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Marcelle

Ein Gartenhaus in Courberoie, dicht am Bahnhof. 8 Uhr morgens, an einem schönen Herbsttag.

Marcelle Verdyait, 26 Jahre alt, sanfte, sympathische, schon etwas verblühte Züge.

Madame Verdyait, 48 Jahre. Ein düstrer, leidenschaftlicher, gequälter Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht mit den schönen, glänzenden Augen und den blendendweißen Zähnen. Die dunkeln, von einzelnen grauen Fäden durchzogenen Haare fließen wie eine dichte Mähne auf das spitzenbesetzte Kopfkissen nieder. Sie liegt im Bett und blickt nachdenklich und starr vor sich hin.

Josephine, 32 Jahr, ein dickes, gutmütiges Landmädchen mit blassem Gesicht, feuerroten Armen und blauen Händen. Sie tritt in das Zimmer und trägt ein Tablett mit einer Kaffeekanne, einer Zuckerdose, einem silbernen Rahmtopf, einer feinen Tasse von Sèvreporzellan und einigen gerösteten Brotschnitten.

Marcelle (leise zu Josephine):

»Stellen Sie es dorthin, ich will versuchen Mama zum essen zu bewegen.«

Josephine:

»Und Ihr Zug?«

Marcelle:

»Ich fahre erst um 9 Uhr 20. Ich habe heute nur eine Stunde um 10 Uhr zu geben und eine um ¼ nach 11. Da brauch' ich nicht so zu eilen.«

Josephine:

»Und um Eins werden Sie total abgehetzt wiederkommen, nicht wahr?«

Marcelle:

»Ja, zum Frühstück bin ich wieder da.«

Josephine (murmelt zwischen den Zähnen):

»Ja, um Madame wieder zu füttern und ihr verrücktes Geschwätz mit anzuhören. Na, wenn ich hier zu sagen hätte.« (Sie zuckt die Achseln, setzt das Tablett auf den Tisch und geht wieder hinaus.)

Marcelle (nähert sich dem Bett ihrer Mutter):

»Guten Morgen, liebste Mama.« (Sie will ihr einen Kuß geben, aber Madame Verdyait wendet den Kopf ab.)

Madame Verdyait:

»Guten Morgen, Fräulein.«

Marcelle:

»Da ist dein Frühstück. Hast du heute etwas Hunger?«

Madame Verdyait:

»Warum fragen Sie mich? Sie wissen doch, daß ich keinen Hunger mehr haben darf.«

Marcelle:

»Sieh mal, da ist Kaffee und ein paar geröstete Brotschnitten mit Butter. Sie sind noch ganz warm. Die ißt du ja so gern. Komm, nimm ein Stückchen!«

Madame Verdyait (stößt den Teller zurück):

»Ich danke – hat sie – hat sie das Butterbrot gesehen?«

Marcelle:

»Wer?«

Madame Verdyait:

»Marcelle.«

Marcelle:

»Ich hab' sie dir ja selbst zurecht gemacht.«

Madame Verdyait:

»So, das freut mich, denn Marcelle würde wütend werden, wenn sie es sähe. Denken Sie sich nur, sie will es absolut nicht haben, daß ich etwas esse.«

Marcelle:

»Trink doch auch ein bischen Milch, Mama.«

Madame Verdyait:

»Nein. – Sie läßt mich tagelang ohne Nahrung hier liegen. Ist das nicht entsetzlich? daß meine Tochter so gegen ihre eigene Mutter sein kann. Sie ist einfach ein Ungeheuer, nicht wahr?«

Marcelle:

»Wenn du nur einen Schluck Milch trinken wolltest – nur einen Schluck. Das ist wirklich nicht zu viel. Komm, zwing dich dazu, ich bitte dich.«

Madame Verdyait:

»Lassen Sie mich in Ruh, ich will nicht. (In geheimnisvollem Ton.) Ich glaube, sie hofft mich auf diese Weise umzubringen – sie möchte mich los sein. Sie schämt sich meiner, verstehen Sie? sie schämt sich meiner – wegen dieser Gefängnisgeschichte.«

Marcelle (fährt zusammen und blickt ängstlich nach der Thür, durch die Josephine eben verschwunden ist).

