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Die Mutter

(Scene: die Wohnung des blutjungen Sekretärs Maxime Clavier, der von seinen Kollegen im Bureau des berühmten Advokaten Le Taon nur der »schöne Clavier« genannt wird.

Es ist ein winziges Zimmerchen in Batignolles, Rue du Mont-Dore. Die Einrichtung besteht in einer hübschen Bibliothek, einem Schreibtisch von Nußbaumholz, drei ungleichen Stühlen und einem kleinen, gelbseidenen Sofa, das gewöhnlich mit Büchern, Papieren und Aktenstößen vollgepackt ist.

Heute – es ist an einem Frühlingsnachmittag um halb sechs Uhr – liegen sämtliche Bücher und Papiere auf dem Boden und statt dessen sieht man auf dem Sofa eine Dame sitzen. Es ist Madame de Brauver, eine schon etwas angeherbstelte, aber immer noch dekorative Erscheinung. Ihre Frisur ist etwas derangiert und ihre Wangen glühen. Sie ist damit beschäftigt, ihre – etwas zu enge – Taille wieder zuzuhaken und den Samtkragen zu schließen.)

Maxime:

»Darf ich Ihnen nicht helfen?«

Madame de Brauver:

»Ja, aber seien Sie vorsichtig. Reißen Sie mich nicht an den Haaren, ich trage sie so niedrig aufgesteckt.«

Maxime:

»Wirklich, Sie haben einen wunderbar schonen Hals!« (Er läßt sie auf den Nacken.)

Madame de Brauver (lächelnd):

»Also ich gefalle Ihnen?«

Maxime:

»Mehr wie ich sagen kann.«

Madame de Brauver (im selben Tone fortfahrend):

»Und Sie fühlen sich jetzt glücklich?«

Maxime:

»Viel zu glücklich. Wollen Sie mir versprechen, mich nicht auszulachen, wenn ich etwas Dummes sage?«

Madame de Brauver:

»Gewiß.«

Maxime:

»Nun, ich bin so glücklich, daß ich am liebsten weinen mochte – es ist zu kindisch.«

Madame de Brauver:

»Aber durchaus nicht. Es beweist nur, daß Sie sehr sensibel sind.«

Maxime:

»Und nervös – entsetzlich nervös.«

Madame de Brauver:

»Ja, das ist wahr. Sie haben einen nervösen Mund, Ihre Lippen beben bei der geringsten Gemütsbewegung – das wirkt ungemein aufregend.«

Maxime:

»Wirklich?«

Madame de Brauver:

»O ja. – Wo sind meine Handschuhe?«

(Sie bückt sich, um sie aufzuheben.)

Maxime:

»Machen Sie sich keine Mühe, ich bitte Sie – ich hebe sie Ihnen schon auf. (Er kriecht auf allen Vieren auf dem dürftigen, abgenutzten Teppich herum.)

Madame de Brauver:

»O lassen Sie nur, ich habe sie schon. Da sind sie! Danke sehr.«

Maxime (erhebt sich wieder und blickt Madame de Brauver mit liebevoller Bewunderung an):

»Wollen Sie schon gehen?«

Madame de Brauver:

»Ich muß.«

Maxime:

»Bleiben Sie noch – nur eine Minute.«

Madame de Brauver:

»Es geht nicht, ich habe ein Rendezvous um sechs und es ist schon dreiviertel.«

Maxime:

»Ein Rendezvous? mit wem denn?«

Madame de Brauver:

»Sind Sie eifersüchtig? – Jetzt schon?«

Maxime:

»Ja, ich bin eifersüchtig. – Was ist es für ein Rendezvous?«

Madame de Brauver:

»Mit Ihrem Chef – Ihrem berühmten und gefürchteten Chef. – Sie werden doch nicht etwa denken, daß ich Sie mit diesem Monstrum betrügen werde? – Um so mehr als –«

Maxime:

»Nun?«

Madame de Brauver:

»Als er für die Vertretung in meinem Prozeß eine geradezu enorme Summe verlangt hat (sie lacht mit Ostentation), und da Sie sehen, daß ich gern zu diesem Opfer bereit bin, um – aber daran denke ich nicht, nein, ich denke wirklich nicht an mich selbst dabei.«

(Maxime hat übrigens schon öfters von ihrem einstigen Verhältnis mit Alexis Kerva reden hören, einem gewissen Operettentenor, der sie sehr viel Geld gekostet haben soll.)

»Nein, gewiß nicht – aber sehen Sie sich immerhin vor, der Chef ist sehr unternehmend.«

Madame de Brauver:

»Sie dürfen ganz ruhig sein. Übrigens kann ich sowieso keine häßlichen Männer leiden. Ein häßlicher Mann ist mir unsagbar zuwider.« (Sie bindet den Schleier um.)

