Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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XIII.

Bei den Schneidersleuten war das Leben seit der Abreise Heinrichs nicht heller geworden. Oswald grübelte unbekümmert über die Erlösung Israels weiter und freute sich seines Sprößlings.

Doretta aber hatte das Singen fast verlernt. Je höhnischer Doktor Stropp sie bei den kurzen Begegnungen anlächelte, je aufgeregter und geheimnisvoller ihr Mann über die großen internationalen Pläne der sozialen Partei sprach, desto mehr wuchs ihre Angst. Sie kannte nur noch den einen Gedanken: den Doktor Stropp durch kleine Aufmerksamkeiten zu versöhnen und so ihren Oswald zu retten. Natürlich durfte ihre Frauenehre nicht gekränkt werden! Was der Doktor aber gerne aß und trank, das kam nun häufiger auf den Tisch. Gingen die Ersparnisse dabei auch rasch auf, verschlang der dicke Samuel auch entsetzlich viel von den teuren Gerichten: wenn nur der entsetzliche Mensch verhindert wurde, sich zu rächen.

Doktor Stropp ließ sich das Wohlleben gefallen; aber er hatte schlimme Tage, an denen er bei der Mahlzeit auf die begeisterten Reden des Schneiders nicht antwortete und ebenso düster wie Doretta auf seinen Teller blickte. Dann zuckten die Muskeln seines Gesichts, dann warf er lauernde Blicke nach der Wirtin, und als Samuel einmal hinwarf, Stropp sähe aus, als fürchtete er Gift in den Speisen, da entfiel ihm die Gabel vor Schrecken.

Ja, an seinen gefährlichen Tagen kam über Stropp oft plötzlich die fürchterliche Gewißheit, Doretta wolle ihn aus der Welt schaffen, um ihn zu strafen und ihren Gatten zu rächen. Niemand durfte ja seine Qualen ahnen, man hätte ihn für verrückt gehalten und wohl gar ins Irrenhaus gesperrt! Aber die Todesangst kam zu oft über ihn, als daß er sich in dem alten Hause hätte wohl fühlen können.

Und doch war keine Änderung möglich. Sein großer Plan, die Agitation gegen die Juden, mußte wieder aufgegeben werden. Die Massen, welche Stropp zu studieren unternommen hatte, wollten von solchen nutzlosen Roheiten nichts wissen. Die Arbeiter waren zu ungläubig, um sich gegen die fremde Religion aufwiegeln zu lassen, und gegen das Kapital empfanden sie einen völlig konfessionslosen Haß.

Unter den Unzufriedenen der anderen Stände war eher ein günstiger Boden zu finden. Da waren aber zu viele Streber, Nachahmer und trübe Elemente, als daß die Bewegung von selbst in Fluß zu bringen gewesen wäre. Da brauchte es eines äußeren Anstoßes.

Zu seiner Verzweiflung verwarf Stropp plötzlich Bumckes Idee und wollte es wieder einmal mit der Journalistik versuchen. An einem Sonnabend – während Samuel darüber sprach, daß ein frommer Jude am Sonnabende nicht schreiben dürfte, selbst wenn er es wollte – begann der Doktor einen langen Artikel über den Gegenstand zu schreiben, der gerade in der letzten Nummer des gemäßigt liberalen Blattes behandelt war, das Oswald hielt.

Nach der Redaktion dieser Zeitung eilte Stropp am folgenden Sonntage, als kaum die Tinte auf dem Papiere trocken geworden war.

Noch vor wenigen Tagen hatte er den verrückten Schneider damit entzückt, daß er eine donnernde Rede gegen die Sabbatschänderei der Zeitungsunternehmer losließ, die sogar am Abend des Sonntags eine Nummer ihres Blattes herausgaben und durch dieses unstatthafte Gebaren den armen Setzern den Ruhetag stahlen, den der Herr selbst auf Sinai eingesetzt. Jetzt war ihm die Einrichtung der liberalen Blätter sehr erwünscht: er durfte hoffen, auch heute einen Redakteur anzutreffen und für seinen Artikel Geld zu bekommen.

Er trat in ein stattliches Haus, über dessen mächtigem Portal der Name des Blattes weithin sichtbar prangte. Aber er mußte erst zwei Höfe überschreiten, bevor er auf einer Hintertreppe zum Bureau gelangen konnte. Auf den Höfen lagen in mächtigen Schichten gewaltige zentnerschwere Zylinder. Unendliches Papier war auf diesen Walzen aufgerollt, bereit, in der Maschine mit zauberhafter Schnelligkeit mit politischen Artikeln, Romanen und Anzeigen überdruckt zu werden.

Stropp lachte verächtlich, während er die enge gewundene Treppe emporstieg.