Madame Verdyait:

»Warum sehen Sie so nach der Thür?«

Marcelle:

»Aber, daran denke ich ja gar nicht.«

Madame Verdyait:

»Doch, Sie haben nach der Thür gesehen, Glauben Sie, daß Marcelle horchen könnte?«

Marcelle:

»Nein!«

Madame Verdyait:

»Sehen Sie doch nach, ob sie nicht im Korridor ist.«

Marcelle:

»Es ist wirklich überflüssig.«

Madame Verdyait (heftig):

»Aber Sie sollen nachsehen, ob Marcelle nicht da ist. Ich will es. Thun Sie es sofort.«

Marcelle (geht an die Thür und macht sie weit auf).

Madame Verdyait:

»Nun?«

Marcelle:

»Es ist niemand da?«

Madame Verdyait:

»Hat sie sich nicht vielleicht hinter der Thür versteckt?«

Marcelle:

»Nein.«

Madame Verdyait:

»Schwören Sie es mir?«

Marcelle:

»Ja, ich schwöre es dir.«

Madame Verdyait:

»So, dann kommen Sie her zu mir – ganz nah, – ich möchte Ihnen etwas erzählen, – Sie werden dann alles besser verstehen (sie blickt sie durchbohrend an), aber Sie werden es Marcelle nicht wiedersagen?«

Marcelle:

»Unter einer Bedingung, nämlich, daß du jetzt etwas ißt. Sieh, nur dies kleine Stückchen Brot. Komm, zerbeiß es mit deinen schönen, weißen Zähnen. Du hast so wunderschöne Zähne, sie sind viel weißer wie meine. Komm, nimm es. Sieh wie schön braun und knusperig es ist.«

Madame Verdyait:

»Würde es Ihnen wirklich Freude machen, wenn ich meine Milch trinke?«

Marcelle (flehend):

»Ach thu es doch.«

Madame Verdyait:

»Nun, dann geben Sie mir einen Löffel voll, aber nur einen Löffel.« –

Marcelle (giebt ihr die Milch wie einem kleinen Kind löffelweise in den Mund).

Madame Verdyait:

»So und nun hören Sie, was ich Ihnen erzählen will. – Ich habe früher einmal ein Verbrechen begangen. Ich weiß nicht mehr, wann es war. Ich habe irgend jemand umgebracht. Ich kann mich aber nicht recht mehr besinnen, wer es war. Es war ein Mann, ein ganz junger Mann, glaube ich, aber es ist schon lange, lange her. Nun, und dann hat man mich verhaftet, und mich ins Gefängnis gebracht. O und ich habe dort so gefroren und die Bettücher hatten einen so abscheulichen Geruch. Das konnte ich gar nicht ertragen. Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, wie empfindlich ich gegen alles bin, was mit meinem Körper in Berührung kommt. Sehen Sie mal mein Kopfkissen an, es ist von ganz feinem rosa Battist und schön parfümiert. Solche Sachen hab' ich so gern, – mir wird sonst immer so leicht übel. Und im Gefängnis roch das Bett immer so feucht und abscheulich – es war einfach schrecklich. Und dann in der Nacht liefen lauter Tiere in meiner Zelle herum. Ich hörte sie immer herumrasen mit ihren weichen Pfoten. Und dann hatte ich solche Angst, aber ich wagte nicht mein Gesicht in den Kissen zu verbergen – wegen dem schrecklichen Geruch. Das hat mich krank gemacht und dann hat man mich in ein anderes Gefängnis gebracht und da hörte man immer die Menschen schreien – Gott im Himmel, wie hab ich sie manchmal schreien hören. Und dann kam Marcelle eines Tages um mich abzuholen, aber anstatt mich in meine Wohnung zurückzubringen, hat sie mich hierher geführt, in dieses kleine Häuschen. Und dann ist sie wieder fortgegangen und hat mich ganz allein gelassen. Sie kommt niemals zu mir. Ich glaube, sie möchte, daß ich hier vor Hunger stürbe um mein Verbrechen zu sühnen, – jenes Verbrechen, an das ich mich nicht mehr erinnern kann.

