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Die »Gailhardine«

Die Scene spielt im Entresol eines der großen neuen Häuser am Boulevard de Courcelles.

Es ist neun Uhr morgens, an einem dunkeln, regnerischen Herbsttag.

Madame Leclère, 50 Jahre alt, eine kleine, zierliche Frau, die früher entzückend schön gewesen sein muß. Ihr feines Gesicht mit dem krausen blonden Haar wäre vielleicht immer noch hübsch, aber es ist von zahllosen tiefen Falten durchfurcht und die tiefumringten Augen haben einen scheuen, ängstlichen Ausdruck.

Madame Leclère trägt ein etwas altmodisches schwarzes Kleid mit einer schwarzen Tüllrüsche um den Hals und einen dunkeln Strohhut mit Veilchen garniert.

Sie steht schon über eine Stunde in dem Vorzimmer, das mit übertriebenem Luxus eingerichtet ist und wartet darauf, vorgelassen zu werden. Obgleich sie die Erste gewesen ist, ist ihr immer wieder jemand anders zuvorgekommen: erst ein Priester, dann ein Mann in Radfahrerkostüm, dann wieder zwei Damen, erst eine alte und dann eine junge, die mit ihrem geschminkten Gesicht und dem roten Samtbarett fast wie ein Page aus irgend einer Operette aussieht – schließlich noch ein ernstblickender Herr mit einer Ledertasche unter dem Arm.

Aber jetzt ist sie an der Reihe. Ein Diener führt sie in das Sprechzimmer des Arztes. – Es ist der berühmte Doktor Gailhardin, der ein allgemein bekanntes Lebenselixir, die »Gailhardine«, erfunden hat. Monsieur Gailhard ist ein korpulenter Herr mit dunklem Haar und struppigem, graugesprenkeltem Bart. Seine scharfen blauen Augen haben einen Stich ins Grünliche, und die starken Kinnladen, die dicken, roten Lippen geben seinem Gesicht etwas Brutales. Er sitzt in seinem Lehnstuhl vor dem Schreibtisch. Als er Madame Leclère eintreten sieht, richtet er sich plötzlich auf und blickt sie erstaunt an.

Monsieur Gailhard:

»Sie sind es?«

Madame Leclère:

»Ja, ich bin es.«

Monsieur Gailhard (nimmt einen Zettel vom Tisch):

»Madame Helbor? – Heißen Sie denn jetzt Helbor?«

Madame Leclère:

»Helbor ist mein Mädchenname – ich habe gedacht, wenn ich meinen wirklichen Namen angäbe –«

Monsieur Gailhard (barsch):

»Setzen Sie sich.« (Sie setzt sich, ihre Hände beben, man sieht, daß sie sehr erregt ist.)

Monsieur Gailhard:

»Waren Sie nicht schon einmal hier?«

Madame Leclère:

»Ja, vorige Woche – aber man sagte mir, Sie seien auf der Jagd,«

Monsieur Gailhard (eitel):

»Ja, mein Freund, der Herzog von Abbeville, hatte mich zur Jagd eingeladen. (Pause.) Nun – Sie haben mir etwas zu sagen? – Um was handelt es sich? (Er blickt auf die Uhr.) Schon 20 Minuten über neun. Sie müssen entschuldigen, wenn ich Sie bitte, sich zu beeilen. Ich habe heute sehr wenig Zeit. Um ein Viertel nach zehn muß ich im Laboratorium sein. (Er richtet sich hoch auf und sieht sie hart, beinahe feindselig an.)

Madame Leclère (zögernd):

»Sie entschuldigen – ich – ich bin etwas verwirrt. Ich habe gewiß nicht erwartet, daß Sie sich gerade über meinen Besuch freuen würden – aber – aber auf einen solchen Empfang war ich doch nicht gefaßt – nach allem, was – das hätte ich nicht für möglich gehalten – nach allem, was –« (Sie wendet das Gesicht ab, um ihre Thränen zu verbergen.)