»Papierspekulanten!« murmelte er vor sich hin. »Bah, wenn sie meinen Artikel annehmen und gut bezahlen, will ich ihnen verzeihen, daß sie mich bis heute nicht beachtet haben.«

Er hatte den Artikel in zwei Stunden geschrieben und erwartete als Honorar vierzig Mark. Das gab zwanzig Mark für die Stunde. Er konnte zehn Stunden täglich arbeiten, wenn er nur wollte, das machte zweihundert Mark täglich oder zweiundsiebzigtausend Taler jährlich! Oho, meine Herren vom Adel, wir sprechen uns noch, wenn Dr. Stropp ein Millionär geworden ist und Ihnen Ihre verschuldeten Besitzungen abkauft!

Und er grinste vor Vergnügen und schnitt auf jedem Treppenabsatz allerlei Gesichter in die Finsternis hinein.

Endlich war er vor der Tür der Redaktion angelangt und brach sein halblautes Selbstgespräch ab. Er trat ein und wurde vom Diener in ein zweites Zimmer verwiesen, wo zwei Herren an ihren Tischen schrieben und den höflichen Gruß Stropps nur mit einem nervösen Federkratzen beantworteten.

Unmittelbar hinter ihm kam ein Telegraphenbote herein.

Der erste der beiden Herren wandte sich um und sagte zu Stropp: »Ich stehe gleich zur Verfügung!« und riß dem Boten das Telegramm aus der Hand.

Er schrie laut auf, als er es gelesen.

»Schnell, Heinsius, laufen Sie zum Metteur herunter. Er muß noch Raum lassen – für hundert Zeilen. Aus London wird uns ein Telegramm von vierhundert Worten über den Untergang des Panzerschiffs vorausgemeldet. Der verfluchte Kerl! Um ein Uhr vierhundert Worte! Das darf er nicht wieder tun! Der Narr!«

Dabei leuchtete das Gesicht des Redakteurs vor Vergnügen.

»Heinsius«, sagte er zornig, als sein Mitarbeiter wiederkam, »der Kerl in London glaubt, wir hätten nichts anderes hier zu tun, als die Liste sämtlicher bei dem Unglück Umgekommener, zweihundertfünfzig Namen, abzudrucken. Heinsius, jeden Augenblick kann das große Telegramm da sein und wir sind die ersten, die in Deutschland die Liste veröffentlichen. Gute Einfälle hat er doch, der Elende!«

Heinsius, ein magerer Mann mit bleichen Zügen und langen Haaren, erhob sich erregt.

»Zweihundertfünfzig Mann in einem Augenblick verloren! Ich muß mich immer wieder unter die Unglücklichen hineinversetzen und mich in das Entsetzen hineinträumen, welches auf dem Schiffskoloß herrschte, da die Pulverkammer in die Luft flog und der Ruf: Feuer! Von einem Ende zum andern schallte. Ich stelle mir vor...«

»Heben Sie Ihre Phantasie für den morgigen Leitartikel auf, Heinsius. Zum Teufel, jetzt machen Sie den Bericht über die Wahlrede fertig, an welcher Sie schon seit einer halben Stunde dichten!«

Während Heinsius sich erschreckt über seine Arbeit beugte und in seinen Haaren zu wühlen begann, sagte der Redakteur zu Stropp:

»Was steht zu Diensten?«

Stropp begann in einer langen Rede auseinanderzusetzen, was ihn hergeführt habe. Er sei seit Jahren nicht nur Leser, sondern auch Abonnent des geschätzten Blattes und würde seinen größten Stolz darein setzen wenn eine Arbeit von ihm Aufnahme in die Spalten fände, die...

Der Redakteur unterbrach ihn.

»Haben Sie ein Manuskript mitgebracht? Bitte! Eigentlich ist heute für nichts anderes Raum und Zeit als für die gräßliche Katastrophe!«

Stropp holte das Heftchen hervor und übergab es.

»Zu dick«, sagte der Redakteur und begann zu lesen. Nach den ersten zehn Zeilen fuhr er ärgerlich auf und rief:

»Das ist ja unser eigener Leitartikel, den ich vorgestern abend hier diktiert habe.«

»Ich freue mich sehe«, erwiderte Stropp, »daß unsere Ansichten in den wesentlichsten Punkten eine gewisse Übereinstimmung bekunden. Auch will ich gern gestehen, daß mir Ihre hochbegabte Feder bei meinen politischen Anschauungen in erster Linie als Lehrer gedient hat.«

Der Redakteur hatte indessen die beiden ersten Seiten gelesen und gab das Manuskript dem Verfasser mit kühler Höflichkeit zurück.

»Ich bedaure, von Ihrer Arbeit keinen Gebrauch machen zu können«, sagte er.

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« rief Stropp gereizt.

