Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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XII.

Heinrich versuchte es nicht, die Geliebte öfter als bisher oder gar heimlich zu sehen. Erst heute abend wieder, wo man ihn gewiß im Auenheimschen Hause erwartete und wo er auch den Freund dort anzutreffen hoffte, wollte er ihr wieder in die Augen blicken.

Es war Nachmittag; Heinrichs Sprechzimmer war noch immer nicht leer, trotzdem die festgesetzte Stunde längst verstrichen war. Die gesteigerte Tätigkeit freute den jungen Arzt, weil sie ihm ein günstiges Zeichen für seine Zukunft zu bedeuten schien.

Wenn Clemence auch nicht nach seiner Stellung unter den Kollegen fragte, so gab ihm doch der Zulauf der Hilfesuchenden ein erhöhtes Selbstvertrauen. Selbst die Eitelkeit erwachte in ihm, und er wünschte nichts sehnlicher, als das geliebte Mädchen zum Weibe eines recht angesehenen und in seinem Berufe hervorragenden Mannes zu machen.

Jetzt entstand eine kleine Pause, und Heinrich glaubte schon, es wäre genug für heute, als leise eine alte Frau eintrat. Sie hätte gern dem alten Herrn den Vortritt gelassen, sagte sie, der schon seit einer halben Stunde draußen wartete, aber der seltsame Herr wollte durchaus der Letzte sein.

Heinrich dachte nichts Arges und schrieb der Frau die Vorschrift zu ihrer Arznei auf. Dann ging auch sie. Es klopfte, und mit feierlichem Schritt trat der Freiherr in das Sprechzimmer.

Errötend sprang Heinrich von seinem Stuhle auf und rang nach Fassung. Er hatte geglaubt, die Entscheidung bis zum Sonntag hinausschieben zu können, und nun kam sie ungerufen über seine Schwelle.

Der Freiherr wartete schweigend ab, bis Heinrich endlich Worte fand, ihn zu begrüßen und zum Sitzen einzuladen.

»Ich bin natürlich nicht krank, Herr Doktor«, sagte er dann langsamer mit seinem grimmigen Lächeln, »ich komme in Familienangelegenheiten zu Ihnen.«

»Sie sind mir zuvorgekommen«, entgegnete Heinrich, »ich hatte die Absicht, am nächsten Sonntag vor Ihnen zu erscheinen und Sie um die Hand Ihrer Enkelin, die Hand von Fräulein Clemence von Auenheim zu bitten.«

»Das ist eine ganz neue großstädtische Angelegenheit«, rief der Alte, »und ich zog es vor, hierher zu kommen und selbst die Augen aufzumachen. – Sie wohnen hübsch, und wie ich sehe, haben Sie schon recht viele Patienten. Clemence ist also, wenn sie Sie heiratet, vor Nahrungssorgen geschützt?«

Heinrich, dem das Blut wieder in die Wangen stieg, beeilte sich, sehr ernsthaft seine Verhältnisse zu erklären. Er sei wohlhabend genug, um auch ohne Beruf und Einkommen ein bürgerliches Haus führen zu können. Auch sei er noch jung und habe das Recht, auf Grund einiger kleiner Erfolge die Professur oder eine andere Verwendung durch den Staat anzustreben. Clemence zuliebe würde er es nicht verschmähen, einen Titel zu suchen. Wenn aber seine zukünftige Gattin gleich ihm empfinde, so werde er den Beruf eines praktischen Arztes, besonders den Beruf eines Armenarztes niemals aufgeben.

Ein humoristischer Zug erheiterte für einen Augenblick das harte Antlitz des Alten.

»Meine Bemerkung war nicht so schwerwiegend, wie Sie glauben«, sagte er. »Ein Kind unserer Familie kann standesgemäß leben, auch wenn sein Gatte zufällig keinen Erwerbszweig besitzt.«

»Mir aber kam viel darauf an«, erwiderte Heinrich fast streng, »daß ich aus eigener Kraft eine Familie standesgemäß, das heißt nach den Ansprüchen meines bürgerlichen Standes, erhalten kann.«

Eine Pause trat ein, während der Alte mit überlegenem Stolze den Arzt betrachtete.

»Es ist besser, Herr Doktor«, sagte er dann, »ich teile Ihnen gleich den Zweck meines Besuches mit, sonst geraten wir am Ende noch in Streit, und meine gute Absicht wird vernichtet.«

Heinrich horchte auf und fühlte, wie bei den milde gesprochenen Worten sein Trotz verschwand. Er sagte mit bittendem Tone:

»Ich mußte Sie für meinen Gegner halten.«

»Ich bin es auch in gewissem Sinne. Ich hätte Ihre Bewerbung rundweg abgewiesen, wenn Sie nicht eine mächtige Verbündete gehabt hätten. Ich will kurz sein, Sie sind wohl ungeduldig, das letzte Wort zu vernehmen. Ich habe heute mit Clemence eine lange Unterredung gehabt und versucht – dies muß ich Ihnen gestehen –, die junge Aristokratin gegen die allzu bürgerliche Liebe ins Treffen zu führen. Es ist mir schlecht gelungen. Clemence nannte sich Ihre Braut; sie habe sich von Ihnen einmal küssen lassen und gehöre Ihnen für Zeit und Ewigkeit an. Ich will nicht fragen, ob es recht von Ihnen war, ein unbewachtes junges Mädchen zu überrumpeln...«

Heinrich fuhr zornig auf.

