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Einundsechzigstes Kapitel

Wer zu unterst an Fortunens kreisendem Rade hängt, darf darauf zählen, bald emporzukommen. Ich bin wieder bei Trost und finde mich – unter Freunden.

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Ich glaube, es drückten mir einige Leute die Hand, und andere jubelten, als ich an die freie Luft kam; aber ich weiß nichts mehr davon. Ich erfuhr nachher, daß ich begnadigt worden war, daß man mich hatte kommen lassen, um mir eine lange Ermahnung mit auf den Weg zu geben; denn man glaubte, mein bisheriges Leben müsse ein tadelhaftes gewesen sein, da ich mich sonst an meine Freunde gewendet und meinen Namen genannt haben würde. Mein Stillschweigen hatte man der Scham und Verwirrung zugeschrieben, meine wankenden Schritte von andern Ursachen abgeleitet, und die Gerichtspersonen schüttelten die Köpfe, als ich von den Schließern hinausgeführt wurde. Mein Schließer hatte mich mehrmals gefragt, wohin ich gehen wolle; zuletzt hatte ich ihm erwidert: »Meinen Vater suchen gehen« – war von ihm weggelaufen und wie ein Wahnsinniger die Straße hinabgerannt. Natürlich hatte er jetzt keine Gewalt mehr über mich, aber er murmelte mir nach: »Es scheint mir, daß er bald wieder eingesperrt werden wird, der arme Tropf; wenn er nicht verrückt ist, will ich Hans heißen.«

Als ich so dahin schwankte, zogen meine unsteten Schritte die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich, aber sie hielten meinen Zustand für Betrunkenheit. So ließ man mich im Wahnsinn fortgehen, und noch ehe es Nacht wurde, war ich weit von der Stadt.

Was hierauf geschah, und wohin ich meine Schritte lenkte, kann ich nicht mehr sagen. Ich weiß nur so viel, daß ich das Land durchkreuzte, wie ein Wahnsinniger – wobei ich die Begegnenden am Arme nahm, mit wilden flammenden Augen anstarrte, das eine Mal in einem feierlichen, das andere Mal in einem lauten schrecklichen Tone fragend: »Bist Du mein Vater?« dann wieder fortstürzend, oder, je nachdem die Laune mich ergriff, wie ein Kind schluchzend – und endlich nach drei Tagen, bis auf den Tod erschöpft vor Mattigkeit, an der Thür eines Hauses in der Stadt Reading gefunden wurde. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem Bette; mein Haupt war kahl geschoren, mein Arm nach wiederholten Aderlässen mit Binden umwickelt, und ein weibliches Wesen saß neben mir.

»Gott im Himmel!« rief ich mit schwacher Stimme, »wo bin ich?«

»Du hast oft während dieser Krankheit nach Deinem irdischen Vater gerufen, Freund«, erwiderte eine sanfte Stimme, »es freut mich sehr, Dich nun auch den Vater anrufen zu hören, der im Himmel ist. Sei ruhig, Du bist in sorgsamen Händen: schließe Deinen Dank für die Rückkehr Deiner Vernunft in ein kurzes Gebet ein und sinke wieder in die Ruhe zurück; denn Du wirst ihrer sehr bedürfen.«

Ich öffnete die Augen weit und sah ein junges Mädchen in Quäkertracht, mit der Nadel arbeitend, neben dem Bette sitzen; eine offene Bibel lag auf dem Tischchen vor ihr. Auch bemerkte ich einen Becher, und, halb verschmachtet vor Durst, sagte ich ganz einfach: »Ich möchte trinken.« Sie stand auf und flößte mir einen Theelöffel voll zwischen die Lippen, ich aber streckte die Hand aus, nahm ihr den Becher ab und leerte ihn. Ach, wie entzückend war dieser Trank! Ich sank auf mein Kissen zurück, denn selbst diese geringe Anstrengung hatte mich überwältigt, murmelte: »Gott, ich danke Dir!« und fiel augenblicklich in einen gesunden Schlaf, welcher viele Stunden dauerte. Als ich erwachte, war es Nacht. Eine Lampe stand auf dem Tisch, und ein alter Mann in Quäkerkleidung schnarchte äußerst behaglich in dem Armstuhl. Ich fühlte mich gestärkt durch meinen langen Schlaf und war nun imstande, mir die Begebenheiten der letzten Tage in das Gedächtnis zurückzurufen. Ich erinnerte mich der Zelle für die Verurteilten und der Matratze, auf welcher ich gelegen hatte; aber dann folgten lauter verworrene Bilder. Hier und da trat ein Ereignis, vielleicht eine Vermutung, in meiner Seele hervor, aber was dazwischen lag, war leer, wie weiße Blätter. Auf jeden Fall sah ich mich frei und in den Händen der Sekte, die man Quäker nennt – aber wo war ich, und wie kam ich hierher? Ich beschäftigte mich mit solchen Gedanken, bis der Tag anbrach, bei dessen Strahlen auch mein sorgsamer Wächter sich ermunterte. Er gähnte, reckte die Arme aus, erhob sich von dem Lehnstuhl und trat an meine Bettseite. Ich sah ihm in das Antlitz. »Hast Du gut geschlafen, Freund?« fragte er.