»Ich habe keine Zeit zu ausführlichen Erörterungen«, sagte der Redakteur, indem er sich wieder an seinen Platz setzte.

Stropp war aber durch die unerwartete Abweisung tief erbittert.

»Sie werden von Ihrem Verleger dafür bezahlt, daß Sie die Einsendungen gewissenhaft prüfen«, rief er wild. »Sie aber haben kaum zwei Seiten gelesen und wissen darum keine Gründe für Ihre Ablehnung anzugeben!«

»Gründe?« sagte der Redakteur heftig. »Gründe? Ihre Ideen sind aus meinem Leitartikel entnommen und in einer Sprache vorgetragen, die vielleicht ein neues Predigerdeutsch, jedenfalls aber ein schlechtes Deutsch ist.«

»Das werden Sie büßen!« sprach Stropp. »Es ist nicht ungefährlich, mich zum Feinde zu haben!«

Aber »Möller!« rief der Redakteur und fügte, als der Diener aus dem Nebenraum herbeieilte, ruhig hinzu:

»Dieser Herr kann die Ausgangstür nicht finden.«

Stropp stürzte mit vor Zorn völlig verzerrten Mienen davon und tobte unten eine Weile vor dem Hause auf und ab. Tausend Pläne durchkreuzten sein Hirn. Rachegedanken gegen den Redakteur, das Blatt und die Liberalen überhaupt mischten sich mit verzweiflungsvollen Entschlüssen in betreff seiner eigenen Zukunft. Seine jählings erschienene Hoffnung, die wenig erquickliche Verbindung mit den Wühlern aufzugeben, war mit diesem einen Schlage wieder verschwunden.

Endlich legte sich sein Zorn und machte einem kräftigen Hunger Platz. Stropp sah die Notwendigkeit ein, sich vor allem für die Gegenwart zu erhalten, um auch in Zukunft noch auf der Welt sein zu können. Er wußte, daß Bumcke des Sonntags in einem Restaurant, das der Redaktion gegenüber lag, sein Weißbier zu trinken pflegte, und mit verbissener Wut begab er sich in das Lokal, wo er mit einiger Sicherheit auf ein Mittagessen rechnen konnte.

Bumcke war zwar noch nicht da. Aber er kam wohl bald und zahlte dann gewiß die Zeche seines Genossen, von dessen Fluchtversuch er ja nichts wußte.

Das Gasthaus war ungewöhnlich stark besucht. Überall saßen lebhafte Gruppen von Männern zusammen, und man konnte aus einzelnen Worten im Vorübergehen erkennen, daß an jedem Tische über das große Schiffsunglück, über Schuld oder Unschuld der Behörden, über die Zahl der Toten und über die hochpolitischen Folgen des Ereignisses in erregtem Tone verhandelt wurde. Stropp mußte nach einem raschen Rundgang umkehren und an einem unbehaglichen Tische am Fenster, dicht neben der Tür, Platz nehmen, um allein bleiben und die Ankunft Bumckes sofort bemerken zu können. Dann ließ er auftragen und hatte in frohem Leichtsinn seine peinliche Lage vergessen, als er die Mahlzeit kaum mit einem Glase Kümmel begonnen hatte.

Inzwischen arbeiteten die beiden Redakteure ruhig an ihrem Blatte weiter.

Die Sonne schien so warm durch die Fenster herein, daß es schwer hielt, an dem Sonntagnachmittage hier beim Schreibepulte sitzen zu bleiben. Heinsius unterließ es auch nicht, in kurzen Pausen sich und die Welt zu verfluchen, die keine Gnade mehr hätte mit den müden Menschenkindern. Verdrossen schlichen die Setzerjungen mit den Korrekturabzügen aus der Druckerei herauf, mürrisch holte der Metteur die Anordnungen über die Einrichtung der Nummer, langsamer als sonst brachten die Telegraphenboten ihre Depeschen. Nur dem Chefredakteur merkte man die Sonntagsstimmung nicht an. Lebhaft und nervös ergriff und las er einen Bürstenabzug nach dem anderen, erteilte er seine Befehle und trieb sein Amt wie zum Vergnügen.

Es war spät geworden. Der Metteur drängte schon, die Redaktion zu schließen, und immer noch war die sehnlichst erwartete Depesche aus London nicht eingetroffen. Der Redakteur befahl zu warten, wetterte aber mit fröhlichem Ingrimm gegen den Kerl in London, der nicht das ABC von Journalistik verstände, wenn das Telegramm nicht binnen fünf Minuten da wäre.

Während der Scheltworte war eine alte, sauber, aber ärmlich gekleidete Frau eingetreten und hatte sich scheu in den Winkel neben der Tür gestellt.