»Ich bitte, nicht solche Worte! Sie kennen ihre Enkelin schlecht! Fräulein Clemence von Auenheim ist nicht das erste beste Mädel, das sich von einem Manne überrumpeln läßt. Was immer Clemence tut, erfordert Achtung.«

»Es war nicht so schlimm gemeint«, sagte der Alte abermals begütigend, indem er Heinrich die Hand reichte. »Und es ist brav von Ihnen, daß Sie die Clemence in Schutz nehmen, anstatt sich auf die Mutter zu berufen, die ja mit Ihnen im Einverständnis war. Meine arme Tochter hatte mein Wort, ihr allein haben Sie meine Nachgiebigkeit zu verdanken. Ja, Herr Doktor Heinrich Wolff, unter bestimmten Bedingungen willige ich ein, daß meine Enkelin Clemence Ihre Frau wird. Erfüllen Sie diese Bedingungen nicht, so mag Clemence mit Ihnen glücklich werden, von ihrer Familie aber hätte sie sich dann losgesagt.«

Heinrich schüttelte beide Hände des Alten, keines Wortes mächtig. Endlich stammelte er:

»Sprechen sie! Was die Mannesehre gestattet, will ich tun. Und etwas anderes werden Sie nicht verlangen!«

Der Alte rückte mit seinem Stuhle näher heran und legte zutraulich die Hände auf Heinrichs Knie.

»Die erste Bedingung ist so selbstverständlich«, sagte er, »daß auch Clemence an die Erfüllung derselben mit Sicherheit glaubt, und doch weiß ich nicht, wie ich Sie überreden soll, wenn Sie nicht gern, nicht ohne jedes Zureden, darauf eingehen. Es ist ein seltsamer Fall. Die Forderung verstößt wirklich in dem Augenblicke gegen Ihre Mannesehre, in welchem Sie zögern. Sagen Sie aber freudig ja, so ist die größte Schwierigkeit beseitigt.«

Heinrichs Auge leuchtete.

»Sie meinen den Übertritt zum Christentum, zum evangelischen Christentum, den das tiefe Gemüt meiner Clemence sich so einfach vorstellt. Ich will Ihnen die volle Wahrheit über meine religiösen Empfindungen nicht vorenthalten, Herr von der Egge. Ein Christ nach den Worten ihrer orthodoxen Prediger kann ich, werde ich niemals sein. Wenn Sie von mir verlangen, daß ich als Mitglied Ihrer Familie heuchlerisch Anschauungen betätigen soll, die dem Geiste unserer Wissenschaft und unserer großen Dichter widersprechen, so sage ich nein, und sollte mein Lebensglück darum vernichtet werden. Wenn Sie sich aber damit begnügen, daß ich jeden Zusammenhang mit den Lehren und Gebräuchen des Judentums von mir weise, daß ich mich mit Freuden einen Christen nenne und mich zum Evangelium im Sinne Lessings und seiner Nachfolger bekenne, wenn Sie sich mit einem Herzenschristen begnügen, so schwöre ich Ihnen, daß ich so schon lange dachte, bevor die Liebe zu Clemence mich allein bewegen konnte, auch äußerlich überzutreten. Sie werden begreifen, Herr von der Egge, daß unter uns Männern eine intimere Vertiefung dieses Gespräches schwer angeht. Ich will meiner Braut weitere überzeugende Aufklärungen geben, Schriften aus meiner Knabenzeit, die meine alte Zugehörigkeit zur Christenheit beweisen sollen. Wenn Sie auf meinem Standpunkt stehen, so werden Sie mir glauben; wenn nicht, so ist eine Verständigung zwischen uns doch nicht möglich.«

Der Freiherr hatte sichtlich überrascht Heinrichs Glaubensbekenntnis vernommen.

»Ich glaube, ich stehe auf Ihrem Standpunkt«, sagte er langsam, »die alte Gewohnheit mag es verschulden, daß wir uns unseren eigenen Glauben nicht so klar machen können wie Euer einer. Sie sind mir näher, viel näher getreten durch ihre ehrlichen Worte. Und so gestatten Sie mir noch eine Frage. Sie sagen sich feierlich vom Judentum los, Sie teilen mir mit, daß Sie sich schon seit Jahren einen Christen nennen dürfen. Und wirklich muß ich gestehen, daß ich für Sie und die Handelsjuden, mit denen ich allein in meinen Gutsangelegenheiten zu tun gehabt habe, kein gemeinsames Kennzeichen finden kann. Warum aber, das ist meine Frage, warum haben Sie denn bis heute gezögert, zum Christentum überzutreten? Warum mußte Ihnen erst die Liebe zu einer Christin den Anlaß geben?«