»Ich habe so lange geschlafen, als ich wünschte«, erwiderte ich, »und wollte Sie nicht stören, denn ich bedurfte nichts.«

»Von ungefähr bin ich eingeschlafen«, versetzte der alte Mann; »langes Wachen verträgt sich nicht mit dem Fleische, obgleich der Geist willig ist. Begehrst Du etwas?«

»Ja, ich wünschte zu wissen, wo ich bin.«

»Nun, Du bist in der Stadt Reading in Berkshire, im Hause des Phineas Kophagus.«

»Kophagus!« rief ich, »Mr. Kophagus, der Wundarzt und Apotheker?«

»Phineas Kophagus ist sein Name. Er ist in unsere Gemeinde aufgenommen worden und hat eine Tochter unsers Glaubens geheiratet. Er hat Dich in Deinem Fieber und Deiner Raserei gepflegt, ohne die Hilfe des Arztes anzurufen; darum glaube ich, er sei der Mann, von dem Du redest, aber er übt die Heilkunst nicht um des Gewinnes willen.«

»Und das junge Mädchen an meinem Bette, ist es seine Frau?«

»Nein, Freund, sie ist ihre Halbschwester von einer zweiten Ehe her, und eine Jungfrau, welche bei der heiligen Taufhandlung Susanna Temple benamset wurde. Aber nun will ich zu Phineas Kophagus gehen und ihm Dein Erwachen melden; denn also hat er mir's geheißen.«

Der alte Mann verließ das Zimmer, in welchem ich ganz verwundert über diese Nachricht zurückblieb. Kophagus ein Quäker! ich in seiner Pflege und in Reading! – Nach kurzer Zeit kam Kophagus selbst in seinem Schlafrocke herein: »Japhet!« rief er, und ergriff hastig meine Hand, dann aber, als besänne er sich, hielt er inne und begann mit langsamerem Tone: »Japhet Newland – sehr erfreut bin ich – mmh – wahrlich, seht erfreut – Du, Ephraim, verlaß das Zimmer und so.«

»Ja, ich will hinausgehen, dieweil es Dein Gebot ist«, sagte der alte Mann und entfernte sich.

Herr Kophagus begrüßte mich hierauf in seiner gewöhnlichen Art. Ich erfuhr von ihm, daß er mich bewußtlos an der Thüre eines nahegelegenen Hauses gefunden und augenblicklich erkannt habe, worauf er mich, freilich ohne große Hoffnung mich wieder herzustellen, in sein eigenes Haus hatte bringen lassen. Er bat mich jetzt, ihm zu sagen, durch welchen seltsamen Zufall ich in eine so traurige Lage gekommen sei. Ich erwiderte, wenn ich auch imstande sei, zu hören, so könne ich doch die Anstrengung des Redens nicht ebenso gut ertragen; deshalb würde es mir unendlich lieber sein, wenn er mir erzählen wollte, was ihm seit unserm Abschied in Dublin begegnet sei, und wie es komme, daß ich ihn hier unter den Quäkern finden müsse.

»Von ungefähr – lange Geschichte das – mmh – kuriose Leute – sehr gutmütig und so«, begann Mr. Kophagus. Da übrigens der Leser seine Fragmente nicht so leicht entziffern wird, wie ich, so will ich seine Geschichte in meiner eigenen Version mitteilen.

Herr Kophagus war in jenes kleine Städtchen, seinen Aufenthaltsort, zurückgekehrt. Bei seiner Ankunft besuchte ihn ein Herr von der Gesellschaft der »Freunde«, mit der Bitte, ihm etwas für eine Nichte zu verschreiben, welche bei einem Besuch in seinem Hause gefährlich erkrankt war. Kophagus stand in seiner gewohnten Herzensfreundlichkeit sogleich zu seinen Diensten und fand, daß Herr Temple ihm die Wahrheit berichtet hatte. Sechs Wochen lang mußte er die junge Quäkerin behandeln, bis er sie von einer drohenden, schmerzhaften Krankheit geheilt hatte, in welcher sie jedoch solche Seelenstärke und Ergebung und zugleich eine so unbesiegbar gute Laune zeigte, daß Herr Kophagus, als er in seine Junggesellenwirtschaft zurückkehrte, sich des Gedankens nicht erwehren konnte, welch eine unschätzbare Frau sie abgeben und wie viel freundlicher sein Haus durch eine solche Genossin werden würde.