»Was wollen Sie hier?« fuhr der Redakteur sie hart an.«Die Expedition ist unten. Hier wird nicht gebettelt!«

Die Frau, welche trotz des heißen Tages ein dichtes Wolltuch um den Körper geschlagen hatte, fuhr erschreckt zusammen und fing an zu weinen.

»Ach Gott, ach Gott«, wimmerte sie, »nehmen Sei't man nich üwel; äwer min Döchting ehr Mann hätt mi segt, ick sult man hier driefte rupp gahn. Ick wohne nämlich bi min Döchting, föredem min Sähn, min einzig Sähn, min Hans, up'n Schiff is. He heit Hans Lürsen. Un wil dat große Malühr passit is, möt ick hier nachfragen, ob min Sähn, min Hans...« Die Frau konnte vor Weinen nicht weiter sprechen.

Der Redakteur war schnell aufgestanden und führte die Frau zum Sofa.

»Setzen Sie sich mal nieder, Mutter«, sagte er herzlich. »Sie wollen wissen, ob Ihr Sohn gerettet ist, nicht wahr? Ruhen Sie ein wenig aus, das Telegramm muß bald hier sein, und dann können Sie sich selbst überzeugen. Setzen Sie sich nur!«

»Ick will jo girn täuwen«, rief die Frau. »Aewer ick heww de Telegramm nich liehrt. Ick kann't nich lesen.«

»Bleiben Sie nur, ich werde Ihnen schon vorlesen, was Sie wollen. Hans Lürsen heißt Ihr Sohn? Na, hoffen wir, daß er in der Liste der Geretteten gleich vorne drin steht.«

Die Frau faltete die Hände, und der Redakteur wandte sich seiner Arbeit zu. Wieder verging einige Zeit. Da brachte der Diener eine Karte herein: »Herbert Freiherr von der Egge« las der Redakteur.

»Ich bitte den Herrn einzutreten. – Meine Zeit ist gemessen. Was wünschen Sie?«

Der alte Freiherr war hochaufgerichtet eingetreten. Förmlich verneigte er sich und bat um die Erlaubnis, die Liste der Verunglückten, welche – wie man ihm berichtet – nirgends als in dieser Zeitungsredaktion eingetroffen sei, einsehen zu dürfen. Mit leise nachgebender Stimme fügte er hinzu, er habe einen jungen Verwandten auf dem Schiffe gehabt.

Der Redakteur bat, auf dem Sofa neben der alten Frau Platz zu nehmen.

»Sie wünscht auch Nachricht zu haben, ihr Sohn war auf dem Schiff«, fügte er erklärend hinzu.

Der Freiherr nickte.

»Ich habe nur noch zu bemerken, daß ich Ihre Zeitung niemals lese, daß ich als ein streng konservativer Mann zu den Feinden Ihrer Partei gehöre. Da ich aber anderswo vergebens anklopfte...«

»Ich bitte, mein Herr«, unterbrach ihn der Redakteur. »Sie suchen ja bei uns auch heute nicht politische Belehrung. Ihre Gesinnungen sind uns völlig gleichgültig. Entschuldigen Sie mich jetzt.«

»Das ist ja das Große an einem wahrhaft nationalen Ereignis«, rief Heinsius herüber, »sei es Glück oder Unglück, daß es die Nation einigt und Menschen zu Menschen führt...«

»Sehr gut, Heinsius«, sagte der Redakteur. »Das können Sie morgen in einem Entre-Filet verwerten. Bitte, jetzt die Korrektur der letzten Börsendepesche.«

Und wieder wurde es still. Der Freiherr setzte sich neben Frau Lürsen und drückte ihr zum Gruße die Hand. Der Alten kamen darüber wieder die Tränen in die Augen. Sie begann leise von ihrem Hans zu erzählen, wie er gleich seinem Vater hätte Schiffszimmermann werden sollen, wie er aber einer unglücklichen Liebe wegen fort gewollt und endlich trotz aller Bitten Matrose geworden wäre. Jetzt sei der Vater des Mädchens herübergekommen, habe viel Geld samt seinem alten Stolze eingebüßt und würde ihren Hans gern als Schwiegersohn annehmen. Der Hans wollte übers Jahr wieder nach Hause kommen, um zu heiraten, und jetzt... man hörte bald nichts mehr als das unterdrückte Weinen der Alten.

Und wieder brachte der Diener eine Karte mit dem Namen eines Freiherrn von der Egge.

Fast freudig erregt, mit eleganter Verbeugung, trat Kurt ein. Der Redakteur wies auf den alten Freiherrn, der sich bei Kurts Erscheinen jäh von seinem Sitz erhoben hatte.