Heinrich schwieg eine Weile. Endlich sagte er lächelnd: »Ich muß meine Worte vorsichtig setzen, weil Sie mir vielleicht kein Recht zugestehen, Kritik zu üben, wo ich einfach zu wählen habe. Nur so viel müssen Sie mich sagen lassen: ich sprach nicht vom Christentum, sondern von der Christenheit. Das Christentum umfaßt eine Anzahl positiver Religionen, von denen sich unsere geistigen Führer losgesagt haben. Blicken sie doch nur in Ihren Bücherschrank zu Hause oder in den meinen. Sie werden wohl hier und dort dieselben Dichter finden, welche kein Prediger auf ihren Glauben hätte prüfen dürfen. Die Christenheit umfaßt dagegen als Kulturerscheinung unsere zivilisierte Welt. Ihr gehört ein jeder an, an welchem die Jahrhunderte unserer Zivilisation nicht spurlos vorübergegangen sind, ob er sich nun einen Juden, einen Atheisten oder einen Buddhaisten nennen will. Der Christenheit gehört der größere Teil unserer deutschen Juden an, alle leider nicht. Es liegt also für uns gar kein Anlaß vor, auch äußerlich einen Schritt zu tun, der so häufig von Unwürdigen getan und darum verdächtig geworden ist. Da wir nun aber in einer Zeit leben und in einem Lande, in welchem ein Nachteil mit der alten Konfession nicht mehr verbunden ist, so genügt der Wunsch einer Braut, um uns die Form des öffentlichen Übertritts gern wählen zu lassen. Glauben Sie mir, erst seitdem kein Vorteil mehr dabei zu holen ist, lassen sich Juden taufen, ohne daß ein Nachteil für sie selbst und für das Christentum daraus erwächst. Würde die unheilvolle Zeit je wiederkommen, in welcher neben vielem anderen Unrecht auch die Verfolgung der Juden möglich war; würde der Narr, der mir jüngst von einer Wiederbelebung des alten Hasses sprach, eine Gefolgschaft finden können: so würde kein ehrenhafter Jude sich mehr von seinen Stammesgenossen trennen. Die Knechtschaft, der Mangel an Gastfreundschaft allein hat das Judentum durch die Jahrtausende erhalten. Die volle Freiheit allein wird es dem Christentume in die Arme führen.«

Der Freiherr schüttelte den Kopf.

»Seltsam, seltsam!« sagte er. »Ich bin durch ihre Erklärungen völlig zufriedengestellt, mehr, als ich erwartet hatte. Und doch muß ich darüber staunen, daß Sie bei Ihrem vorurteilslosen Blick für das Gute und Schlimme sich noch soviel Pietät für das alte Judentum bewahrt haben. Mehr, als Sie selbst vielleicht wissen! Wie kann diese Religion mit ihrem phantasielosen Gottesbegriff, mit ihrem kahlen und kalten Wesen, mit ihren dürren Gesetzen eine so große Anhänglichkeit sich verschaffen?«

»Sind Sie nicht ein Märker?« sagte Heinrich. »Nun, der Boden der Mark ist sandig und unfruchtbar, ist der Spott aller Nachbarländer, erfordert doppelte Arbeit und ist reizlos für die meisten Maler. Haben Sie ihr Eggerwitz nicht dennoch lieb? Ich bin mir nun zwar keiner allzu warmen Pietät für's Judentum bewußt. Wenn es aber verhöhnt wird, dann mag wohl ein gewisser Zorn erwachen, wie auch jeder Märker dem wohlfeilen Hohne gegenüber seinen heimischen Sand verteidigt.«

Der Freiherr nickte und sprach:

»Die erste Bedingung ist also erfüllt, besser erfüllt, als man hoffen durfte. Die zweite ist ganz anderer Art; sie wird Ihnen lästig fallen, aber ich muß fest auf ihr bestehen, Clemence hat sich bereits für Sie beide unterworfen. Sie sollen Clemence ein Jahr lang nicht sehen und ihr auch nicht schreiben.«

»Und warum das?« rief Heinrich schmerzlich bewegt.

»Trotz alledem und alledem«, sagte der Alte, »würden wir – mein Schwiegersohn und ich – nur aus Rücksicht auf eine unbesiegbare Leidenschaft des Mädchens unsere Einwilligung zu einer solchen Heirat geben. Die Gründe brauche ich Ihnen nicht mitzuteilen: den unausgesprochenen werden Sie vielleicht beipflichten, die ausgesprochenen müßten Sie verletzen. Und da scheint mir die Prüfungszeit nur sehr kurz bemessen. Wenn Clemence nach Ablauf dieser Zeit und ohne von Ihnen bestürmt worden zu sein, bei ihrem Entschlusse beharrt, so soll die öffentliche Verlobung feierlich auf dem Familiengute Eggerwitz begangen werden. Bis dahin darf niemand etwas wissen. Eingeweiht ist außer den Liebenden und mir nur ihr Freund Victor. Nebenbei bemerkt – auch mein Schwiegersohn braucht vor der Hand nichts zu erfahren. Er könnte alles verderben.«

Langsam und feierlich reichte der Freiherr seine rechte Hand herüber. Entschlossen schlug Heinrich ein und beide erhoben sich. Lange standen sie Hand in Hand einander gegenüber, die stolzen Gestalten hoch aufgerichtet; die Augen blickten ernst einander an und nach und nach, so wie der Druck der Hände wärmer und inniger wurde, schauten auch die Augenpaare liebevoller ineinander.