Monsieur Gailhard:

»Aber ich bitte Sie! Lassen Sie sich nicht so gehen. Nehmen Sie sich zusammen. Sie werden doch nicht etwa darüber weinen, daß ich Ihnen jetzt – nach sieben Jahren! – nicht ohne weiteres zu Füßen falle. Für solche Kindereien sind wir jetzt beide zu alt. – Lassen Sie uns also vernünftig miteinander reden, ich bitte Sie. Sie haben irgend ein Anliegen an mich, nicht wahr? Sagen Sie mir, um was es sich handelt.«

Madame Leclère (Ihre Thränen gewaltsam bezwingend):

»Ja, Sie haben recht. – Ich will Ihnen sagen, weshalb ich gekommen bin: ich wollte Sie bitten, mir zu helfen – das für mich zu thun, was ich damals vor zehn Jahren mit tausend Freuden für Sie gethan habe. – Sie brauchten damals 20 000 Franks, um die »Gailhardine« zu lancieren. Ich war in der Lage, Ihnen die Summe zu geben – es war alles – was ich besaß. Ich habe es Ihnen ohne weiteres mit Freuden gegeben – nicht wahr, das wissen Sie noch?«

Monsieur Gailhard:

»Ja, das ist wahr. Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß ich Ihnen Ihre 20 000 Franks innerhalb drei Jahren mit hohen Zinsen zurückgezahlt habe. – Was verlangen Sie denn jetzt noch von mir?« Madame Leclère:

»Ich habe nichts von Ihnen zu verlangen. Ich weiß, daß Sie mir nichts mehr schuldig sind. – Aber ich – ich bin in einer so entsetzlichen Lage, daß ich mich keinen Augenblick besinnen würde, mir das Leben zu nehmen, wenn ich allein auf der Welt dastände. Nur um meiner Tochter willen habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen. Ihr Mann ist gestorben und hat sie mit ihren drei Kindern im tiefsten Elend zurückgelassen. Es ist meine Pflicht, nichts unversucht zu lassen, was sie und ihre Kleinen retten könnte. (Pause – dann fährt sie mit leiser, unsicherer Stimme fort.) Adrien, wollen Sie mir – wollen Sie uns 10 000 Franks leihen?«

Monsieur Gailhard (fährt auf):

»10 000 Franks?«

Madame Leclère:

»Ja.«

Monsieur Gailhard:

»10 000 Franks? – Aber wo denken Sie hin? So viel habe ich ja selbst nicht. – Ah, meine teure Freundin, Sie scheinen zu glauben, daß ich ein reicher Mann bin, weil ich mit der »Gailhardine« Glück gehabt habe und weil Sie sehen, daß ich jetzt anständig eingerichtet bin. – Aber da sind Sie sehr im Irrtum. Ich bin nicht reich – Gott bewahre. – Im Gegenteil, ich bin oft in der größten Verlegenheit, Sie haben keine Ahnung, was allein die Reklame kostet und ich habe mit allen großen Zeitungen Verträge abgeschlossen. Und dann mein Haushalt. – Mein Haushalt richtet mich einfach zu Grunde. Meine Frau ist nicht imstande zu rechnen – sie hat keine Ahnung von dem Werte des Geldes – sie wirft es förmlich zum Fenster hinaus.

Mein Gott, wenn ich an Ihre Sparsamkeit denke. Was Sie mit dem bischen Geld alles möglich zu machen wußten – all die guten kleinen Gerichte, die Sie mir auf dem Ofen meiner Junggesellenwohnung bereiteten. Ich fühle, daß diese Erinnerungen mich ungerecht machen – gegen meine Familie und gegen alle andern – vor allem gegen meinen Koch, der mich mit seinen kostspieligen Leckerbissen zu Grunde richtet. (Er bemüht sich, tief aufzuseufzen.) – Ach nein, ich bin nicht so gut daran, wie Sie glauben. Ich habe ungeheure Verpflichtungen, denen ich nachkommen muß. Wenn ich Ihnen sage, daß ich mich schon lange besinne, ob ich mir eine Automobile leisten kann oder nicht! – Nicht wahr, das wundert Sie? Aber es ist wirklich so. Die »Gailhardine« bringt mir 100 000 Franks Reingewinn im Jahr ein und dabei bin ich nicht in der Lage, mir eine Automobile zu kaufen.«

Madame Leclère:

»Ich will ja nicht die Summe selbst – ich bitte Sie nur, Bürgschaft für mich zu leisten. Meine Tochter und ich möchten ein kleines Papiergeschäft übernehmen, aber man verlangt 10 000 Franks Kaution. Ihre Bürgschaft würde genügen. Adrien, ich bitte Sie – ich flehe Sie an – ich versichere Ihnen, daß es mir namenlos peinlich ist, mit diesem Anliegen zu Ihnen zu kommen. Es thut mir weh, Sie daran erinnern zu müssen, was ich Ihnen einst gewesen bin. – Ich rechne es mir ja nicht zum Verdienst an, daß ich mich damals für Sie aufgeopfert habe – es geschah ja nur aus Liebe. Und doch werden Sie sich vielleicht noch daran erinnern, daß die »Gailhardine« eigentlich meine Idee war. Wissen Sie noch – es war an einem Sonntag Abend. Sie tranken ein Glas Marianiwein und da sagte ich zu Ihnen: ›Da du bei all deiner Begabung immer noch keine Praxis hast, solltest du es einmal versuchen, so einen Gesundheitswein zu erfinden.‹

›Aber woraus?‹ antworteten Sie. Und dann riet ich Ihnen alle möglichen Sachen, aus denen er zusammengesetzt werden sollte. Und es gelang wirklich, und wir waren so glücklich, Adrien – wissen Sie noch, wie selig wir waren, als Sie die erste Flasche »Gailhardine« verkauft hatten – um 14 Franks und sie war uns nur auf 1 Frank 85 zu stehen gekommen. Wir haben getanzt vor Freude, wir waren beide ganz toll vor Freude.« (Von der Erinnerung überwältigt, fängt sie an zu schluchzen.)

Monsieur Gailhard (steht auf):

»Beruhigen Sie sich. – Ich weiß ganz gut, was ich Ihnen verdanke. Es war überflüssig, daß Sie es mir noch einmal erzählten – und noch dazu so laut – (Er geht an die Thür und vergewissert sich, ob auch niemand im Vorzimmer ist.) – Aber es ist nicht gerade großmütig von Ihnen gehandelt, daß Sie mich dadurch zwingen wollen, 10 000 Franks aus der Kasse zu nehmen, ohne meinen Associé über deren Verwendung aufklären zu können. Denn ich führe das Geschäft nicht allein. – Und was die Bürgschaft betrifft, die ich für Sie leisten soll – das ist unmöglich – absolut unmöglich.«

Madame Leclère (mit gebrochener Stimme):

»Warum?«

Monsieur Gailhard:

»Erlassen Sie es mir, Ihnen die verschiedenen Gründe aufzuzählen. Es mag Ihnen genügen, wenn ich Ihnen sage, daß meine Frau nichts von Ihrer Existenz ahnt. Wenn ich plötzlich sterben sollte, würde sie aufs höchste erstaunt sein, wenn sie etwas davon erführe. – Es thut mir sehr leid, aber ich muß Ihnen offen sagen, daß Sie nicht auf mich rechnen dürfen. Wozu soll ich unnütze Hoffnungen in Ihnen erwecken? – Es ist völlig ausgeschlossen, daß ich Ihnen helfen kann.«

Madame Leclère (bricht in Thränen aus).

Monsieur Gailhard (kalt):

»Therese, fassen Sie sich. Ich muß gleich gehen, ich muß ins Laboratorium.«

Madame Leclère (erhebt sich mühsam. Sie trocknet ihre Augen, zieht den Schleier vors Gesicht und geht auf die Thür zu:)

»Ja, ich gehe schon – ich gehe schon.«

Monsieur Gailhard (folgt ihr):

»Wo wohnen Sie? Lassen Sie mir Ihre Adresse hier.«

Madame Leclère:

»Wozu?«

(Sie öffnet die Thür, Monsieur Gailhard geleitet sie durch das Vorzimmer und sagt dann absichtlich laut:)

»Auf Wiedersehen, Madame, es freut mich, daß die »Gailhardine« Ihnen so gut bekommt. Ich werde Ihnen also noch sechs Flaschen schicken. Ich empfehle mich Ihnen.«

(Dann zieht er sich mit einer tiefen Verbeugung zurück. Als die Hausthür sich hinter ihr geschlossen hat, wendet er sich an den Diener:)

»Sie haben die Dame gesehen, nicht wahr? – Wenn sie jemals wiederkommen sollte, bin ich nicht zu sprechen.«


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