Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Onkel

Henri Chorsan. 32 Jahre alt.

Emma Chorsan, 26 Jahre alt.

Rue Victor-Massé, eine kleine Wohnung im 5. Stock auf den Hof hinaus.

Es ist ein Sommerabend. Emma in einem stark verblichenen und verwaschenen Peignoir aus rosa gestreiftem Oxford. Sie ist damit beschäftigt den Tisch zu decken, den sie nah ans Fenster herangerückt hat. Durch die offenstehende Thür sieht man in eine dunkle Küche, in der nur eine kleine Petroleumlampe brennt.

Henri ist eben nach Hause gekommen und kleidet sich um. Er zieht ein leinenes Jackett an und pfeift dabei vor sich hin.

Henri:

»Sag' mal, Mama!«

Emma:

»Was denn, mein Schatz?«

Henri:

»Können wir bald essen?«

Emma:

»Ja, in zwei Minuten – hast du Hunger?«

Henri:

»Und wie! Giebt es denn was Gutes heut?«

Emma:

»Ich hab' ein Huhn gekauft.«

Henri:

»Donnerwetter!«

Emma:

»O, es war nicht teuer.«

Henri:

»Ein Gelegenheitskauf?«

Emma:

»Du willst mich wohl auslachen? Denk dir, es hat nur 2 Francs 50 gekostet. Mit Reis und Tomatensauce ist es ein sehr ausgiebiges Essen. Du wirst schon sehen.«

Henri:

»Hast du denn auch 'was Kaltes dazu?«

Emma:

»Ja, Bohnensalat.«

Henri:

»Aber ohne Zwiebeln hoffentlich?«

Emma:

»Ja, ohne Zwiebeln. – Willst du nach dem Essen noch ausgehen?«

Henri:

»Ich muß noch auf einen Moment zu Max Julien, ich bin ihm vorhin begegnet. Er will mich mit einem Intimus von Carré, dem Direktor der Opera Comique bekannt machen. Der Mann soll sehr einflußreich sein und kann jedenfalls eine nützliche Bekanntschaft für mich werden.«

Emma:

»Ist Carré denn jetzt in Paris?«

Henri:

»Nein, ich glaube kaum. Aber er wird ihm von mir erzählen, verstehst du? sowie er zurückkommt.«

Emma:

»O, aber Carré wird dich doch wenigstens dem Namen nach kennen?«

Henri:

»Schwerlich.«

Emma:

»Aber ich bitte dich. Vorige Woche hat er doch erst eine von deinen Schülerinnen engagiert? Er wird doch wissen, bei wem sie gelernt hat. Er muß doch wissen, wer der Komponist des Grêlon-Walzers ist!«

Henri (lachend):

»Du bist wunderbar. Glaubst du wirklich, daß er sich dafür interessiert, bei wem seine Choristinnen studiert haben?«

Emma:

»Erstmal ist Mlle. Caille keine Choristin. Sie wird in kleinen Rollen beschäftigt, und dann, mein Lieber – der Autor eines Walzers, der in ganz Paris gespielt wird, ist doch keine unbekannte Größe. Ein Operettendirektor hat überhaupt gar nicht das Recht dich nicht zu kennen.«

Henri (scherzend):

»Schaut mir doch die kleine Frau an, wie sie ihren Mann in Schutz nimmt. (Er umarmt sie.) Den Teufel auch. Wenn ich nicht noch mal ein berühmtes Talent werde mit einem ganzen Sack voll Geld – dann ist es gewiß nicht deine Schuld. (Er klopft sich auf die Stirn.) Nein, dann hab' ich wirklich nichts da drin, dann bin ich einfach ein Kretin, ein talentloser Kretin. (Er umarmt sie noch einmal.) Du Goldkind. – So, aber nun gieb uns zu futtern, ich komme um vor Hunger.«

Emma:

»Ja, es ist alles fertig. – O Schatz, aber ich habe vergessen in den Keller zu gehen. Willst du es für mich thun, es wäre zu lieb von dir.«

Henri:

»Mit Vergnügen. Gieb mir nur den Korb und den Schlüssel.« (Sie giebt es ihm. Während er fort ist, schneidet sie Brot in die Suppe, stellt eine Karaffe mit Wasser auf den Tisch und macht alles fertig. Dabei trällert sie dieselbe Melodie vor sich hin, die ihr Mann vorhin gepfiffen hat. Selbstverständlich ist es der Grêlon-Walzer.)