»Wollen Sie mit Ihrem Herrn Verwandten warten. Sie sorgen wahrscheinlich um dasselbe Familienmitglied.«

Kurt wollte auf den Alten zugehen; als er ihn aber ansah, traf ihn aus den scharfen Augen ein zorniger Blick, der ihn zum Stehen brachte. Kurt versuchte umsonst, aus seinen Mienen den Ausdruck der Ungeduld und Hoffnung zu verbannen. Es gelang ihm nicht. Er fühlte, wie er unter dem Blicke des alten Freiherrn errötete und wandte sich ärgerlich ab.

»Mit Ihrer Erlaubnis«, sagte er nach einigem Zögern höflich lächelnd zum Redakteur, »werde ich auf der Straße auf und ab gehen, bis das Telegramm eintrifft, und mir dann einen Abzug holen lassen. Adieu!«

Wieder wurde es still. Der Metteur kam wieder herauf und drängte zur Eile. Die Setzer wären nicht mehr zu halten, sie machten schon Feierabend.

Plötzlich hörte man ein lautes Geräusch auf der Treppe. Die Tür wurde aufgestoßen und ein Arbeitsmann stürzte atemlos herein. Mit weit aufgerissenen Augen, mit zitternden Knien blieb er eine Weile stehen und fiel dann wie bewußtlos zu Boden. Rasch aber richtete er sich wieder auf, rang röchelnd nach Atem und stöhnte ein Wort hervor, das niemand verstand. Dann hörte man wieder auf der Treppe laufen und schreien. Da nahm der Mann seine Kraft zusammen und »Attentat!« kreischte er, daß es grell durch das Haus tönte.

Schon stürmten andere Leute herein. Bedienstete der Druckerei, Fremde, Leute aus dem Volke und vornehme Herren füllten das Zimmer. Alle sprachen, schrieen, fragten und erzählten durcheinander. Es war nur soviel zu verstehen, daß jemand auf das greise Haupt geschossen und daß die Kugel getroffen habe.

Der Redakteur war im ersten Augenblick wie betäubt sitzen geblieben.

Dann richtete er sich energisch empor und donnerte:

»Möller! Hinunter zum Metteur. Alle Leute müssen hier bleiben, ohne Widerrede! Es muß ein neues Blatt herausgegeben werden. Und Sie, meine Herren, alle hinaus! Hinaus, sage ich, wer nicht für unsere Zeitung etwas zu berichten weiß!«

Aber keiner der Leute wollte gehen, alle wollten hören und sprechen.

Der Redakteur überschrie den Tumult:

»Machen Sie mich nicht rasend! Glauben Sie denn, es wäre eine Kleinigkeit, durch die fürchterliche Nachricht wie jeder von Ihnen ergriffen zu sein und doch hier als Redakteur seine fünf Sinne beisammen behalten zu müssen? Aber ich bin hier in meinem Berufe und will mich nicht stören lassen. Hinaus! Ob Dienstmann oder Geheimrat – ist mir ganz einerlei! Die ganze Bevölkerung wartet auf unser Extrablatt! So lange muß jeder einzelne mit seiner Neugierde warten! Gehen Sie doch! Sie haben es ja besser als ich. Sie dürfen Ihrem Herzen Luft machen. Ich muß meine Ruhe bewahren, ich bin ja Journalist!«

Niemand rührte sich. Alle wollten etwas gesehen haben.

»Heinsius«, schrie der Redakteur, »halten Sie mir die Leute vom Leibe! Fragen Sie sie aus und lassen nur den zu mir herein, der etwas zu berichten weiß.«

Heinsius drängte die Leute hinaus, und der Redakteur setzte sich an die Arbeit. Die erste Feder, die er ergriff, zerbrach in seiner zitternden Hand. Aber er faßte sich und begann zu schreiben. Einer nach dem andern wurde zu ihm eingelassen, und während die Zeugen der Tat und der folgenden Ereignisse an seinem Tisch einander ablösten, fügte der Redakteur geschäftig eine Notiz zur anderen.

Der Arbeitsmann, der zuerst mit der Schreckensnachricht erschienen war, wurde zuerst vernommen. Er war Augenzeuge gewesen, in rasendem Lauf nach dem Redaktionsbureau gestürzt und erbat für seine Eile ein Geldgeschenk.

Ein Photograph hatte in dem Augenblick, da der Schuß fiel, auf seine Uhr gesehen; er konnte die Zeit bis auf eine halbe Minute genau angeben. Er bat aber, daß man in dem Bericht seinen Namen nenne und womöglich seine Adresse hinzufüge, damit die Behörde von ihm die Zeitangabe genau erfahren könne.

