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Das Asyl

Ein großes, niedriges Gebäude am Montparnasse, dicht bei den Festungswällen. Das Haus macht einen freundlichen, hellen Eindruck. Zu beiden Seiten der Thür sind weiße Marmortafeln angebracht, die in goldenen Buchstaben die Inschrift tragen: »Arbeitsasyl für schwangere Frauen«.

Mlle. Basles, 37 Jahre alt, sie ist groß und schlank, ihr Gesicht trägt die Spuren einstiger Schönheit.

Julien Loran, 42 Jahr. Ein stattlicher blonder Mann, äußerst elegant mit etwas geckenhaftem Anstrich.

Mlle. Basles sitzt vor ihrem Sekretär in dem kleinen Zimmer, das zugleich als Bureau und als Salon dient und dessen ganze Einrichtung aus einem kleinen Nähtisch, einem Stuhl und einem Lehnsessel besteht. Sie hält Juliens Visitenkarte in der Hand und dreht sie unentschlossen, mit nachdenklichem Gesicht hm und her. – Neben ihr steht eine Krankenwärterin in grauem Kleid und weißer Schürze und scheint aus einen Befehl zu warten.

Mlle. Basles:

»Wo ist der Herr, Célestine?«

Célestine:

»Im Korridor, gnädiges Fräulein.«

Mlle. Vasles:

»Und er besteht darauf, vorgelassen zu werden?«

Célestine:

»Er hat gesagt, daß er mit der Vorsteherin zu sprechen wünscht.«

Mlle. Vasles:

»Gut denn. (Célestine will hinausgehen.) Nein, warten Sie noch. Wissen Sie ganz bestimmt, daß Sie ihm gesagt haben, ich sei zu Hause?«

Célestine:

»Ja, gnädiges Fräulein.«

Mlle. Vasles:

»So, dann laß ich bitten.«

(Célestine geht. Einen Augenblick später führt sie Julien herein.)

Mlle. Vasles (reicht ihm die Hand):

»Guten Tag, Julien.«

Julien:

»Guten Tag, Martha.«

Mlle. Vasles:

»Sie müssen entschuldigen, daß ich Sie so lange habe warten lassen, aber –«

Julien:

»Sie haben sich wohl erst besonnen, ob Sie meinen Besuch annehmen wollten?«

Mlle. Vasles:

»Ja, offen gesagt, ich konnte mich nicht gleich entschließen. – Aber nehmen Sie doch Platz.«

Julien (setzt sich):

»Ich danke Ihnen, daß Sie es dennoch gethan haben. – Denken Sie sich, daß ich seit vier Wochen aus Tunis zurück bin und erst gestern Ihre Adresse erfahren habe, noch dazu ganz zufällig.«

Mlle: Vasles:

»Wirklich?«

Julien:

»Ja, mein Freund Doktor Miquel hat mir von Ihnen gesprochen.«

Mlle. Vasles:

»Wahrscheinlich kennt er einen von unseren Anstaltsärzten.«

Julien:

»Ja, den Doktor Touron.«

Mlle. Vasles:

»Aha.«

Julien:

»Und – es geht Ihnen gut?«

Mlle. Vasles:

»Ausgezeichnet sogar.« (Er blickt sie aufmerksam an.) – »Warum sehen Sie mich so an? – Ich habe mich wohl sehr verändert, wie?«

Julien (galant):

»Kaum, nur ein leichter heller Schimmer in Ihren schönen schwarzen Haaren.«

Mlle. Vasles (einfach):

»Ja, ich werde schon sehr grau. – Aber Sie sind noch ganz derselbe wie früher.«

Julien (in leichtem Konversationston):

»Man wehrt sich eben so gut man kann – aber trotzdem haben diese zehn Jahre –«

Mlle. Vasles:

»Zwölf.«

Julien:

»Sind es wirklich schon zwölf Jahre?«

Mlle. Vasles:

»Ja, ich weiß es ganz bestimmt.«

Julien:

»Mein Gott, wie die Zeit fliegt. Schon zwölf Jahre. – Nein, es ist unmöglich.«

Mlle. Vasles:

»Ich war damals 25 – jetzt bin ich 37 – rechnen Sie nur nach.«

Julien:

»Sie haben recht, zwölf Jahre.«

(Beide schweigen und blicken vor sich hin, als ob sie an längst vergangene Zeiten dächten.)