Sehen Sie, das war es, was ich Ihnen sagen wollte und dann noch etwas anderes. – Warten Sie einen Augenblick, ich wollte Ihnen noch etwas anderes erzählen. Ich wollte Sie um etwas fragen. Wollen Sie mir versprechen, daß Sie nicht böse werden?«

Marcelle (mühsam ihre Thränen bezwingend):

»O du weißt doch, daß ich niemals böse werde.«

Madame Verdyait:

»Ich wollte Sie nur fragen, weshalb – weshalb Sie mich immer duzen. Ja, sagen Sie mir doch nur, weshalb? Und warum nennen Sie mich Mama? Sehe ich Ihrer Mutter so ähnlich? Sie haben Ihre Mutter wohl verloren?«

Marcelle:

»Nein, nein, ich habe sie nicht verloren. Sie lebt noch, ja, sie lebt noch. O Mama, liebste Mama, sieh mich doch an, erkenne mich doch.« (Sie will sie umarmen.)

Madame Verdyait (entwindet sich ihr):

»O nein, nur das nicht. Lassen Sie mich, ich mag das nicht. Ich kann keine Küsserei und keine Rührung leiden, es ist mir zuwider. – Ich will jetzt aufstehen. Schellen Sie doch, bitte, dem Mädchen, dieser elenden Magd mit den roten Händen. Sie soll mir heißes Wasser bringen. Ich habe nämlich keine Kammerjungfer mehr. Marcelle hat sie mir weggenommen. Ich muß mich jetzt von einem Mädchen bedienen lassen, das die Hände voller Frostbeulen hat.«

Marcelle:

»Aber Mama, ich bediene dich doch auch.«

Madame Verdyait:

»Ja, Sie sind sehr liebenswürdig gegen mich. Sie thun alles, was Marcelle hätte thun sollen. Aber sie hat mich verlassen. Sie wollte lieber mit ihrem Vater und ihrem Bruder Rogo zusammenleben – das ist ganz klar. Und wenn ich stürbe, würden sie alle drei froh sein.«

Josephine (kommt mit dem heißen Wasser):

»Mademoiselle, wenn Sie mit dem Zug um 9 Uhr 20 fahren wollen, haben Sie keine Zeit zu verlieren, es sind nur noch fünf Minuten.«

Marcelle:

»Ja, ich hole nur meinen Hut.« (Sie verläßt das Zimmer.)

Josephine (folgt ihr):

»Haben Sie sie zum essen gebracht?«

Marcelle:

»Sie hat nur ganz wenig genommen. Ich hab' so Angst, daß sie noch ganz von Kräften kommt, meine arme Mama.«

Josephine:

»Aber sie ist trotz ihrer Schwäche doch noch recht boshaft.«

Marcelle:

»O nein, das ist sie wirklich nicht.«

Josephine:

»Ja, sie ist boshaft. Sie wird Ihnen schließlich noch mal etwas anthun zum Zeichen, daß sie Sie wiedererkennt. Sie werden schon sehen. (Sie hält ihr eine Rolle mit Noten hin.) Da sind Ihre Noten.«

Marcelle:

»Danke schön. Und bleiben Sie bei ihr, Josephine, ich bitte Sie, lassen Sie Mama nicht allein. (Sie stürzt davon.)

Josephine (steigt wieder die Treppe hinauf und denkt bei sich selbst):

»Es ist schrecklich mit anzusehen, wie Mademoiselle sich für diese Verrückte plagt, die es nicht einmal merkt. Sie versagt sich selbst das Notwendigste, um ihrer Mutter etwas zu Gute zu thun, und alles ohne den geringsten Dank. Nein, wahrhaftig, es wäre gescheiter, wenn sie sie in eine Anstalt thäte, wo man ihre Krankheit mit kaltem Wasser und einer Zwangsjacke kurierte wie bei allen andern Verrückten.«


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