Dann kam ein Student. Er stand im Augenblick der Tat neben dem Wagen und war unwillkürlich hinzugesprungen, um das bedrohte Leben mit dem seinen zu schützen. Man hatte ihn freundlich fortgewiesen, aber das Blut des Verwundeten hatte er aus einer der Wunden mit diesen seinen Augen fließen sehen und sah es noch fließen, da, da, da! Solang er lebe, werde er nichts weiter sehen und nichts weiter rufen als: »Rache für dieses Blut!«

Wieder zerbrach eine Feder in der Hand des Redakteurs.

Freiherr von der Egge und die alte Frau, die unbehelligt im Zimmer geblieben waren, standen auf. Der Freiherr schlug seine Hände vors Gesicht und rief erschüttert: »Sein Blut, sein heiliges Blut!«

Frau Lürsen starrte nur immer in die entsetzten Augen des Jünglings und wimmerte:

»Sind sie alle tot? Ist min Hans auch tot?«

Dann kam ein Reporter. Dieser Mann lebte von seinen Nachrichten über Verbrechen und Unglücksfälle. Seit Jahren hatte ihn in seinen Träumen die dunkle Vorstellung verfolgt, wie sich etwas Entsetzliches ereignete, er zugegen war und nun seine ganze Zeitung mit dem Berichte füllen konnte. In der Redaktion hatte man ihn oft mit jenen Phantasien geneckt. Und nun saß er da mit zuckenden Lippen. Er, ein Reporter, hatte den Schuß selbst gehört, war herzugeeilt und hatte einige der beteiligten Personen gesprochen. »Fünfhundert Druckzeilen!« hatte er kaum verständlich einige Male gerufen, als er das Bureau betrat. Jetzt sollte er dem Redakteur seinen Bericht abstatten. Die Lippen zuckten immer heftiger, plötzlich stieß er einen erschütternden Schrei aus, ein Weinkrampf bemächtigte sich seiner und mit dem Notizbuch in der einen, dem Bleistift in der anderen Hand saß er da, schluchzte und war keines Wortes, keiner Bewegung fähig.

»Kein Journalistenblut«, rief der Redakteur, während er emsig weiter schrieb. »Mir geht's gerade so wie ihm. Aber ich werde erst morgen krank werden. Heute ist keine Zeit dazu. Hinaus mit ihm! Heinsius, den Nächsten!«

»Komödiantenelend!« murmelte der Mitarbeiter, während er den Reporter fortführte. »Wir alle sind Schauspieler, die deklamieren müssen, wenn auch gerade unser Liebstes mit dem Tode ringt.«

Rasch vernahm der Redakteur die andern. Ein Steinträger kam an die Reihe, ein armer Arbeiter, der sogar an diesem Sonntag auf einem Hofe gegenüber dem Tatorte hatte Ziegel schleppen müssen. Er sagte, was er wußte. Als er fertig war, fragte er zögernd, ob man erfahren könne, wie es dem Verwundeten gehe. Der Redakteur zuckte die Achseln. »Der arme alte Mann«, sagte der Steinträger und fuhr sich über die Augen.

Der wohlbekannte Herausgeber eines Witzblattes erschien. Noch nie hatte man den übermütigen Menschen traurig oder auch nur ernst gesehen; heute zitterten seine Hände vor Erregung und die Tränen liefen auch ihm unaufhaltsam über seine dicken, roten Wangen herunter, als wenn ihm ein Kind gestorben wäre. Der Wagen mit dem blutenden Herrn war langsam an ihm vorübergefahren.

Inzwischen war die Unglückstat in der Stadt bekannt geworden und aus weiten Entfernungen kamen Anfragen und Nachrichten in das Bureau der Redaktion. Wer nur immer irgendeine Verbindung mit dem Blatte nachweisen konnte, kam oder sandte einen Boten. Man wollte sich an der Quelle erkundigen.

Immer dichter wurde die Menschenschar in den sonst so stillen Räumen. Immer schwerer wurde es, die Zudringlichen hinauszuweisen. Ein jeder, der einmal eine Wohnungsanzeige hatte einrücken lassen, nannte sich Mitarbeiter. Ein jeder führte sich als alten treuen Abonnenten ein, der Rücksichten verlange, ein jeder berief sich auf einen Redakteur, einen Beamten, einen der Verleger, stellte sich als deren Freund vor und suchte seinen Platz zu behaupten.

Heinsius, der den Verkehr zwischen dem Redakteur und der Druckerei aufrecht zu halten hatte, bat, drohte umsonst. Jeder Setzerjunge, der sich mit einem Fahnenabzuge der neuesten Nachrichten zum Chef durchdrängen wollte, wurde aufgehalten, ausgefragt und, wenn der Hilflose nicht seine Ellenbogen brauchte, schließlich seines Blattes beraubt.

