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Schuld und Liebe

Madame Desclés, 46 Jahre alt,

Monsieur Desclés, 50 Jahre alt,

Victoire.

Scene: Eine elegante Wohnung am Boulevard Malesherbes Sieben Uhr abends mitten im Winter. Draußen schneit es.

Madame Desclés sitzt in ihrem Zimmer vor dem Schreibtisch und schreibt einen Brief. Sie ist zum Ausgehen angekleidet – einfache, dunkle Toilette, schwarzer Hut. Auf dem Stuhl neben ihr sieht man eine Reifetasche und einen Pelzmantel.

Victoire geht aus und ein und bringt das Zimmer in Ordnung.

Madame Descles (schreibt): – – »Um ihretwillen, um unserer Kinder willen verlasse ich Dein Haus. Sie haben mich darum gebeten. Gabriel wird mich heute abend abholen, wenn er aus dem Bureau kommt. Er will es nicht länger mehr dulden, daß ich hier bleibe und wochenlang auf Dich warte, ohne zu ahnen, wo Du überhaupt bist. – Er sagt, ich hätte genug gelitten, er will es nicht mehr mit ansehen. – Das Maß ist voll – es muß ein Ende gemacht werden. – Und Jean denkt ebenso wie sein Bruder. Sie wollen von jetzt an mit mir zusammenleben, für mich arbeiten. So werde ich den Rest meines Lebens, wenn ich auch nicht mehr glücklich sein kann, doch wenigstens in Ruhe und von meinen Mitmenschen geachtet, verbringen. Ich hätte gewünscht, Dir das alles mündlich sagen zu können – aber seit elf Tagen bist Du nicht mehr nach Hause gekommen. Wenn Du nicht Deine Kleider und Deine Wäsche hättest holen lassen, so hätte ich annehmen müssen, daß Du tot seist. Gestern hat man Dich beim Rennen gesehen, mit Madame Fertil. – Hüte Dich vor dieser Frau – sie ist schön, sie ist anziehend, aber denke daran, wie sie Monsieur de Sairés zu Grunde gerichtet hat. Er hat sich aus Verzweiflung eine Kugel durch den Kopf gejagt. Womit gedenkst Du sie zu bezahlen? Ich kann Dir nichts mehr geben, ich habe nichts mehr. Du hast alles durchgebracht, meine Mitgift, meine Schmucksachen – alles. Ich glaube, das Mobiliar hast Du auf meinen Namen schreiben lassen. –

Wenn Du es verkaufen kannst, so verkaufe es. Ich habe die Dienstboten abgelohnt. Josef hat 1000 Franks von mir verlangt, die er Dir geliehen haben will. Ist es wahr, daß Du sie ihm schuldig bist? Ich bin nicht in der Lage, sie ihm wiederzugeben. Ich habe nicht mehr so viel. 300 Franks nehme ich mit – es ist alles, was ich besitze. Es ist mir sehr unangenehm, daß ich Josef das Geld nicht geben kann. Der Mensch hat einen schlechten Charakter und ist schwatzhaft. Er soll die abscheulichsten Sachen über Dich herumerzählt haben. Ich rate Dir, wenn Du nach Hause kommst, gieb ihm sobald wie möglich sein Geld wieder und schick ihn dann sofort weg. – Aber wann wirst Du nach Hause kommen?«

Victoire:

»Madame!«

Madame Desclés:

»Nun, was giebt's?«

Victoire:

»Ich glaube, Monsieur kommt.«

Madame Desclés:

»Monsieur Gabriel?«

Victoire:

»Nein, Monsieur!«

(In diesem Augenblick wird rasch die Thür geöffnet und Monsieur Desclés erscheint. Victoire entfernt sich.)

