswald wieder auf seinen Stuhl stieg und an die Arbeit ging, sie habe gute Zeiten bei Auenheims gehabt, und nur die Liebe zu ihrem Oswald habe sie bewegen können, ein so durchaus nobles Haus zu verlassen. Der Herr sei zwar etwas flott und habe sich, wenn niemand dabei war, gern von dem Kammermädchen die Halsbinde zurechtrücken lassen. Aber die Damen! Die alte Gnädige – die Selige! Und die beiden Fräulein! Besonders die Clemence! Eine ganze Ausstattung habe Doretta zur Hochzeit bekommen, und die Clemence habe ein Dutzend Taschentücher selbst gestickt. Sie seien natürlich bis heute nicht in Gebrauch genommen. »Oswalds Nase, ich bitte Sie!« rief Frau Doretta lachend. Und seit der Hochzeit habe man sie auch nicht ganz vergessen. Fünfmal sei Frau von Auenheim dagewesen, zweimal allein und dreimal mit Clemence. Immer habe sie was Liebes mitgebracht. Natürlich habe Doretta für Auenheims geplättet. Und wenn sie überall jemals in Gefahr sei, auf schlechte Gedanken zu kommen, so brauche sie nur den Trauring anzusehen, den die Selige selbst geschenkt habe, und sie komme gleich wieder zurecht.

Heinrich unterbrach sie und sagte, er sei beauftragt, im Sinne der Verstorbenen hier nach den Wünschen und Bedürfnissen zu fragen.

»Die Selige können Sie uns nicht ersetzen«, sagte Oswald trübe lächelnd.

»Sollten wir dem Herrn Doktor nicht unsern Siegfried zeigen, Oswald?« fragte Doretta.

»Du hast recht, wie immer, Doretta«, rief der Schneider. »Das war gewiß die Absicht der Frau von Auenheim, als ihr edler Homosumanismus sie antrieb, uns einen brüderlichen Freund in die arbeitsam Hütte zu senden.«

Und wieder kletterte der Schneider herunter, auch Doretta ließ ihre Arbeit stehen, und die stolzen Eltern führten den Arzt durch die Küche in ein kleines Schlafkabinett, wo neben dem breiten Ehebett in einem Korbe auf reinlichen Betten ein etwa drei Monate altes Kind schlummerte. Der kleine Siegfried sah recht schwächlich und elend aus. Als Heinrich aber die beiden Eltern betrachtete, die beide erst mit dem Ausdruck hingebendster Bewunderung ihr Söhnlein, dann herausfordernd den Arzt ansahen, konnte er es nicht übers Herz bringen, sie zu erschrecken. Er versprach zu warten, bis das Kind erwachte, und es dann zu untersuchen. Man könne ja inzwischen in die Stube zurückkehren und noch ein wenig plaudern.

Er wagte es nicht, gleich wieder von Clemence zu reden, und fragte darum nach dem Befinden der beiden Eheleute. Er habe den Auftrag, darüber Bericht zu erstatten. Frau Doretta wischte sich die Augen.

»Das gute Fräulein Clemence! Eigentlich sind wir alle zwei beide frisch und munter. Mir fehlt nie etwas. Oswald freilich, wenn er auch nicht klagt, ist nicht von Eichenholz. Er hat bei all seinem Genie einen schwachen Magen. Widersprich mir nicht, Oswald, Du hast einen schwachen Magen. Ich will ja gern zugeben, daß jedes Genie einen schwachen Magen haben muß. Und bewahre mich der Himmel davor, daß ich wünschen sollte, Du besäßest weniger Genie. Dann wärst Du ja nicht mehr mein Oswald! Wäre es aber nicht möglich, Herr Doktor, daß mein Mann am Abend weniger liest und bei Nacht weniger nachdenkt? Ich meine immer, was in all den dummen Büchern steht, das weiß ein Mann wie Du schon lange.«

»Das verstehst Du nicht ganz richtig, liebes Kind«, sagte Oswald milde. »Das Gehirn und sein System schreit ebenso nach Nahrung wie der Leib. Und auch die Irrtümer schlechter Bücher verdienen, erwogen zu werden. Daß ich aber des Nachts mitunter nicht schlafen muß, sondern über sehr hohe Problemathesien nachsinnen darf, das ist eine Gnade der heiligen Natur, die ich auch durch mein redliches Streben verdient habe. Lebe ich doch ein höheres Leben zu nachtschlafender Zeit, wenn meine Menschenbrüder nicht anders denn tote Leichname daliegen.«