Maxime:

»Wann sehen wir uns wieder?«

Madame de Brauver:

»Wann möchten Sie mich denn wiedersehen?«

Maxime:

»Sobald wie möglich – morgen?«

Madame de Brauver:

»Und wo?«

Maxime:

»Wo Sie wollen.«

Madame de Brauver:

»Also sagen wir, wieder hier. Es ist am sichersten.«

Maxime (während er die Bücher und Akten wieder auf das Sofa niederlegt):

»Ach, hier ist es so ungemütlich.«

Madame de Brauver (zeigt auf eine Seitenthür):

»Ist das Ihr Schlafzimmer?«

Maxime:

»Ja, aber –«

Madame de Brauver:

»Nun, was denn?«

Maxime:

»Ein Freund von mir, der vorübergehend in Paris ist, wohnt momentan bei mir. Ich konnte nicht gut anders, wie ihn aufnehmen.«

Madame de Brauver:

»Nun, und ist dieser Freund denn den ganzen Tag da? Geht er niemals aus?«

Maxime:

»O doch, aber er kann jeden Augenblick wieder nach Hause kommen, nicht wahr?«

Madame de Brauver (sehr kühl):

»Gut denn. Wenn Sie die Gesellschaft Ihres Freundes der meinen vorziehen, so bestehe ich natürlich nicht weiter darauf.« (Sie geht auf die Thür zu.) »Adieu!«

Maxime (faßt sie um die Taille und sucht sie zurückzuhalten):

»Lucy, liebste Lucy.«

Madame de Brauver (macht sich los):

»Nein, lassen Sie mich.«

Maxime (drückt sie noch fester an sich):

»Lucy, ich bitte Sie (leise), ich flehe dich an, bleib – geh nicht im Zorn von mir fort. Ich versichre dich – ich schwöre dir, daß es nicht geht. Hörst du, was ich dir sage. Ich kann dich nicht in meinem Zimmer empfangen. Es ist einfach unmöglich. Komm, denk doch ein wenig nach. Glaubst du denn, daß, wenn es irgend möglich wäre – daß ich mir diese unsagbare Freude versagen würde?«

Madame de Brauver:

»Sie haben also eine Maitresse?«

Maxime:

»Nein.«

Madame de Brauver:

»Natürlich haben Sie eine Maitresse. Sie haben mich belogen, als Sie mir neulich sagten, daß Sie frei seien. – Wissen Sie noch, was Sie damals zu mir sagten, als Sie in Taons Wartezimmer anfingen, mir die Cour zu machen? oder haben Sie es schon wieder vergessen?«

Maxime:

»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie liebe und das ist auch wahr.«

Madame de Brauver:

»Sie haben mir aber auch gesagt, daß Sie noch nie ein Weib geliebt hätten – daß Sie ganz allein ständen – daß es ein gutes Werk sei, wenn ich Sie besuchen wollte, denn der »petit épicier de Montrouge«, von Francois Coppée gesungen, sei bei weitem nicht so interessant wie Sie, der kleine Advokat von Batignolles, der immer noch keine Prozesse zu führen hat. Kurz, Sie haben mir die Sache so dargestellt, daß ich mich wirklich entschlossen habe, Ihre vier Treppen hinaufzuklettern, erst einmal, dann noch einmal und dann heute wieder – heute – wo ich so thöricht gewesen bin, Ihnen alles zu gewähren.«

Maxime:

»Bereuen Sie es jetzt schon?«

Madame de Brauver:

»Beinah. Sie haben eine sehr eigentümliche Art und Weise, mir Ihre Dankbarkeit zu zeigen. Sie finden es augenscheinlich ganz selbstverständlich, daß Madame de Brauver – die Frau des Kommandanten Brauver – Ihnen ihre Tugend opfert, die sie bisher aufs strengste bewahrt hat. Sie bilden sich am Ende ein, weil mein Mann den Antrag auf Scheidung gestellt hat – dessen Grundlosigkeit Monsieur le Taon übrigens vor Gericht beweisen wird – daß ich mein Leben von jetzt an allen möglichen jungen Juristen von Paris widmen werde? – O da kennen Sie mich schlecht, mein Lieber. Was ich heute gethan habe, war eine Handlung, die ich selten – ich darf mit gutem Gewissen sagen – die ich noch nie in meinem Leben begangen habe.«

Maxime:

»Davon bin ich fest überzeugt. Vollkommen überzeugt! Derartige Gedanken liegen mir völlig fern. Meine schöne geliebte Lucy – geben Sie mir Ihre Hände, Ihre reizenden Hände – so – und hören Sie, was ich Ihnen sagen werde. Zuerst und vor allem bete ich Sie an – das glauben Sie mir doch, nicht wahr? Und dann – wenn ich Sie nicht so bei mir empfangen kann, wie Sie möchten und wie ich selbst es so brennend wünsche – so liegt es daran – sehen Sie, ich habe hier nicht allein zu befehlen – ich – (er zögert einen Augenblick) ich bin nicht allein.«

Madame de Brauver:

»Da haben wir's ja. Sie haben eine Maitresse, ich hab's ja gleich gesagt. Und es ist nicht schwer zu erraten, wer es ist. Natürlich diese Frau, die mir die Hausthür geöffnet hat, wenn ich kam – Sie hat mich so mißtrauisch und feindselig angesehen. Ich hab es mir gleich gedacht. Schon an der Art, wie sie mich von oben bis unten betrachtet hat. Ich kann Ihnen beim besten Willen keine Komplimente über den Gegenstand Ihrer Wahl sagen – sie ist wenigstens zwanzig Jahre älter wie Sie. Und dann – ein Dienstmädchen – Du lieber Gott. Ich verzichte darauf, mit dieser Küchenfee zu rivalisieren. Ich ziehe es vor, das Feld zu räumen.« (Sie macht Miene, zu gehen.)

Maxime (folgt ihr, ohne sie länger zurückzuhalten):

»Sie irren sich, Sie ahnen gar nicht, wie sehr Sie sich irren.«

Madame de Brauver:

»Nein, ich irre mich nicht. Mein Instinkt sagt mir, daß diese Frau keine gewöhnliche Dienstmagd ist, und sie muß früher sehr schön gewesen sein. Aber es steckt irgend etwas dahinter, ich bin ganz überzeugt davon. Wissen Sie noch, als ich vorgestern hier war, bat ich Sie um ein Glas Wasser, weil ich Durst hatte. Sie wollten durchaus nicht, daß ich dem Mädchen schellte. – Es wäre doch wirklich nichts dabei gewesen, ihr zu schellen und zu sagen: Bringen Sie ein Glas Wasser! Aber Sie wollten es durchaus nicht haben. Dann sind Sie selbst gegangen und haben das Wasser geholt. Ich begreife ganz gut, daß Sie dem Mädchen die Demütigung ersparen wollten, mich zu bedienen. – Es war übrigens meine Absicht, ihr eine kleine Freundlichkeit zu erweisen. Als ich das nächste Mal kam und sie mir wieder die Hausthür öffnete, habe ich ihr ein kleines Geldstück in die Hand gedrückt – es waren zehn Franks. Sie hat kein Wort gesagt, aber das Geldstück ist auf die Erde gerollt und sie hat es mit dem Fuß fortgestoßen – und dann –«

Maxime (er ist leichenblaß geworden):

»Sie haben meiner Mutter Geld angeboten?«

Madame de Brauver:

»Was – diese – diese Frau ist –?«

Maxime:

»Ja, es ist meine Mutter – meine elende, abscheuliche Eitelkeit hat mich daran gehindert, es Ihnen gleich zu sagen. – Diese Frau mit der blauen Schürze ist meine Mama. Und wollen Sie wissen wie es hat geschehen können, daß Sie sie für eine Dienstmagd gehalten haben? Nachdem sie Jahrelang mit der größten Aufopferung alles für mich hingegeben hat, bleibt ihr jetzt nichts mehr übrig, wie für mich zu arbeiten und mir ihren Stolz zum Opfer zu bringen – – und das thut sie Tag für Tag.«

(Er hält inne, die Bewegung schnürt ihm die Kehle zu.)

Madame de Brauver (verlegen):

»Es thut mir wirklich unendlich leid. Aber das konnte ich doch nicht ahnen.«

Maxime:

»Nein, das ist klar. Es ist einzig und allein meine Schuld – es wäre an mir gewesen –« (Er öffnet die Thür.) »Leben Sie wohl, Madame.«

Madame de Brauver:

»Adieu, mein Herr.«

(Sie geht langsam die Treppe hinunter und wartet darauf, daß Maxime ihr nachstürzen oder sie zurückholen wird. Aber er denkt nicht mehr an sie. Er ist in die Küche gegangen und jetzt liegt er auf den Knieen vor einer einfach gekleideten Frau, die ihr Gesicht mit der Schürze verhüllt und leise weint. Er küßt ihr die roten, aufgesprungenen Hände und murmelt immer wieder): »Vergieb mir, Mama, vergieb mir.«


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