»Kommen Sie«, sagte endlich der Freiherr. »Clemence hat mein Herz besiegt, Sie mein Vorurteil. Kommen Sie zu Clemence. Sie müssen von Ihr für ein Jahr Abschied nehmen.«

 

Nichts schien sich im Auenheimschen Hause geändert zu haben. Nur Clemence fuhr mit glühendem Erröten empor, als Heinrich nun am Arme des Großvaters das väterliche Haus betrat. Aber schnell senkten sich ihre Blicke wieder. Sie eilte dem Alten entgegen und küßte ihm ehrerbietig die Hand.

Erst als Victor hinzukam, der die übrige Gesellschaft absichtlich beschäftigte, vermochte Heinrich sich dem Mädchen zu nähern.

Sie saß allein neben dem Klavier und kramte in den Noten. Als sie ihn herantreten sah, grüßte sie ihn mit den Augen, wagte aber nicht zu sprechen. Ihre rechte Hand lag unbeweglich in einem großen Notenhefte. Da begann auch Heinrich Noten zu suchen. Seine Hand geriet genau in dasselbe Heft, zwischen dieselben Blätter, und als die Hände sich gefunden, sagte Heinrich leise: »Meine Braut!« und Clemence antwortete nichts als »Heinrich!«

Dann zog Clemence ihre Hand zurück, hieß Heinrich neben sich Platz nehmen, spielte mit der linken Hand ein paar Töne auf dem Klavier und sagte halblaut mit scheinbarer Ruhe, so daß ihr Gespräch von den anderen nicht beachtet wurde:

»Als ich Dich mit Großpapa eintreten sah, wußte ich: jetzt ist er mein! Es war wohl eine schwere Stunde für Dich? Ich fürchtete, Großpapa könnte Dich im Jähzorn kränken.«

»Wir sind als gute Freunde geschieden«, erwiderte Heinrich. »Freilich, es ist hart, Dich ein Jahr nicht sehen zu dürfen.«

»O sprich nicht davon, Heinrich! Das ist kein Opfer! Ist es nicht schön, daß wir unsere Liebe einer Probe unterwerfen dürfen? Daß wir das himmlische Glück, das uns so in den Schoß gefallen ist, wenigstens durch diese Entsagung verdienen dürfen?«

»Ich würde es hier nicht ertragen, Dir ausweichen zu müssen. Höre, was ich tun will. Ich werde fortgehen für das lange Strafjahr, weit fort, so weit als die Erde Raum hat. Die Gelegenheit findet sich, ohne daß ich sie zu suchen brauche. Eine englische Gesellschaft rüstet, wie ich schon jüngst erzählte, eine wissenschaftliche Unternehmung nach Afrika aus. Ich wurde zur Teilnahme aufgefordert, hatte den Brief schon begonnen, in welchem ich ablehnte, und morgen nehme ich die Einladung an.«

»Das ist recht, Heinrich«, rief Clemence so eifrig, daß der Großpapa sich warnend mit Kopfschütteln nach ihr umwandte. Und wieder ruhiger fuhr sie fort: »Du siehst, die kurze Trennung ist keine harte Bedingung.«

Sie zögerte weiter zu sprechen.

»Aber das andere muß recht schlimm sein, der Großpapa machte so wilde Augen. Sage, Heinrich, was soll das denn heißen, daß sie behaupten, Du seist ein Jude. Das verstehe ich nicht. Du bist doch ebenso ein Mensch wie ich oder Papa oder Dein Freund Laskow.«

»Ich hoffe wirklich, daß ich nichts anderes bin. Aber ein Jude bin ich doch. Du magst daraus nur sehen, daß Du Dir unter einem Juden etwas Falsches vorgestellt hast.«

»Ich habe mir im Grunde gar nichts darunter vorgestellt. Eigentlich habe ich gar nicht daran gedacht, daß es noch lebendige Juden gibt. Die Mutter sagte mir einmal im Scherz, das wäre ein Volk aus dem Altertume. Ich kann mir es gar nicht vorstellen, daß ein Mensch einen anderen Glauben haben soll und kann als ich und die selige Mutter. Hast du denn wirklich bisher nicht denselben Glauben gehabt, Heinrich?«

