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Fünftes Kapitel

Meine Eitelkeit empfängt eine tödliche Wunde, aber mein Herz bleibt unbeschädigt. Eine Ausnahme vom weiblichen Geschlechte, ein Wesen, das schön zu sein verschmäht.

————

Am nächsten Abend ließ ich Timothy als Stellvertreter zurück und ging nach ihrem Hause; sein äußeres Aussehen war sehr anständig, ebenso die innere Einrichtung. Übrigens wurde ich nicht in den ersten Stock, sondern zu ebener Erde gewiesen.

»Miß Judd wird sogleich kommen, Sir«, sagte eine große, magere, puritanisch aussehende Magd, die Thüre hinter mir schließend. Nach wenigen Minuten, während deren mein Puls heftig ging – denn ich konnte nichts anderes als einen Aufschluß erwarten, ob aber das Thema Mord oder Liebe sein würde, war schwer zu erraten – erschien Miß Aramathea Judd, setzte sich auf das Sofa und lud mich ein, bei ihr Platz zu nehmen.

»Mr. Newland«, sagte sie: »ich wünsche, und ich glaube auch, daß ich es wagen darf, Ihnen ein für mich sehr wichtiges Geheimnis anzuvertrauen. Wodurch ich hierzu genötigt bin, das wird Ihnen aus meinen Mitteilungen völlig klar werden. Sagen Sie mir, haben Sie Anhänglichkeit an mich?«

Das war eine wohlangebrachte Frage bei einem vorschnellen Jungen von sechzehn Jahren. Ich faßte ihre Hand. Während ich auf diese blickte, kam es mir vor, ich könne Ja sagen; dann sah ich ihr ins Antlitz, und nun war es mir, als könnte ich's nicht. Ferner bemerkte ich, da ich ganz nahe bei ihr saß, daß sie etwas Aromatisches im Munde haben müsse, denn es duftete sehr stark. Dies brachte mich auf die Vermutung, der Atem, welcher so melodische Töne mit sich brachte, möchte nicht ebenso süß sein, und ich fühlte meinen Widerwillen zunehmen.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Miß Judd«, erwiderte ich; »ich hoffe, Sie werden sich von meiner Anhänglichkeit überzeugen, wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken.«

»So schwören Sie bei allem, was heilig ist, mein Geheimnis nicht zu verraten.«

»Bei allem, was heilig ist, ich schwöre es Ihnen!« erwiderte ich und küßte ihre Hand mit mehr Glut, als ich mir selber zugetraut hätte.

»Und nun haben Sie die Güte, mich auf eine Minute zu entschuldigen.« – Sie verließ das Zimmer und kam nach sehr kurzer Zeit wieder zurück, in derselben Kleidung und in jedem andern Punkte dieselbe Person, aber mit einem jungen lebhaften Gesicht von höchstens zwei- bis dreiundzwanzig Jahren. Ich fuhr zurück, als hätte ich ein Gespenst gesehen.

»Ja«, sagte sie lächelnd, »nun sehen Sie Aramathea Judd ohne Maske, und Sie sind der Erste, der dieses Gesicht seit mehr als zwei Jahren gesehen hat. Ehe ich aber weiter gehe, sag' ich nochmals: Kann ich Ihnen trauen? Schwören Sie?«

»Ich schwöre!« rief ich, und nahm statt des Evangeliums ihre Hand, die ich diesmal über und über mit Küssen des Entzückens bedeckte. Ein junger Laffe, wie ich war, ließ ich die Hand nicht los, während ich zugleich so viel Ausdruck als möglich in meine Blicke legte; in Wahrheit, ich that genug, um die Herzen dreier Putzmacherinnen zu erweichen. Ich fühlte mich nachgerade ganz entsetzlich verliebt, träumte vom Heiraten, von Glückmachen und was weiß ich, von was noch mehr, aber alles das wurde abgeschnitten durch ein ganz einfaches kurzes Wort, das mit sanfter, aber entschiedener Stimme ausgesprochen wurde: »Japhet, seien Sie gescheit!«

Ich war vernichtet, alle meine Hoffnungen waren es mit mir. Ich ließ ihre Hand sinken, und saß da wie ein Narr.