Henri (kommt zurück, er stellt den Korb auf die Erde und schwingt einen Brief in der Hand):

»Mama, eine große Neuigkeit.«

Emma:

»Eine gute?«

Henri:

»Brillant sogar – dein Onkel Silvain ist gestorben.«

Emma (ergriffen):

»Nein, wirklich?«

Henri:

»Nun, ich sag's dir ja. Freitag Abend um 10 Uhr ist er zusammengeklappt. Schau her.«

Emma (entfaltet den Brief und liest laut vor):

»Ach – vom Rechtsanwalt –«

»Madame,

Ich beehre mich Ihnen mitzuteilen, daß Ihr Onkel mütterlicherseits, Monsieur Silvain Duvale, gestern, Freitag, abends um 10 Uhr in seiner Wohnung, rue de Rivoli 378, verstorben ist.

Da Sie die einzige Erbin des Verstorbenen sind, fällt Ihnen das nicht unbeträchtliche Vermögen desselben zu. Ich ersuche Sie deshalb am Montag oder Dienstag Morgen bei mir vorzusprechen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Cyrille Envoix, Notar.«

(Pause. Emma faltet den Brief mechanisch wieder zusammen):

»Also ist Onkel Silvain wirklich tot!«

Henri:

»Nun, da ist eben ein alter Taugenichts weniger auf der Welt.«

Emma:

»O Henri!«

Henri:

»Warum ›O Henri‹ – war dein Onkel etwa kein alter Taugenichts?«

Emma:

»Nun ja, aber jetzt, wo er tot ist.« –

Henri:

»Achtung vor seinen Gebeinen, nicht wahr?

Nein, mein Schatz, siehst du, das ist etwas, was mich geradezu wütend machen kann – wenn man vor dem größten Scheusal auf einmal Respekt haben soll, nur weil es tot ist. – Freitag Abend um ¾ 10 Uhr war dein Onkel Silvain noch der größte Schurke, den man sich denken kann – ein Mann, der die armen Leute unbarmherzig ausgebeutet, der ihnen ohne einen Funken von Mitleid das Geld aus der Tasche gelockt hat – habe ich Recht oder nicht? – Und von 10 Uhr an ist er plötzlich eine Respektsperson für mich. Sei so gut und sag' mir weshalb? Nur, weil er gestorben ist, weil er zum erstenmal etwas gethan hat, was keinem anderen Schaden bringt – und noch dazu unfreiwillig – nein, mein Kind. – –

So, aber jetzt komm und gieb mir etwas Suppe, sie ist gewiß schon kalt.«

(Sie setzen sich zu Tisch. Emma reicht ihm Suppe, sie fangen stillschweigend an zu essen. Beide sind augenscheinlich ganz mit ihren Gedanken beschäftigt.)

Henri:

»Ich möchte doch wissen, was Monsieur Envoix unter einem ›nicht ganz unbeträchtlichen Vermögen‹ versteht.«

Emma:

»Das ahne ich auch nicht.«

Henri:

»2 bis 300 000 Francs, vielleicht noch mehr. Da sind wir fein heraus (er schiebt den Teller zurück). Komisch, ich habe gar keinen Hunger mehr. Die Geschichte ist mir förmlich in den Magen gefahren – es ist so sonderbar, zu denken, daß wir jetzt mit einemmal reiche Leute sind.«

Emma (einfach – während sie das Huhn tranchiert):

»Hast du die Absicht es anzunehmen?«

Henri:

»Was?«

Emma (während sie ihm vorlegt):

»Onkel Silvains Vermögen.«

Henri:

»Nun natürlich! Warum nicht? da du doch seine Erbin bist.«

Emma:

»O du weißt, mir liegt nichts dran. Wenn es sich nur um mich handelt (sie giebt ihm Sauce auf den Teller). Mir wäre es ebenso lieb, wenn wir so weiterlebten wie jetzt.«

Henri:

»In dieser ewigen Geldnot – ich bitte dich.«

Emma:

»Nein, es ist ganz mein Ernst. Ich fühle mich sehr glücklich so – soll ich dir offen meine Meinung sagen? Versprichst du mir, daß du mich nicht auslachen willst?«

Henri:

»Ja, das versprech ich dir.«

Emma:

»Siehst du, ich würde mich viel mehr freuen, wenn du einen oder zwei Schüler mehr bekommst, als wenn wir auf diese Weise plötzlich reich würden. Nicht wahr, das ist furchtbar dumm von mir?«

Henri (nachdenklich):

»Denk nur, was man alles mit 300 000 Francs thun könnte.«

Emma (während sie den Salat anrichtet):

»Vor allem könnte man sie all den Unglücklichen wiedergeben, die mein Onkel betrogen und ins Elend gebracht hat. Dann würden wir wirklich Freude daran haben.«

Henri:

»Ist das dein Ernst?«

Emma:

»Ja, vollkommen.« Henri:

»Bist du verrückt geworden? Höre mal, du redest wie ein Kind von sechs Jahren. Hast du jemals gesehen, daß man zum Beispiel in einem Laden sein Geld wieder zurückbekommt.«

Emma:

»Aber du hast doch selbst eben noch gesagt, daß Onkel Silvain ein altes Scheusal war, das die armen Leute ausgebeutet hat. Könntest du dich denn wirklich entschließen sein Geld anzunehmen, an dem so viel Thränen, so viel Blut und Elend klebt? – Pfui, nein, mir graut davor. Geh, Henri, ich weiß, daß du ebenso fühlst wie ich. Du bist zu gut, du wärest gar nicht imstande dich an dem zu freuen, was so viele unglücklich gemacht hat. Nein, ich kenne dich, Henri, du hättest das Geld auch nicht genommen, du hättest dich geschämt es zu nehmen.«

Henri (ganz bestürzt):

»Glaubst du wirklich?«

Emma:

»Ich bin fest überzeugt davon. (Sie steht auf und setzt sich ihm auf den Schoß.) Hab doch Vertrauen zu deiner kleinen Mama, mein Schatz – zu deiner kleinen Mama, die so stolz auf dich ist. Ja, sie ist stolz darauf die Frau eines rechtschaffenen Mannes zu sein, den alle Welt achtet und bewundert. Wenn du wüßtest wie schön es ist den Namen eines Künstlers zu tragen, von dem alle sagen: er hat Talent und ist ein anständiger Mensch. Nein, dieses Glück darfst du mir nicht rauben.« – (Sie küßt ihn und ihre Augen füllen sich mit Thränen.)

Henri (gerührt):

»Ach, du Närrchen.« (Er streichelt sie leise ohne ein Wort zu sagen.)

Emma:

»Nun?«

Henri:

»Ich will thun, was du für richtig hältst – denn im Grunde –«

Emma (strahlend):

»Im Grunde?« –

Henri:

»Bin ich ganz deiner Meinung. Ich wollte es nur nicht eingestehen. Siehst du, wir sind so ganz eins, daß jeder dasselbe fühlt und denkt wie der andre. Und deshalb werden wir uns auch immer lieb behalten, denn seiner selbst wird man niemals müde. – (Er geht plötzlich in einen anderen Ton über.) Giebt es auch noch was zum Dessert?«

Emma:

»Ja, mein Schatz, – Aprikosen. Ich wollte Pfirsiche nehmen, aber sie sind gar zu teuer.« (Sie steht auf und stellt rasch die Früchte auf den Tisch, während Henri sie voller Liebe und Bewunderung anblickt.)


 << zurück weiter >>