»In der Hauptsache wohl«, antwortete Heinrich vorsichtig. »Wenn Du aber unter dem Glauben alles das verstehst, was Du zur Konfirmation gelernt hast, so könnte es leicht kommen, daß Du findest, ich hätte überhaupt gar keinen Glauben.«

»Das habe ich gefürchtet«, flüsterte Clemence. »Aber Du mußt mich nie mit Deiner Klugheit quälen, mich nicht gewaltsam aufstören. Auch mein lieber Glaube wird Dich nicht belästigen. Der steckt tief innerlich wie bei der Mutter und macht nur selten oder nie von sich reden. Nicht wahr, Heinrich, Du versprichst mir, mich nicht absichtlich gottlos machen zu wollen?«

»Meine süße Braut!«

»Aber sage, Heinrich, wenn Du so denkst, wie kannst Du denn die andere Forderung Großpapas erfüllen? Verzeih, hätte ich das nicht fragen sollen?«

»Sieh meine teure Clemence – sagtest Du nicht eben, daß Dein Christentum sich nur selten äußert? Du hast Dein Christentum für Dich allein und gehörst nur durch die wichtigsten gemeinsamen Gefühle der großen allgemeinen Christenheit an. Und ebenso ergeht es mir auch. Ich zähle mich gleich Dir der Christenheit zu; wenn auch das, was mir mit ihr gemeinsam ist, Dir wenig scheinen sollte. Ich habe Dir etwas mitgebracht, ein närrisches Tagebuch, das ich als Knabe geführt habe und aus dem ich zu meinem Spaß noch die Blätter erhalten, die meine kleinen religiösen Kämpfe betreffen. Ich las mitunter darin, wenn ich meine schlimmen Grübeleien los werden wollte. Hier, ich lege das Buch zwischen Deine Noten, bring es später beiseite und lies es heimlich. Du darfst über den törichten Knaben lachen. Aber Du wirst aus diesen Zeilen doch auch ersehen, daß ich mir mein Christentum vielleicht schwerer errungen habe als ein Kind, das es gar nicht anders weiß, als daß es christlich sei. Freilich, mein Tagebuch reicht nur bis in die Zeit, in welcher ich mich als gläubigen evangelischen Christen, einen Christen auf eigene Faust, fühlte. Du weißt jetzt, daß ich dort nicht stehengeblieben, daß ich jetzt recht gottlos bin. Aber Du wirst mir eins bezeugen können, nachdem Du diese drolligen Blätter gelesen hast: Wenn ich als Student und als Arzt meinen mühsam erstrittenen Glauben allmählich bis auf ein kleines, ganz persönliches Restchen wieder eingebüßt habe, so war es nicht mehr der jüdische, sondern der christliche Glaube, den ich verlor.«

»Und ein kleines Restchen hast Du Dir noch erhalten, sagst du?« rief Clemence freudig.

»Ja, aber frage mich nicht danach! Ich müßte Dir sonst gestehen, daß das Restchen eher auf den Orgelchor als ins Gotteshaus zu passen scheint. Das Restchen meiner Religiosität handelt von allem Edlen, Hohen und Schönen, und seitdem ich Dich liebe, Clemence, seitdem handelt es von Dir.«

»Ja, Heinrich, das möchte ich wissen! Seit wann liebst Du mich?«

»Seit dem ersten Augenblick, in dem ich Dich erblickte! Seit dem Tage, an dem Du in unser Krankenzimmer tratst und auch mir eine Rose reichtest.«

»Was war es für eine Rose?« fragte Clemence neckend.

»Es war eine ganz neue Art!« rief Heinrich.

»Ich habe ihr darum auch einen neuen Namen gegeben. Sie wurde getrocknet, auf ein Papier geklebt und darunter steht: Rosa Clementiae. Willst Du wissen, was das heißt? Die Rose der Huld und der Gnade.«

Und selbstvergessen streckte Heinrich die Hand aus und faßte die Rechte des Mädchens, das still beglückt zu ihm aufschaute.

Ihr Gespräch verstummte und überrascht wandten sich alle nach ihnen um.

»Clemence!« rief Evchen überrascht.

»Ich habe dem Fräulein soeben mitgeteilt, daß ich morgen für lange Zeit verreise. Ich fahre zunächst nach England und von dort mit einer wissenschaftlichen Expedition nach dem Osten von Afrika. Ich kam heute, um Abschied zu nehmen.«

Alles war von dieser Mitteilung überrascht. Das Gespräch wurde allgemein. Heinrich mußte erzählen, erklären, und so lange sie auch heute beisammen blieben, es war nicht mehr möglich, ein trauliches Wort mit Clemence zu sprechen.

Es war sehr spät, Mitternacht längst vorüber, als der Großvater endlich zum Aufbruch drängte. Heinrich bezwang sich und stand auf.

Herr von Auenheim sprach die Hoffnung aus, den Herrn Doktor nach der Rückkehr häufig wiederzusehen. »Die Freunde meiner Freunde sind auch meine Freunde«, sagte er obenhin.