Politische Parteien fingen an, sich zu bilden. Die Folgen des Meuchelmordes wurden heftig erwogen, auch das Urteil über die Motive der Tat gingen auseinander. Wer sich Gehör verschaffen wollte, stieg auf einen Tisch. Wer antworten wollte, riß den Redner herunter. Bald hörte niemand mehr auf einen andern als sich selbst.

Aus dem Setzersaale hörte man die Kommandorufe des Metteurs, der auch dort Mühe hatte, sich den aufgeregten Leuten verständlich zu machen. Aus der Stereotypie erklang einförmig das dumpfe Klopfen der Holzhämmer, mit welchen die fertigen Kolumnen für die Matrizen vorbereitet wurden. Von unten, aus dem zweiten Hofe, ertönte das Brausen und Stoßen der Dampfmaschine, welche bereits die wenigen Zeilen des ersten Extrablattes zu drucken begann.

Nur in dem letzten Zimmer, in welchem der Redakteur jetzt hinter verschlossener Tür, die nur Heinsius bei den wichtigsten Nachrichten öffnen durfte, arbeitete, war es still. Der Redakteur sah und hörte nichts, was nicht sein Blatt betraf. Einmal stellte der Diener ein Glas Wein neben den Schreibenden. Der Redakteur, aufgestört, starrte eine Weile darauf hin; dann faßte er es, schleuderte es in die Ecke und schrieb weiter.

Auf dem Sofa saßen die beiden Alten noch immer geduldig nebeneinander. Frau Lürsen zitterte am ganzen Leibe und fragte dann und wann flüsternd nach ihrem Sohne. Der Freiherr hielt ihre Hand fest und schwieg.

Von Zeit zu Zeit drang von der Straße her ein wachsender Lärm herauf.

Hier waren die ersten Exemplare des Extrablattes sichtbar geworden und ein ungeheurer Menschenstrom schickte sich an, die Expedition zu stürmen. Die eisernen Tore wurden geschlossen und stoßweise stürzten Gruppen von zwanzig, dreißig Menschen hinein, um die frischen, von Dampf und Druckerschwärze noch feuchten Papiere zu erlangen. Zeitungsausträgerinnen, die von ihren Lohnherren hergesandt waren, arme Jungen, die ihren Eltern einen kleinen Nebenverdienst nach Hause bringen wollten, fliegende Kolporteure begehrten gleich Hunderte von dem Extrablatt und wanden sich mit ihrer Beute durch die Massen, sofort im dichtesten Gedränge mit ihrem Handel beginnend.

Männer und Frauen aus allen Stadtteilen, aus allen Gesellschaftsschichten drängten sich mit hindurch, ein Blatt zu erhaschen und schwarz auf weiß zu lesen, was ihnen jedermann auf der Straße zuschrie.

Schon wenige Schritte von dem Eingange zur Expedition war es ruhiger. Man fühlte die Schwere des Ereignisses. Wohl riefen die Leute in Zorn und Schrecken einander zu, wohl strömten von allen Seiten immer Neue hinzu, die fragten und berichteten, aber kein Witzwort ließ sich hören, kein Streit entstand. Nur von der Stelle rühren wollten sich die Leute nicht.

Wer in die Redaktion zu eilen suchte, hatte einen schweren Stand. Sofort war er umringt und mußte sich durch irgendein Gerücht, eine Neuigkeit, ein Wort des Urteils loskaufen.

Auch die Telegrafenboten wurden aufgehalten. Umsonst beriefen sie sich auf ihre Pflicht, die ihnen Schweigen auferlegte. Man witterte in jedem Telegramm ein neues Unheil.

Wieder kam ein Telegrafenbote daher, eiliger als die andern. Wieder wurde er umringt. Aber fluchend riß der Mann sich los. Er bringe ein Telegramm, worauf die Redaktion schon seit vielen Stunden warte. Über das verlorene Panzerschiff.

»Was ist verloren?« schrie es von allen Seiten.

Die Leute hatten die schreckliche Nachricht vergessen.

In großen Sätzen flog der Bote die Treppe hinauf und gab dem Diener das Papier ab. Das Amtsgeheimnis verbot ihm, den Inhalt des Telegramms zu kennen, aber mit den Augen zwinkernd sagte er doch: »Das wird das richtige aus London sein!«

»Das Londoner Telegramm!« rief der Diener und im Nu hatte Heinsius es ihm aus der Hand gerissen und geöffnet. Es enthielt die lange Liste der Männer, welche bei dem Schiffsunglück mit dem Leben davongekommen waren.

Heinsius eilte mit dem Blatte zum Redakteur. Dieser wehrte nur mit der Hand ab. Er hatte jetzt keinen anderen Gedanken als das Attentat. Und schon wollte Heinsius die Depesche ungelesen in die Druckerei hinunterschicken, als er ein absichtliches Räuspern hörte.