Julien:

»Glauben Sie mir, gestern, als Doktor Miquel Ihren Namen nannte, war mir zu Mut, als ob ich einen Schlag vor die Brust bekäme.«

Mlle. Basles:

»Ist das wirklich wahr?«

Julien:

»Ich schwöre Ihnen, daß es wahr ist. (Er schlägt sich vor die Brust.) Sehen Sie, so. Es ist keine Übertreibung, daß ich förmlich geschwankt habe.«

Mlle. Basles:

»Die Reue!«

Julien:

»Vielleicht ja. – Ich habe in diesem einen Moment unseren ganzen Roman noch einmal in Gedanken durchlebt, unseren schönen kurzen Roman. (Er hält inne und fährt dann mit gedämpfter Stimme fort.) Martha, ich habe wie ein Schurke an Ihnen gehandelt.«

Mlle. Basles:

»An mir? Nein – meinetwegen brauchen Sie sich keine Vorwürfe zu machen, aber an Rose haben Sie ein schweres Verbrechen begangen.« Julien:

»Sie meinen jenes Mädchen?«

Mlle. Vasles:

»Ja, meine damalige Kammerjungfer. Sehen Sie, Julien, nach meiner Ansicht liegt Ihre Schuld nicht darin, daß Sie als mein Verlobter in meinem eignen Hause ein Verhältnis mit dem Mädchen anfingen, sondern –«

Julien:

»Und doch hat Ihre Mutter aus diesem Grunde unsere Verlobung rückgängig gemacht –«

Mlle. Vasles (fortfahrend):

»Sondern darin, daß Sie die Unglückliche verließen, wie sie schon ein Kind von Ihnen unter dem Herzen trug. Sie hat sich nicht mehr zu helfen gewußt und hat in ihrer Verzweiflung den Tod gesucht.«

Julien:

»Rose hat sich umgebracht? – Das glaube ich nicht.«

Mlle. Vasles:

»Es ist die volle Wahrheit.«

Julien:

»Wann denn?«

Mlle. Vasles:

»Gleich, nachdem Sie nach Tunis gegangen sind.«

Julien (etwas bleich geworden):

»Nun, und – und das Kind?«

Mlle. Vasles:

»Sie hat es mit sich hinabgenommen.«

Julien:

»Aber – aber das ist ja eine Tragödie – eine entsetzliche Tragödie, was Sie mir da erzählen, liebe Freundin.«

Mlle. Vasles:

»Ja, das ist es auch, aber eine Tragödie, die nicht zu den Seltenheiten gehört. Es kommt fast alle Tage vor, daß ein verlassenes Mädchen sich umbringt. Um wenigstens ein Paar von diesen Unglücklichen zu retten, habe ich dieses Asyl gegründet.«

Julien:

»Was? – In dem Gedanken an Rose haben Sie das gethan?«

Mlle. Vasles:

»Ja.«

Julien:

»Sie haben – Und ich Thor bildete mir ein –«

Mlle. Vasles:

»Was denn?«

Julien:

»Nein, ich schäme mich, es Ihnen einzugestehen, was ich in meiner blödsinnigen Eitelkeit mir einzureden versuchte.«

Mlle. Vasles (mit wehmütigem Lächeln):

»Mein Gott, lieber Freund. Vielleicht war auch etwas persönlicher Schmerz mit dabei – ich war sehr unglücklich damals, das wissen Sie wohl. Und dann habe ich mich auf die Wohlthätigkeit geworfen – ohne eigentlich den inneren Beruf dazu zu fühlen, etwa so wie andere Frauen in der Religion Trost suchen, wenn ihnen das Leben zu weh gethan hat. Aber jetzt habe ich wirklich den inneren Beruf – o, Sie ahnen gar nicht, wie glücklich ich mich dabei fühle. Wenn ich Ihnen sage, daß ich mich für nichts auf der Welt mehr interessiere, wie für mein Asyl und meine Schützlinge.«

Julien:

»Haben Sie denn viele?«

Mlle. Vasles:

»Vierzig! Mein Haus ist nicht sehr groß, aber gut in Ordnung gehalten. Wollen Sie es sich nicht einmal ansehen?«

Julien:

»Mit Vergnügen – aber warten Sie noch ein wenig. – Sagen Sie mir nur noch eins – Sie haben dieses Werk aus Ihren eigenen Mitteln gegründet?«

Mlle. Vasles:

»Nun freilich.«

Julien (naiv):

»Aber niemand ahnt etwas davon – ich habe nie darüber sprechen hören.«

Mlle. Vasles (lächelnd):

»O, ich habe auch keine Notizen an die Zeitungen geschickt.«

Julien:

»Aber Sie müssen sich ja ganz zu Grunde richten, wenn Sie all diese Leute auf eigene Kosten unterhalten. Vierzig Frauen, das mag ein schönes Stück Geld kosten.«

Mlle. Vasles:

»Ja, und bedenken Sie nur, daß sie alle für zwei essen. Und glauben Sie nicht, daß ich ihnen etwas Schlechtes vorsetze. – Nein, sie bekommen alle Tage ihren guten Braten und Gemüse dazu. – Apropos –«

Julien:

»Was denn?«

Mlle. Vasles:

»Haben Sie Ihr Gut immer noch?«

Julien:

»Nun freilich.«

Mlle. Vasles:

»Wissen Sie, was Sie thun könnten, wenn Sie sehr liebenswürdig sein wollen?«

Julien:

»Aber gewiß will ich liebenswürdig sein.«

Mlle. Vasles:

»Dann denken Sie an uns, wenn die Obstzeit kommt und schicken Sie uns ein paar Körbe mit Kirschen. Sie ahnen gar nicht, wie meine Frauen hinter so etwas her sind – wie die Kinder. Sie sollten nur einmal sehen, wie sie über ihr Dessert herfallen.«

Julien:

»Ich werde Ihnen jede Woche einen großen Korb mit Obst herüberschicken.«

Mlle. Vasles:

»Herzlichen Dank.«

Julien:

»Ist das alles. Brauchen Sie sonst nichts? Milch zum Beispiel?«

Mlle. Vasles:

»O, ich will Sie aber doch nicht so ausnutzen.«

Julien:

»Es wird mich nur freuen, wenn ich ein wenig an Ihrem Werk mitarbeiten darf. Wirklich, Sie brauchen sich nicht zu genieren. Sie kennen ja unsere Meierei und wissen, daß die Milch vorzüglich ist. Soll ich Ihnen welche schicken?«

Mlle. Vasles (mit hellem, jugendlichem Lachen):

»Nun also. Dann schicken Sie mir nur Ihre Milch. Gerade jetzt habe ich sechs Frauen, die eine Milchkur brauchen. Da wird es mir eine große Hilfe sein. (Sie erhebt sich.) Aber jetzt will ich Ihnen mein Asyl zeigen, Sie müssen alles sehen, die Schlafsäle, den Arbeitsraum –«

Julien:

»Sie lassen Ihre Schützlinge also auch arbeiten?«

Mlle. Vasles:

»O, nur wenn sie wollen. Gezwungen werden sie nicht dazu. Und was sie damit verdienen, gehört ihnen selbst – ohne Abzug.«

Julien:

»Sind viele hübsche Frauen darunter?«

Mlle. Vasles:

»O, in diesem Zustand ist eine Frau sehr selten hübsch, selbst in guten und glücklichen Verhältnissen. Und da es meist arme verlassene Mädchen sind – –«

Julien:

»Das ist wahr. – Aber wissen Sie, nach dem, was Sie mir von Rose erzählt haben, ist mir heute nicht danach zu Mut, diese unglücklichen Frauen zu sehen. All die alten Erinnerungen – – Es würde mir zu weh thun. Lieber ein anderes Mal. – Nicht wahr, Sie verstehen mich?«

Mlle. Vasles (mit einem Lächeln, in dem ein leichter Anflug von Ironie liegt):

»O ja. Aber werden Sie wirklich wiederkommen?«

Julien:

»Aber was denken Sie denn von mir? Ich verspreche Ihnen, daß ich komme.« (Er geht rasch auf die Thür zu, Mlle. Vasles begleitet ihn.)

Julien:

»Auf Wiedersehen. Auf baldiges Wiedersehen, liebste Freundin!«

Mlle. Vasles (mit tiefer, voller Stimme):

»Leben Sie wohl, Julien.«


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