Evchen wollte beinahe weinen, weil der gute Kamerad nun unter die Menschenfresser ging.

Clemence reichte ihm mit leuchtenden Augen die Hand; Heinrich vermochte kein Wort zu sprechen, sie aber sagte mit fester Stimme:

»Auf Wiedersehen!«

Dann blieb die Familie allein. Die Mädchen gingen zur Ruhe. Evchen hatte noch lange über die plötzliche Abreise ihres Freundes zu schwatzen. Als sie aber endlich ermüdet einschlief, zündete Clemence ihr Licht an und las das Manuskript, das Heinrich ihr zurückgelassen.

 
Tagebuch des Wolff Heinrich.

Weh mir! Meine griechische Komposition war zwar die beste! Ich war zwar der einzige in der Quarta, welcher den Aorist richtig herausbrachte. Was aber hilft mir alle irdische Wissenschaft, wenn meine Seele umsonst nach himmlischer Labung dürstet. Ha! Mir ekelt vor diesem Säculum, wenn ich an die Zeiten denke, in denen noch die Götter auf Erden wandelten und von selber griechisch sprachen.

*

Ich muß Ordnung in dieses Tagebuch bringen. Ich bin schon dreizehn Jahr alt und habe noch immer, wie es scheint, die Kinderschuhe nicht ausgezogen. Es ist Zeit, sich als Mann zu zeigen. Niemand soll es erfahren; denn die elenden Spötter um mich her würden mich auslachen. Nur ganz für mich allein will ich in diesem Tagebuche meine gigantischen, meine pyramidalen Schmerzen ausweinen und...

*

Ich trage wie Atlas das Leid der Welt auf meinen Schultern. Doch nein, in meinem Alter keine Übertreibungen mehr! Das Leid der Welt nicht – aber das Seelenheil einer ganzen Familie ruht auf meinen Schultern. Mein Vater – ha! – er ist mein Vater. Aber von Religion keine Spur! Im Pfuhl des Materialismus ließ er mich aufwachsen. Er lehrte mich Schmetterlinge sammeln, Blumen pressen und Mineralien bestimmen, aber niemals hat er mir den Weg zum Ewigen gezeigt. So hab' ich mir denn diesen Weg aus eigener Kraft gebahnt und werde ihn wandeln, solange das weiße Haar auf meinem Scheitel schimmert.

*

Unser Hausarzt ist auch so ein Materialist. Er behauptet, meine Empfindsamkeit – so drückt er sich aus, der elende Zyniker! – sei eine Folge der schweren Krankheit, die ich eben überstanden habe. Aber ich, ich weiß es besser. Der Zweifel ist der Geier, der mir in die Fersen sticht! Ha!

Ich war kaum zehn Jahre alt, in vielen Dingen noch recht kindisch. Da trat ich ins Gymnasium und mußte bei der Aufnahmeprüfung – bei der mich übrigens mein Pater Pokorny sehr ungerecht behandelt hat – auch Religion können. Als ich damals erfuhr, daß ich Jude sei und jüdische Religion lernen müsse, dachte ich mir anfangs nichts dabei. Aber ach! – binnen wenigen Wochen führte mich der Rabbiner in das ganze tiefe Dickicht des Judentums ein; ich erfuhr schaudernd, daß Gott uns eine Menge strenger Verbote und Gebote gegeben hat, die wir halten müssen, wenn wir nicht Sünder werden wollen. Da begann es. Ich fühlte die Pflicht, für Vater und Mutter fromm zu sein. Da ich aber nicht ausgelacht werden wollte, hielt ich nur heimlich die Gebote des Herrn. Es war eine fromme Lüge, Ewiger!

Jeden Samstag schlich ich mich heimlich in die Synagoge und brummte alle Gesänge mit, wenn ich auch kein Hebräisch verstand.

Im Kalender schaute ich genau nach, wann ein jüdischer Feiertag fiel. An allen hohen Festtagen verschaffte ich mir reine Wäsche. Ich begoß mehr als einmal das alte Hemd am Tage vorher mit Tinte. So bekam ich Prügel und ein frisches Hemd. An den Fasttagen kasteite ich mich, indem ich vorgab, einen verdorbenen Magen zu haben und nichts essen zu können. O, ich habe oft Hunger gelitten für das künftige Heil der Eltern! Aber ich wußte, ich bereitete damit meinem Vater und meiner Mutter die ewige Seligkeit.

Größere Schwierigkeiten bereitete mir die tägliche Nahrung. Der Vater sah streng darauf, daß ich – ein tyrannischer Zwang, würdig eines Nero! – keine Speise, die auf den Tisch kam, verschmähte. Als frommer Jude, der ich heimlich war, durfte ich aber nicht von allem genießen. Ich berührte keinen Schinken und nicht einmal Hasen, obwohl der Hase ein sehr schmackhaftes und nach der Meinung von Gelehrten auch sehr gesundes Säugetier ist. Viel Schelten mußte ich darob erdulden. Ha, aber ich führte es durch!