Kurz, Mr. Kophagus hatte sein Herz verloren, und wie alle ältlichen Herren, welche ihre Leidenschaften lange zurückgehalten, wurde er ganz verzweifelt verliebt. Hatte er Miß Judith Temple bei dem Anblick ihrer Geduld und Ergebung im Leiden geliebt, wie viel mehr mußte er sie nach ihrer Genesung lieben, als er sie heiter, freundlich, ja scherzhaft, aber ohne Geräusch wirkend, fand. Seine Aufmerksamkeiten konnten nicht mißverstanden werden. Er erzählte ihrem Oheim von seinen ernstlichen Gedanken an »Hochzeitskuchen – weiße Bandschleifen – Heirat – Familie und so«, während er der jungen Dame gegenüber seinen Stock an die Nase legte und ihr »eine Dosis Ehestand, sogleich einzunehmen« verordnete. Weder die Dame, welche nicht mehr in der Blüte der Jugend stand, noch der Oheim, der ihn von jeher als einen Ehrenmann und einen guten Christen achtete, hatte etwas gegen Herrn Kophagus einzuwenden, aber eine Heirat mit einem Menschen, der nicht ihres Glaubens war – daran durfte nicht gedacht werden; die Ihrigen würden es nicht zugegeben haben. Somit wurde Herr Kophagus abgewiesen, aber mit der herzlichen Versicherung, das einzige Hindernis dieser Verbindung bestehe darin, daß er nicht ihrer Gemeinde angehöre.

Herr Kophagus ging mit sehr unbehaglichen Gefühlen nach Hause. Er warf sich in einen bequemen Sessel, den er außerordentlich unbequem fand; er setzte sich zu seinem einsamen Mahle nieder und entdeckte, daß ihm seine eigene Gesellschaft unerträglich sei; er ging zu Bette, mußte aber die Erfahrung machen, daß er unmöglich darin schlafen konnte. Infolge dieser Erlebnisse begab er sich am andern Morgen noch einmal zu Herrn Temple, dem er den Wunsch ausdrückte, mit dem Unterschiede zwischen den Dogmen der Quäker und der bestehenden Kirche bekannt zu werden. Herr Temple gab ihm einen Abriß, welcher Herrn Kophagus befriedigend dünkte, und verwies ihn zum Behufe genauerer Belehrung an seine Nichte. Wenn jemand in eine Erörterung eingeht, mit dem vollen Wunsche, sich überzeugen zu lassen, wenn an diesem Resultat vielleicht seine künftige Glückseligkeit hängt, wenn ferner die Beweisgründe von der angenehmsten Stimme vorgetragen und mit dem süßesten Lächeln begleitet werden, so darf man sich über sein schnelles Proselytentum eben nicht sonderlich verwundern. Also erging es Herrn Kophagus, welcher im Laufe einer Woche zu der Entdeckung kam, daß der Friede, die Demut, die Liebe, woraus die Quäker ihre Satzungen gründen, dem Geist der christlichen Offenbarungen weit verwandter seien, als das athanasische Glaubensbekenntnis unserer anglikanischen Kirche. Auf diese Überzeugung hin hat er um Aufnahme in die Brüderschaft, und nicht lange nach Gewährung dieser Bitte achteten die Freunde es für ratsam, seinen Glauben zu befestigen und zu stärken durch seine Vermälung an Miß Judith Temple, mit welcher er sodann aus ihr Zureden – denn er vermochte ihr nichts abzuschlagen – sich in der Stadt Reading, dem Aufenthaltsorte ihrer sämtlichen Verwandtschaft, niederließ. Das Ende von all diesem war, daß sich Phineas Kophagus, von der Gesellschaft der Freunde, für so glücklich erklärte, als ein Mensch nur immer sein könne. »Gute Leute, Japhet – mmh – rechtschaffene Leute, Japhet – fechten nicht – gar nicht starr – Geist operiert und so –« mit diesen Worten beschloß er seine Beichte, drückte mir dann die Hand und ging, um sich zu rasieren und anzukleiden.

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