»Und nun hören Sie mich. Ich bin, wie Sie wohl schon selbst bemerkt haben, eine Betrügerin, das heißt, ich bin was man eine religiöse Abenteurerin nennt, – ein neuer Ausdruck, der vielleicht nur auf sehr wenige anwendbar ist. Eine Tante von mir wurde von einer gewissen Sekte für eine große Prophetin angesehen, was, wie ich Ihnen kaum zu sagen brauche, reiner Unsinn war; nichts desto weniger haben Hunderte an sie geglaubt, und thun es noch. Unter der Erziehung meiner Tante hatte ich es bald herausgebracht, zu welchen Thoren man die Menschen machen kann, wenn man ihre Leichtgläubigkeit benützt. Sie hatte ihre religiösen Inspirationen, ihre Verzückungen, ihre Konvulsionen, und ich war immer hinter den Kulissen; sie vertraute mir, und ich kann sagen, daß ich ihre einzige Vertraute war. Sie können sich daher nicht wundern, wenn ich eine Betrügerei ausübe, zu der ich fast von meiner Kindheit auf erzogen wurde. Von Person bin ich das genaueste Ebenbild meiner Tante, wie sie in meinen Jahren aussah, auch gleiche ich ihr ganz in der Gestalt, obwohl die meinige jetzt zu dem Zweck entstellt ist, eine Frau von ihrem Alter spielen zu können. Ich hatte oftmals meiner Tante Kleider angezogen, ihre Haube aufgesetzt, ihre Stirnbinde umgelegt, und jedesmal war die Ähnlichkeit schlagend gewesen. Meine Tante wurde krank und starb; sterbend versprach sie, ihren Jüngern wieder zu erscheinen, und sie glaubten ihr. Ich war nicht unter den Gläubigen. Sie wurde begraben; viele warteten seitdem begierig auf ihre Auferstehung. Ungefähr eine Woche nachher fiel es mir ein, ich könnte diese Schwärmer vielleicht betrügen. Ich zog meiner Tante Kleider an, bemalte und entstellte mein Gesicht, wie Sie gesehen haben, und die Täuschung war vollendet, sogar für mich selbst, als ich in den Spiegel sah. Keck ging ich eines Abends zu dem Tabernakel, das sie, wie ich wußte, immer noch besuchten. Als ich mitten unter sie trat, fielen sie nieder und beteten mich als auferstandene Prophetin an, betrogen freilich durch mein Aussehen, aber weit mehr noch durch ihre Leichtgläubigkeit. Zwei Jahre lang bin ich nun allmächtig bei ihnen gewesen, aber es giebt eine Schwierigkeit, welche den Glauben der neuen Proselyten erschüttert, und neue Proselyten muß ich haben, Japhet, denn die alten sterben ab, und mir bliebe nicht so viel, um meinen Arzt zu honorieren. Die Schwierigkeit ist diese: durch Gewohnheit vermag ich wohl, mich in Erstarrung oder Konvulsion zu versetzen, aber um es mit Erfolg zu thun, um den Betrug so lange Zeit fortsetzen zu können, um die schwere Abspannung nach einer so gewaltsamen Anstrengung zu ertragen, muß ich notwendig meine Zuflucht zu stimulierenden Mitteln nehmen. Verstehen Sie mich?«

»Ja wohl«, erwiderte ich: »ich habe mehr als einmal ihre Wirkungen an Ihnen wahrzunehmen geglaubt. Ich fürchte, Sie lassen diese geistigen Getränke mehr an sich kommen, als Ihrer Gesundheit gut ist.«

»Nicht mehr, als ich zu jenen Auftritten bedarf, welche den Glauben meiner Jünger aufrecht halten sollen. Leider sind manche Wankende unter ihnen, selbst einige Zweifler, und ich werde gewahr, daß man meine Schritte beobachtet. Ich darf der Frau in diesem Hause nicht trauen. Ich vermute, daß man sie zum Spionieren angestellt hat, aber ich kann sie nicht entfernen, da dies Haus nebst allem, was darin ist, nicht mir, sondern der Jüngergemeinde als Eigentum gehört. Eine andere Frau nicht weit von hier, ist meine Nebenbuhlerin. Sie beschuldigt mich des Betrugs und sagt, sie sei die wahre Prophetin, nicht ich. – Es wird ihr schwer sein, Beweise zu geben«, fuhr Miß Aramathea mit spöttischem Lächeln fort. »In dieser Bedrängnis begehre ich Ihren Beistand, denn Sie werden einsehen, daß es einer von den Toten erstandenen Prophetin wenig Vertrauen erwecken kann, wenn man sie täglich im Liqueurladen sieht; und doch könnte ich nicht mehr ohne Stimulantien existieren.«

»Und in welcher Art kann ich Ihnen beistehen?«

»Wenn Sie mir das Erforderliche, das ich mir nicht länger auf andere Weise verschaffen kann, als Arznei zusenden und mein Geheimnis treulich bewahren.«

»Beides will ich mit Vergnügen thun«, sagte ich, »aber ist es nicht schade, nicht tausendmal schade, wenn ein so junges, und – darf ich hinzusetzen? – ein so liebenswürdiges Mädchen sich dem Genusse geistiger Getränke ergiebt? Warum« – fuhr ich fort, und ergriff ihre kleine weiße Hand, – »warum müssen Sie den Betrug durchführen? Warum Ihre Gesundheit, ja, ich darf sagen, Ihr Glück opfern?« – Ich weiß nicht, was ich sonst noch gesagt haben würde, vielleicht wäre es zu einem Heiratsantrag gekommen, aber sie unterbrach mich schnell.