Notabene: Wir hatten oft einen Braten zum Nachtmahl, der nach Angabe der Mutter vom Lamm sein sollte, der aber genauso aussah und schmeckte wie Hasenbraten. Die Mutter hat mir später gestanden, daß sie mich belog, um mich zum Essen des trefflichen Hasens zu verlocken. Eine fromme Täuschung! Und ein Rückenstück bekam ich nie!

So lernte ich meine Religion kennen. Heimlich machte mich der Rabbiner, der mich für die Aufnahmeprüfung vorbereiten sollte, zu einem frommen Juden, und heimlich habe ich Elender zu Jehova gebetet mit unbeschreiblicher Inbrunst. O Gott, o Gott, habe ich gelästert? Verzeih einem jungen Manne von lückenhafter Bildung seine Torheit!

*

Ich habe gestern für meine Kinder und Kindeskinder niedergeschrieben, wie ich durch späte Kenntnis zum jüdischen Glauben kam. Heute will ich hinzufügen, wie ich an meinem ersten Glauben irre wurde. Als Parvist, d. h. als Schüler der untersten Gymnasialklasse – wir haben hier in Österreich recht veraltete Bezeichnungen für manche Dinge – war ich noch ein frommer Jude. Mein Gott, ich war ja noch nicht alt genug. Allmählich wurde es mir bedenklich, daß ich unter fünfzig Schülern die einzige fühlende Brust sein sollte. Während die Christen Religionsstunde hatten, mußte ich draußen auf dem Gange stehen und durfte nicht erfahren, was drinnen gelehrt wurde. Und Pater Hufenrichter, der ließ mich schlecht von allen Christen denken. Denn es macht ihm Freude, mich im Winter auch nach dem Stundenläuten draußen auf den kalten Steinen warten zu lassen. Aber mit der Zeit wurde ich immer neugieriger, und als ich erst unter den Kommilitonen – so hießen wir jetzt, nicht mehr Mitschüler – einen wahren Freund, einen Pylades gefunden hatte, da bat ich ihn um seinen Katechismus. Der Elende lachte mich aus. O, Menschen, Menschen, heuchlerische Brut! Aber er gab mir doch das Buch und ich las es. Ich hätte den Ozean vergiften und die Erde an den Mond sprengen mögen, daß ich das alles zu spät erfuhr. Hier las ich, daß die Juden schon seit zweitausend Jahren verworfen sind, daß sie die Erlösung frevelhaft von sich gewiesen haben, und daß auch ich, der Quartaner Wolff Heinrich, durch die alte Schuld allen Anteil an das Himmelreich verloren habe. Wehe mir!

Wer aber hilft mir in diesen Qualen? Wer sagt mir, ob das neue Testament ebenso wie das alte göttlichen Ursprungs ist? Wer löst die Zweifel? Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust! Ich fange an, in jüdischer Religion nachlässig zu werden. Denn wer sagt mir, ob alle Mühe nicht umsonst ist, und ob ich nicht noch vor der Universität erlöst werde?

*

Heute war ein Schreckenstag für mich. Auf Latein war ich schlecht präpariert und wurde gerufen. Glücklicherweise schlug die Uhr bald darauf zehn und man merkte nichts; dann bekamen wir die deutschen Arbeiten zurück und ich – sonst immer »vorzüglich« – hatte einen Zweier. Und warum mir diese Schmach? Weil ich es gewagt hatte, von dem Thema – »Über den Wert der Tugend« – abzuschweifen, auf die Religion einzugehen und meine Zweifel an der Untrüglichkeit des vom Vater überkommenen Glaubens auszusprechen. Ich ging nachmittags mit meiner Arbeit in die Wohnung des Lehrers und beklagte mich. Er war sehr freundlich und fragte mich nach allem und nach den Büchern, die ich lese. Ich sagte der Wahrheit gemäß: Schiller, Nieritz, Robinson und die Illustrierte Welt. Er fragte immer weiter, und ich gestand ihm, daß ich heimlich auch die Religion meiner christlichen Kommilitonen lese. Da wurde der Lehrer noch freundlicher und gab mir eine Karte. Auf der stand: »Herrenkonferenz in der Adalbert-Kapelle«. Und da sollte ich nun hingehen, ein gottbegeisterter Prediger würde mir alle meine Fragen lösen.

*

Ich war da. Pater Münchström ist der größte Mann des Jahrhunderts! Schämt Euch, Ihr elenden Pharisäer, die Ihr auf ihn einen Stein werft, weil er ein Jesuit ist. Wenn alle Jesuiten so sprechen wie er, so stürz' ich ihm zu Füßen und bitte um die Gnade, in die Societas Jesu aufgenommen zu werden. Wie der edle Mann weinte, als er von den ungläubigen Juden sprach! O, ich hätte mein Herzblut hingegeben, wenn ich diese Tränen hätte stillen können.