Madame Desclés:

»Was? – was – du bist es?«

Monsieur Desclés:

»Ja, ich bin es. (Er ist leichenblaß und anscheinend erregt. Tiefe Schatten liegen unter seinen Augen, er sieht seine Frau ängstlich und verstört an.) Hat niemand nach mir gefragt?«

Madame Desclés:

»Nein.«

Monsieur Desclés:

»Ist das ganz gewiß?«

Madame Desclés:

»Ja, ganz gewiß.«

Monsieur Desclés (sinkt in einen Lehnstuhl):

»Ah – ich kann nicht mehr. (Dann schlägt er beide Hände vors Gesicht.) Ah!« –

(Pause. – Madame Desclés blickt stillschweigend auf ihren Mann, der völlig zusammengebrochen dasitzt. Dann zuckt sie leicht die Achseln, faltet ihren Brief zusammen, steckt ihn in das Couvert und legt ihn auf den Tisch. Dann nimmt sie ihren Mantel und geht auf die Thür zu. Monsieur Desclés blickt auf:)

»Wohin willst du? Willst du fortgehn?« Madame Desclés:

»Ja, ich gehe fort.«

Monsieur Desclés:

»Was? Du gehst fort – ganz fort?«

Madame Desclés:

»Ja.«

Monsieur Desclés:

»Für lange?«

Madame Desclés:

»Für immer.«

Monsieur Desclés:

»Du willst mich verlassen – du hast wohl genug von mir?«

Madame Desclés:

»Ja.«

Monsieur Desclés:

»Da hast du recht. Geh nur. Es ist das beste, was du thun kannst. Gerade in diesem Moment (bitter) – ja, gerade in diesem Moment. – Nun, warum gehst du denn nicht? Worauf wartest du noch?«

Madame Desclés:

»Ich warte auf Gabriel, er sollte mich abholen.«

Monsieur Desclés:

»Du willst mit zu ihm gehen?«

Madame Desclés:

»Ja, zu ihm und Jean. Wir drei wollen von jetzt an zusammenleben. (Pause.) Leb wohl, Lucien!«

Monsieur Desclés (kalt):

»Adieu!«

(Sie macht einige Schritte vorwärts. Als sie schon auf der Schwelle steht, wendet sie sich noch einmal um und wirft einen letzten Blick auf ihren Mann. Er hat das Gesicht wieder mit beiden Händen bedeckt, seine Finger beben und ein dumpfes Schluchzen ringt sich aus seiner Brust:)

Madame Desclés (ohne näher zu treten):

»Warum weinst du? Was fehlt dir?«

Monsieur Desclés:

»Nichts, nichts – es ist nichts. Laß mich allein – geh nur.«

Madame Desclés:

»Was ist dir geschehen? Sag, was ist dir geschehen?«

Monsieur Desclés (läßt die Hände sinken, sein Gesicht ist von furchtbarer Angst entstellt):

»Ich sag' dir ja, laß mich allein – ich muß allein sein. – Was kümmert es dich jetzt noch, ob mir etwas geschehen ist. Du hast dich ja für immer von mir losgesagt. – So geh doch – geh doch.«

Madame Desclés (nachdenklich):

»Ja – ja – ich – ich will fort (sie bleibt immer noch an der Thür stehen), aber kann ich dir wirklich nichts mehr helfen?«

Monsieur Desclés:

»Nein – jetzt nicht mehr.«

Madame Desclés (immer noch in der Thür):

»Weißt du das ganz gewiß – (Er giebt keine Antwort.) Sieh, wenn du weinst, muß etwas sehr Ernstes vorgefallen sein. Du weinst nicht leicht. So hab doch Vertrauen zu mir. Warum weinst du? Willst du es mir nicht sagen?«

Monsieur Desclés:

»Nein – du willst fort von mir. – Du willst mich verlassen – mich ganz allein lassen – gerade in dem Augenblick, wo eine schwere Gefahr –«

Madame Desclés:

»Gefahr? Was für eine Gefahr?«

Monsieur Desclés:

»Kannst du es dir denn nicht denken? Hast du denn nichts gesehen – nichts geahnt? (Er steht auf und geht mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.) Du hast gewußt, daß ich ein wahnsinniges Abenteurerleben führte – hast du denn nie daran gedacht, daß ich eines Tages den Hals dabei brechen könnte? – Nun, jetzt ist es glücklich so weit – es ist aus mit mir. Ich werde dies Zimmer nicht wieder verlassen. Es ist ein Wunder, daß es nicht schon längst so weit gekommen ist. Meine Söhne sind nicht so naiv wie du, sie wissen ganz gut, wie die Sache liegt. Deshalb haben sie sich auch von mir zurückgezogen – sie wollen nichts mehr von ihrem Vater wissen, sie empfinden nur noch Abscheu vor dem väterlichen Hause. O, sie haben es rasch begriffen. – Aber darum handelt es sich jetzt nicht. – Willst du wirklich wissen, was geschehen ist?«

Madame Desclés:

»Ja.«

Monsieur Desclés:

»Nun, ich warte darauf, daß man mich verhaften wird – es kann jeden Augenblick geschehen. Vielleicht noch heute abend – aber jedenfalls morgen früh.«

Madame Desclés:

»Verhaften? Warum? was hast du gethan?«

Monsieur Desclés:

»Ich habe gestohlen. – O, ich bitte dich, frag mich nicht nach den Einzelheiten. Begnüge dich mit der Thatsache – die ich nicht ableugnen kann, weil man mich auf frischer That ertappt hat. (Beide schweigen.) Nun – du schreist nicht auf – du wirst nicht ohnmächtig vor Entsetzen?«

Madame Desclés (mit leichenblassem Gesicht und weit aufgerissenen Augen, ihre Stimme klingt leise und pfeifend):

»Schweig – es ist jemand im Vorzimmer. Vielleicht ist es schon – (sie schaudert am ganzen Körper) vielleicht ist es die Polizei. Hörst du? (noch leiser) hörst du?«

Monsieur Desclés (ebenfalls schaudernd):

»Ja, ja, ich höre.« (Er faßt instinktiv ihre Hand und stützt sich auf sie. Eine Minute der entsetzlichsten Angst – dann öffnet sich die Thür und Victoire erscheint)

Victoire:

»Madame, Monsieur Gabriel ist da.«

Madame Desclés (atmet auf):

»Ach, lassen Sie ihn einen Augenblick im Salon warten.«

Victoire:

»Der junge Herr ist wieder hinuntergegangen. Er läßt Madame sagen, daß er sie unten im Wagen erwartet.«

Monsieur Desclés:

»Haben Sie ihm gesagt, daß ich hier bin?«

Victoire:

»Ja, Monsieur.«

Monsieur Desclés:

»Gut, tragen Sie die Reisetasche hinunter. Madame wird Ihnen gleich nachkommen.«

Victoire (will die Tasche nehmen, aber Madame Desclés faßt sie am Arm).

Madame Desclés:

»Lassen Sie sie noch da.«

Victoire (überrascht):

»Aber Madame!«

Madame Desclés:

»Lassen Sie sie da.«

Monsieur Desclés:

»Hast du vielleicht deinen Entschluß wieder geändert?«

Madame Desclés:

»Ja.«

Monsieur Desclés:

»Du willst nicht fort?«

Madame Desclés:

»Nein.«

Monsieur Desclés:

»Dann mußt du wenigstens Gabriel Bescheid sagen lassen.«

Madame Desclés (kurz):

»Das ist wahr. (Zu Victoire) Gehen Sie hinunter und sagen Sie meinem Sohn, daß ich nicht kommen kann. Er soll nicht auf mich warten. Ich werde ihm schreiben.«

Victoire (ärgerlich):

»Gut, Madame. – Und der große Koffer?«

Madame Desclés:

»Lassen Sie ihn wieder heraufbringen.«

(Victoire wirft einen mißtrauischen Blick auf die beiden und geht dann langsam hinaus.)


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