Der alte Freiherr war aufgestanden, auch die Frau neben ihm erhob sich und fragte wohl zum hundertsten Male:

»Ist es das?«

Heinsius besann sich erst wieder, was der Wunsch der beiden alten Leute war, und reichte dem Freiherrn das Telegramm hin.

»Da«, sagte er, »lesen Sie die Namen durch.«

Der Freiherr ergriff das Blatt und sank wieder auf das Sofa nieder. Die Frau Lürsen setzte sich neben ihn und tröstete, er solle doch nun endlich lesen, es würden doch nicht alle tot sein. Aber laut lesen, bat sie, laut lesen. Sie könne sonst nichts erfahren.

Da faßte sich der Freiherr und nahm das Papier vor die Augen. Frau Lürsen konnte zwar richtig die steilen lateinischen Buchstaben nicht lesen, aber sie rückte doch nahe heran und blickte mit äußerster Spannung mit hinein.

Mit schwacher, scheinbar ruhiger Stimme begann der Freiherr zu lesen. Erst eine allgemeine Mitteilung, dann die Namen aller Geretteten nach einer amtlichen Quelle. Es kamen die Namen einiger Offizieren, dann die der übrigen in bunter Reihe. Noch hatte der Freiherr nicht lange gelesen, da kam plötzlich – ohne daß er selbst es beachtete – der Name »Hans Lürsen« über seine Lippen.

Mit einem Jubelruf, den man dem schüchternen Mütterchen nicht zugetraut hätte, sprang die Frau auf. Sie lief auf den Redakteur zu und küßte dem Überraschten die Hand, bevor er ihr wehren konnte. Dann eilte sie hinweg, schlug ein über das andere Mal die Hände zusammen und rief auf der Treppe, auf den Höfen und auf der Straße ununterbrochen:

»He leiwt! Min Hans leiwt!«

Sie hatte kein Wort für den Freiherrn, der unbekümmert um das Glück der Nachbarin mit lauter Stimme weiter las. Immer weiter kam er in dem Telegramme, eigentlich hatte er mit den Augen auch schon die letzte Zeile überflogen, aber immer noch fand er den Namen seines Bruno nicht. Langsamer, immer langsamer buchstabierte er die letzten Zeilen, die letzten Worte des Telegramms, dann schloß er die Augen und ließ die Arme sinken.

Heinsius, der noch neben ihm stand, nahm dem tief erschütterten Manne das Blatt mitleidig aus der Hand und gab dem Diener einen Wink, es hinunterzutragen.

Der Freiherr blieb unbeweglich auf seinem Platze sitzen. Vor ihm her ging das Treiben der Redaktion weiter. Er stierte zu Boden und suchte vergebens nach einem Troste. Die Arbeit seines Lebens war umsonst getan. Der Erbe von Eggerwitz war tot. Plötzlich entstand ein heftiger Streit im Nebenraume.

Da hob der Freiherr sein weißes Haupt und schaute sich verwundert um. Er hatte vergessen, wo er sich befand.

Jetzt stand er auf, drückte dem Redakteur seinen Dank aus und wollte mit festen Schritten das Zimmer verlassen. An der Tür begann er zu wanken. Heinsius trat teilnehmend hinzu und sagte:

»Der andere Herr von der Egge erwartet Sie wohl unten?«

Der Alte hörte nicht und ging.

Auf der engen Hintertreppe hielt er still. Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Brust. Wohl versuchte er, als jemand die Stufen heraufeilte, wieder seine feste Haltung anzunehmen. Aber schon nach wenigen Sekunden sank sein Kopf auf die Brust herab und endlich brachen unter heftigem Schluchzen die Tränen hervor. Niemand sah ihn weinen. Denn immer wieder bezwang sich der Alte, sooft jemand vorüberkam, und außerdem kümmerte sich kein Mensch um die Trübsal der einzelnen. So hatte der Freiherr vollauf Zeit, sich auf der Treppe seinem Schmerze hinzugeben und erst dann vollends hinabzugehen, da er sich wieder Herr seiner selbst glaubte.

Als er auf dem Hofe stand und vor dem Hause das kaum nachlassende Gewühl bemerkte, fiel ihm wieder das Unglück ein, das heute alle Welt bewegte. Er suchte die Erinnerung daran festzuhalten. Und während er düster auf und ab schritt und wartete, bis der Menschenhaufe sich lichten würde, wollte er sich immer wieder durch die Größe der nationalen Gefahren über sein persönliches Leid erheben.

Er richtete sich hoch empor und suchte mit stolzem Blick die ängstlichen Menschen vor ihm zu überschauen. Immer aber wieder sank sein Haupt nieder, mühsam hielt er sich aufrecht und stammelnd kam es über seine Lippen: »Armer Bruno! Armes Eggerwitz!«


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