*

Ich war wieder da. Pater Münchström sprach heute über die Wahrheit. Ja, die Wahrheit ist bei ihm! Ich bin besiegt! Bis in meine Träume verfolgt mich die mächtig dröhnende Stimme, die von den Gewölben der Adalbert-Kapelle widerhallt, daß es klingt wie die Orgel der Piaristenkirche vor der Zeugnisverteilung. Und oh, dieser Orgelklang! Wie konnte ich bis jetzt einer Religion angehören, die keine Orgel hat! Die Orgel ist die Sprache der Engel.

*

Seit vier Wochen habe ich mein Tagebuch nicht geöffnet. Immer zögerte ich, ihm die Wahrheit anzuvertrauen. Aber heute will ich's tun. Hier stehe es: Seit einer Woche bin ich katholischer Christ. Seit vier Wochen höre ich allsonntäglich die Messe. Ich laufe in die entferntesten Kirchen, damit niemand mich sieht. Vor acht Tagen war ich in der Kapelle des Handlungsspitals, sie war ganz leer. Heute war ich in der Garnisonkirche. Da war ich der einzige Zivilist. Niemand hat mich erkannt! Es ist gelungen!

Heute war ich wieder bei Pater Münchström. Er schilderte die Märtyrerqualen des heiligen Nepomuk. Ich kann nicht weiter schreiben. Ich glaube zu ersticken. Ich fühle, wie mir das Wasser der Moldau bis an den Hals reicht. O, der edle Mann! Heiliger Nepomuk, bitt für mich armen Sünder! Freilich, wäre er Freischwimmer gewesen wie ich, so wäre ihm nichts Schlimmes widerfahren.

*

Das war eine fürchterliche Nacht. Als alles im Hause schlief, schlich ich mich aus dem Bett zum Fenster, wo der Vollmond am Himmel stand. Dort kniete ich nieder und betete fünf Stunden lang zum heiligen Nepomuk. Ich bat ihn flehentlich, mir persönlich zu erscheinen und dadurch meine letzten Zweifel zu lösen. Als er durchaus nicht kommen wollte, legte ich mir die scharfe Kante des Lineals unter die Knie und betete in dieser Stellung noch ein Stunde lang wirklich sehr inbrünstig unter reichlich fließenden Tränen. Aber es half nichts. Da bat ich nur noch um seine Fürbitte und legte mich zu Bett, als die Sonne längst aufgegangen war. Jetzt habe ich einen starken Schnupfen. Niemand im Hause weiß, woher. Ich aber werde mein Geheimnis ebensowenig verraten wie mein Heiliger, und sollten sie mich auf die Folter spannen oder mich auf einem glühenden Rost braten oder mich in die Moldau hinabwerfen.

*

Meine deutschen Arbeiten haben jetzt immer die besten Zensuren, seitdem mir der Lehrer die Karten zu Pater Münchströms Konferenzen gibt. Ich bringe jedesmal etwas von meinen Sorgen in dem Aufsatze unter; aber der Lehrer hat nichts dagegen. Jüngst hatten wir die Aufgabe: »Gedanken des Julius Cäsar, als er den Rubikon zu überschreiten Anstalt traf«. Ich stellte mir vor, daß nicht Julius Cäsar selbst sich seine Gedanken machte, sondern daß ein von Gott gesandter Engel zu ihm im Traume sprach. Es waren rechte christliche katholische Gedanken über die Zukunft Roms und die Bedeutung der Päpste, und meine Arbeit wurde heute für die beste erklärt.

*

Hier folgte eine große Lücke im Tagebuche.

*

Meine deutsche Arbeit heute »ungenügend«. Und warum? O, ich Tor! Es ist noch keine zwei Jahre her, da wurden meine »Cäsars Gedanken« der ganzen Klasse als Muster angepriesen und heute bin ich verworfen! Warum? O, alle Lehrer sind ungerecht, auch er, den ich so sehr geliebt! Meine religiösen Studien allein sind schuld. Ich warf mich damals in den Ferien mit ungeheurem Eifer auf die Kirchengeschichte. Da erging es mir aber sonderbar. Es war von nichts als von Ketzereien die Rede, und alle Ketzer schienen mir einen Teil der Wahrheit gefunden zu haben. Ich ließ mir nichts merken, aber in der Stille änderte ich das Gebet ab, das meine christlichen Kommilitonen zu Beginn jedes Schultages zu sprechen hatten. Je nach dem Ketzer, bei dem ich gerade hielt, flehte ich entweder zu Gott oder zu der Inkarnation, wie sie der betreffende Ketzer verstand. Es ging ziemlich langsam, weil ich wenig Zeit für die Kirchengeschichte hatte. Erst vor wenigen Wochen kam ich zu Luther. Endlich wird mir Licht, ewiges Licht! Luther ist nun mein Mann! Ich bin ein Protestant geworden! Und in der letzten Arbeit sprach ich darum ehrlich und offen von Luther mit der größten Hochachtung. Und darum Mörder und Räuber! Darum »deutsch« ungenügend.

*

Die folgenden Blätter des Tagebuchs waren herausgerissen.


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