»Ja, Herr Doktor, es ist bewunderungswürdig, wie mein Oswald die ganze Nacht manchmal über Dinge nachsinnt, bei denen ich dumme Person mir gar nichts denken kann. Ich habe ihm schon manches Mal gesagt, er soll dabei in seinen Pantinen in der Stube auf und ab gehen. Siegfried wacht doch nur auf, wenn er Hunger hat, und beim Gehen fällt einem leichter etwas ein. Er liegt aber mäuschenstill neben mir, muckt nicht, und wenn er auch noch schnarchen wollte, könnte man glauben, er schläft. Schnarchen aber tut mein Oswald nicht. Ja, wer aber so seine Nächte zubringt, der sollte bei Tage weniger arbeiten. Sehen Sie, Herr Doktor, so sitzt er von früh bis spät über seiner Arbeit, an die er nicht einmal von Jugend auf gewöhnt ist. Das müßten Sie ihm verbieten, Herr Doktor, und wenn er Ihnen nicht gehorcht, so sag' ich's noch einmal dem Fräulein Clemence selber. Es ist nicht anders. Ist der Mensch ein Nachtwächter geworden, so muß er am Tage schlafen. Wer nicht schläft, bekommt einen schwachen Magen. Und wenn der Mensch nichts ißt, so hilft ihm am Ende all sein Genie nichts. Ich sag' Ihnen, Herr Doktor, ich fürchte mich bei Tisch, ihm zuzureden, weil er auch beim Essen immer was Großes zu denken hat; aber was Oswald aufißt, daß trägt die Katz' auf'm Schwanz weg.«

»Glauben Sie meinem guten Weibe nicht«, sagte Oswald sanft schon wieder vom Fenster herüber, ohne von der Arbeit aufzublicken. »Mit dem bißchen Tagewerk zahle ich nur der Menschheit meinen Tribut; denn durch seiner Hände Arbeit soll der Mensch sein Brot verdienen, besonders aber der Jude. Das Lesen und Nachdenken jedoch ist meine Erholung, meine Ruhe, meine Andacht. Ihr aber, der guten Doretta, sollten Sie, Herr Doktor, verbieten, über ihre Kräfte zu arbeiten, da sie sonst nicht nur ihre teure Gesundheit, sondern auch den Lebensnerv unseres Sohnes in Gefahr bringt. Sie ist ja ein rüstiges Weib und wohlgeschaffen, unsere Zukunft an ihrer Brust zu wiegen. Aber Plätterin sollte sie dabei nicht zugleich sein! Denn so, wie des Mannes Beruf war, ist und sein wird, ein Handwerk zu treiben, auf daß er Weib und Kind ernähre, so sei ewig der Beruf des Weibes, uns Rosen ins gottgefällige Leben zu flechten. Siegfried ist kaum drei Monate alt. Doretta aber hat nur drei Tage geruht, am vierten Tage hat sie schon wieder – schreckliche Blässe auf ihren blühenden Wangen – nach dem Plätteisen gegriffen und die durchsichtige Wäsche vornehmer Müßiggänger gefältelt. Nein, Herr Doktor, ihr, nicht mir legen Sie Schonung auf.«

Ein leises Weinen unterbrach den Wettstreit der Eltern. Siegfried war erwacht und forderte sein Recht. Die Eltern stürzten zum Korb, und während die Mutter dem Säugling unbefangen ihre Brust reichte, verfolgte Oswald mit lachendem Gesicht jede Bewegung des Sohnes.

»Das müssen Sie selbst sagen, Herr Doktor, unser Siegfried ist ein derber Junge. Er kennt mich auch schon! Wenn ich recht laut: Siegfried! rufe, so blickt er nach mir und hört auf zu trinken. – Siegfried!«

Heinrich unterzog den derben Jungen einer raschen Untersuchung. Er wollten den frohen Eltern nicht weh tun, mußte ihnen aber dennoch mitteilen, daß ihr Kind recht blaß aussehe und auch für sein Alter noch ziemlich leicht wiege. Die Mutter sollte sich zu erholen suchen, sollte bessere Nahrung genießen und weniger angestrengt arbeiten.

Heinrich gab beim Fortgehen das Versprechen, des Kindes wegen häufig wiederzukommen. Der ernste Schneider führte ihn bis zur Tür und sprach die Hoffnung aus, dem Herrn Doktor bei weiteren Besuchen nähertreten und in ihm einen Verbündeten im Lichte kennengelernt zu haben.

Während Heinrich die lebensgefährliche Treppe hinuntertastete, hatte er keinen anderen Gedanken als: Wieviel durfte er schreiben, um seiner Auftraggeberin alles mitzuteilen?

Als er zum Hause heraustrat, blickte er in dem öden Gäßchen auf und nieder, um sich in der Richtung zurechtzufinden. Da näherte sich ein Herr der Tür, zog würdevoll den Hut und sagte mit feierlicher Betonung: »Sie kommen aus meinem Hause. Hatten Sie mir die Ehre eines Besuches zugedacht, Herr Doktor? Ach, Sie kennen mich nicht mehr? Doktor Stropp hat die Ehre, sich Ihnen in Erinnerung zu bringen.«


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