»Warum opfert jedermann seine Gesundheit, sein Glück, sein alles? Geschieht es nicht aus Ehrgeiz und Liebe zur Macht? Es ist wahr, so lange mir dies bischen Schönheit bliebe, so lange könnte ich Huldigungen als Weib genießen, aber niemals eine solche, ich darf sagen, göttliche Anbetung. Nein, nein, allzu reizend ist dieser Kultus, allzu verführerisch ist es, anzusehen, wie ein Haufen von Narren, von dreimal älteren Menschen mich anstaunt, niederfällt und den Saum meiner Gewänder küßt! Das heißt doch Anbetung. Die Wonne, die dieser Kultus gewährt, ist so groß, daß sie jede andere Leidenschaft erstickt; sie verschlingt alle Gefühle, und, Japhet, sie hat mein Herz sogar gegen die Liebe verschlossen. Ich könnte, möchte mich nicht so erniedrigen, nicht so tief in meiner eigenen Achtung sinken, daß ich einer so armseligen Leidenschaft Gewalt über mich einräumte, und, wahrhaftig, jetzt könnte ich's auch nicht mehr, selbst wenn ich die Prophetenrolle aufgeben wollte, jetzt, da ich durch so enge Bande an jene Stimulantien gefesselt bin.«

»Aber ist Trunksucht nicht die erniedrigendste von allen Leidenschaften?«

»An und für sich selbst, das gebe ich zu, aber bei mir und in meiner Lage ist es etwas anderes. Ich falle nur, um mich desto höher wieder zu erheben. Ich kann nicht sein, was ich bin, ohne zu simulieren. Ich kann nicht simulieren«, fuhr sie lächelnd fort, »ohne zu stimulieren; deshalb sind diese Steigerungen nur Mittel für einen großartigen, ruhmvollen Ehrgeiz.«

Ich sprach noch lange mit ihr, ehe ich sie verließ, aber nichts schien ihren Entschluß beugen zu können. Zuletzt ging ich mit innigem Schmerz, zunächst darüber, daß sie die Liebe verschworen hatte; denn trotz der Oriswurzel, die sie in den Mund nahm, um den Geruch der Spirituosen zu verbergen, fühlte ich mich von dieser Schönheit, von dieser Geisteskraft hingerissen; und dann beklagte ich, daß ein so junges Mädchen Betrug und Selbstzerstörung zu ihrem System gemacht haben sollte. Als ich aufbrach, drückte sie mir fünf Guineen in die Hand, um die erwähnten Mittel einzukaufen. »Fügen Sie noch eine kleine Gunst hinzu«, sagte ich: »Aramathea, gestatten Sie mir einen Kuß!«

»Einen Kuß!« erwiderte sie mit geringschätzigem Spotte: »nein, Japhet, sehen Sie mich an, denn es ist das letzte Mal, daß Sie meine Jugend schauen, sehen Sie mich an als ein Grab, schön von außen, aber innen lauter Ekel und Fäulnis. Lassen Sie mich Ihnen einen größern Freundschaftsdienst erweisen, lassen Sie mich Ihre schlummernde Energie erwecken und jenen Ehrgeiz in Ihre Seele pflanzen, der zu allem Großen und Guten führt. Möge er Sie einen besseren und eines Mannes würdigeren Pfade führen, als der ist, den ich halb erkoren, und halb auf Geheiß meines Schicksals betreten habe. Sehen Sie mich als Ihre Freundin an, wenn ich es gleich, wie Sie richtig sagen, vielleicht nicht gegen mich selber bin. Leben Sie wohl; vergessen Sie nicht, mir morgen die Arznei zu senden, deren ich bedarf.«

Ich verließ sie und kehrte nach Hause zurück; es war spät. Ich ging zu Bett, und nachdem ich meinem Timotheus so viel, als ich mit Sicherheit wagen konnte, entdeckt hatte, fiel ich in einen tiefen Schlaf; aber ihre Gestalt und Stimme folgten mir in meinen Träumen nach. Erst erschien sie mir mit ihrem bemalten, übertünchten Angesichte; dann fiel die Maske ab, und ich stürzte ihr zu Füßen, um ihre himmlische Schönheit anzubeten; dann verschwand die Schönheit wieder, und sie stand vor mir, ein Bild des Ekels und der Häßlichkeit, während ihr mit Branntweindünsten vergifteter Atem mich fast erstickte. Ich erwachte und beruhigte mich, froh, von dem gräßlichen Traume erlöst zu sein; aber kaum war ich wieder eingeschlummert, so erschien sie mir von neuem, mit einem Drachenschweif, wie die Sünde in Miltons verlorenem Paradies. Sie wand sich um mich her, ihr schönes Antlitz verwandelte sich allmählich in einen Totenkopf. Ich schrie vor Schrecken, konnte nicht mehr einschlafen und war durch meinen Traum gänzlich von der Neigung zu Miß Aramathea Judd geheilt.

*


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