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Er

(Es ist am 1. Januar um die Mittagszeit. In dem Eßzimmer der kleinen – mehr wie bescheiden eingerichteten – Wohnung, Rue Pavée, ist es schon so dunkel, daß man die Hängelampe angesteckt hat.

Madame Boisil, 39 Jahre alt. Obgleich ihr Gesicht durch Blatternarben entstellt ist, sieht man noch, daß sie früher sehr schön gewesen sein muß. Ihre Zähne sind weiß und frisch geblieben und ein mildes Lächeln spielt um ihren Mund.

Martha Boisil, ein großes üppiges Mädchen von 18 Jahren. Die dichten schwarzen Augenbrauen verleihen ihrer Stirn einen eigensinnigen Ausdruck. In ihrem ganzen Wesen liegt etwas Freimütiges, Entschlossenes, fast Brüskes.

Lily, 5 Jahre alt; ein schlankes, graziöses Kind. Sie hat etwas von einer weißen Maus mit ihrem aufgeweckten Gesichtchen, in dem ein paar kleine schwarze, boshafte Augen funkeln.

Madame Boisil und Martha sind damit beschäftigt, den Tisch zu decken. Lily ist auf einen Stuhl gestiegen, um besser zusehen zu können.)

Madame Boisil (tritt etwas zurück, um den Effekt zu beurteilen):

»So, wenn wir jetzt noch Blumen hinstellen, ist es gar nicht so übel.«

Martha:

»Ja, Blumen müssen wir noch haben und dann die Karaffen, Mama.«

Madame Boisil:

»Das ist wahr, die Karaffen hab' ich ganz vergessen – unsere schönen geschliffenen Karaffen. Hol' sie doch gleich – willst du, Liebling?«

Lily (klettert von ihrem Stuhl herunter):

»Ach, laß mich, Mama, laß mich.«

Madame Boisil:

»Nein, mein Schatz, du bist noch zu klein, du machst sie mir kaput.«

Lily:

»Nein, nein, ich mach' sie nicht kaput.«

Madame Boisil:

»Doch, du könntest sie zu leicht zerbrechen.«

Lily:

»Ach bitte, Mama, ich zerbrech' sie gewiß nicht.«

Martha:

»Gott, ist die kleine Krabbe eigensinnig. Wenn man dir doch sagt, daß du sie kaput machst! Wirst du wohl die Hände davon lassen? – Na, ich danke, Mama würde schön traurig sein, wenn ihrem Service etwas passierte.«

Lily:

»Traurig? Mama, würdest du weinen?«

Madame Boisil (lächelnd):

»O, die Mamas weinen nicht so leicht, das thun nur die kleinen Mädchen.«

Lily (gekränkt, mit einem Seitenblick auf Martha):

»Die großen Mädchen auch, Mama – nicht wahr, Martha?«

Martha (zerstreut):

»Was denn?«

Lily (wie vorhin):

»O du weißt schon, heute morgen, als ich au dein Bett kam, um dir fröhliches Neujahr zu wünschen – da hast du furchtbar geweint.«

Martha (errötet heftig):

»Geh doch, du Dummes, das ist ja nicht wahr.«

Lily:

»Doch ist es wahr.«

Madame Boisil:

»Was hattest du denn, Martha?«

Martha:

»Aber nichts, Mama, gar nichts.«

Lily:

»Und dann hast du gesagt: ›Er kommt nicht, du wirst sehen, Lily, er kommt nicht.‹«

Madame Boisil:

»Was, du hattest Angst, daß er nicht kommen würde? Aber er hat es uns doch versprochen.«

Martha (bitter):

»O, es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, daß er sein Versprechen bricht.«

Madame Boisil:

»Nun ja, an andern Tagen vielleicht. Aber am Neujahrstag – –«

Martha:

»Wie war es denn voriges Jahr?«

Madame Boisil:

»Voriges Jahr war er krank.«

Martha (ironisch):

»Hast du das wirklich geglaubt?«

Madame Boisil:

»Ja. – (Pause.) Wie kannst du überhaupt in diesem Ton von deinem Vater sprechen?«

Martha:

»Wieso in diesem Ton? Ich spreche nicht anders wie sonst.«

Madame Boisil:

»Du scheinst es selbst nicht zu merken, aber seit einiger Zeit liegt ein ganz eigentümlicher, beinah scharfer Ton in deiner Stimme, wenn von ihm die Rede ist. Und dann dein Gesicht. Du solltest nur selbst einmal sehen, was für ein Gesicht du dabei machst! – Nein, mein Kind, das ist nicht recht von dir.«

Martha:

»Es thut mir sehr leid, Mama, aber es ist wirklich ganz unwillkürlich.«

Madame Boisil:

»Das glaube ich dir gern. – Aber du weißt doch, daß er dich ganz besonders lieb hat. Du bist nicht diejenige, die sich über ihn zu beklagen hat.«

Martha:

»Wenn ich es wäre, würde ich wahrscheinlich gar nichts sagen. – Ich würde deinem Beispiel folgen – oder doch wenigstens versuchen, so wie du alles ohne ein Wort der Klage hinzunehmen. Aber ich weiß nicht, ob ich deinen Mut hätte.«

Madame Boisil (mit einem bedeutsamen Blick auf Lily):

»Sieh dich vor, Martha.«

Martha (zu Lily)

»Lily, willst du mir einen Gefallen thun?«

Lily (eifrig):

»Was denn?«

Martha:

»Geh in mein Zimmer und paß auf, wenn Papa kommt. Wenn du den Wagen vor unserm Hause halten siehst, so komm schnell und sag mir Bescheid.«

Lily (mißtrauisch):

»Warum willst du mich fortschicken?«

Martha:

»Damit ich die Austern aufmachen kann, ehe Papa da ist, du Närrchen.«

Lily:

»Giebt es heut Austern zum Frühstück?«

Martha:

»Austern, junge Hühner und Crême.«

Lily:

»Und Kuchen dazu?«

Martha:

»Ja.«

Lily:

»Viele Kuchen, von den kleinen gelben, die so knacken?«

Martha:

»Ja, und dann noch Waffeln und Konfekt.«

Lily (hüpft vor Freude):

»O wie schön.«

Madame Boisil:

»Du hast also Austern bekommen?«

Martha:

»Ich habe darum geschrieben. Es sind Colchester, das Dutzend zu sechs Franks. Hier in unserm Viertel sind sie gar zu teuer – und da Austern das einzige sind, was er wirklich gern ißt – –«

Madame Boisil:

»Da hast du recht gethan, mein Kind.«

Martha:

»Ich hoffe nur, daß sie gut sind, und daß er es nicht bereuen wird, mit uns zu frühstücken.«

Madame Boisil (vorwurfsvoll):

»O Martha, fängst du schon wieder an?«

Martha (erfaßt ihre beiden Hände):

»Ja, Mutter, laß mich heute einmal reden. Es muß heraus, ich kann es nicht mehr hinunterschlucken.«

Madame Boisil (mit traurigem, resigniertem Blick):

»Nun so sprich – ich höre.«

Martha:

»O nicht so, Mama, sieh mich wieder freundlich an mit deinen guten Augen. – (Sie faßt die Hände ihrer Mutter und preßt sie gegen ihr Herz.) Fühlst du, wie es schlägt? Weil ich so Angst habe – so furchtbare Angst, meiner süßen Mama Kummer zu machen. – So – darf ich jetzt wirklich sprechen – willst du mich auch wirklich anhören?«

Madame Boisil:

»Ja, sprich nur.«

Martha:

»Gut – also – sieh Mama, ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß Papa eine andere Frau hat wie dich, daß er eine kleine Tochter hat, die nicht meine Schwester ist. Ich kann mich nicht darein finden, daß er reich, sehr reich ist, während wir uns so einschränken müssen. Es kommt mir so ungerecht, so grausam, so empörend vor.«

Madame Boisil:

»Aber Martha, mein liebes Kind –«

Martha:

»Warum hast du damals vor vier Jahren in die Scheidung gewilligt? Ich bitte dich, sag mir, warum?«

Madame Boisil:

»Um ihn glücklich zu machen. Er liebte eine schöne, reiche, junge Frau und sie liebte ihn. Sie war frei und niemand hatte ihr etwas vorzuwerfen – ich war das einzige Hindernis, das zwischen ihnen stand. – Du hättest ebenso gehandelt wie ich.«

Martha (aus tiefster Seele):

»Nein – ich hätte meinem Mann gesagt: als du mich heiratetest, war ich ebenso schön, ebenso jung, ebenso reich wie jene andere. Dein Leichtsinn hat mich um mein Vermögen gebracht, die Krankheit hat mich entstellt und die Zeit hat mich gealtert. Meine Treue und meine Liebe sind unverändert geblieben, um so trauriger, wenn dir das nicht mehr genügt. Aber ich hab' dich lieb, du gehörst mir, und ich will nicht von dir lassen.«

Madame Boisil:

»O, das hättest du sicher nicht gesagt. Auf ein so elendes Glück hättest du ebenso wie ich lieber ganz verzichtet. Was hat es denn für einen Wert, einen Mann mit Gewalt an sich zu fesseln, der nur an eine andere denkt und sich nach ihr sehnt. Nein, das wäre die furchtbarste Qual, die man sich denken kann. Glaube mir, es ist tausend Mal besser, sich die Liebe gewaltsam aus dem Herzen zu reißen, als sie langsam und unter tausend Nadelstichen verbluten zu lassen.«

Martha (mit harter Stimme):

»Aber für uns, um unserer Zukunft willen hattest du lieber alles ertragen sollen, wie in die Scheidung willigen.«

Madame Boisil:

»Und ihr hättet alles das mit ansehen sollen? – diese fortwährenden Kämpfe, diese ewigen Streitereien – das ganze unheilbare Zerwürfnis zwischen uns? Was für ein Beispiel wäre das für euch gewesen! – Nein, das habe ich euch ersparen wollen.«

Martha:

»Und deshalb hast du uns unseren Vater genommen?«

Madame Boisil:

»Weil ich hoffte, daß er euch dann wenigstens ein Freund bleiben würde.«

Martha:

»Und du glaubst, daß Papa jetzt wirklich ein Freund für uns ist. Sieh ihn doch an, wenn er jetzt kommt – mit verlegenem, mürrischem Gesicht, wie ein Schuldner, der seinen Gläubigern Rechenschaft abzulegen hat. Lily fliegt ihm um den Hals, er berührt ihre Stirn kaum mit den Lippen – ich stehe daneben und sehne mich nach einem liebevollen Wort, und dann sagt er höchstens: Du wirst ja immer dicker, es ist wirklich unglaublich. – Und du selbst – er reicht dir die Hand und blickt dabei fort, um deine Blatternarben nicht zu sehen. Und weil er sehr wohl fühlt, daß all die glänzenden Ringe an seinen weißen, wohlgepflegten Händen, daß sein schöner Pelz und seine elegante Kleidung in diesem dürftigen Zimmer hier peinlich wirken, wird er uns erzählen, daß er bis an den Hals in Geldverlegenheiten steckt, daß wir mit unseren 300 Franks im Monat eigentlich viel besser daran sind wie er mit seinen 500 000. – Ist es nicht so, Mutter, sag doch, ist es nicht so?«

Madame Boisil (in Thränen ausbrechend):

»Wenn du wüßtest, wie grausam du bist, mein armes Kind.«

Lily (kommt voller Freude hereingesprungen):

»Papa kommt, Papa kommt, Papa kommt.«

Martha (mit erzwungener Ruhe):

»Ah, kommt er wirklich schon? Das ist ja merkwürdig früh. – Komm Lily, wir wollen die Austern aufmachen.«

Lily:

»Nicht wahr, du giebst mir die obere Schale. Da ist immer noch ein bischen drin.«

Martha:

»Ja, du Leckermaul.«

Madame Boisil (mit leiser, flehender Stimme):

»Martha, nicht wahr, du bist freundlich gegen ihn – trotz alledem – ich bitte dich, sei nicht unfreundlich gegen deinen Vater.«

Martha:

»Du darfst ganz ruhig sein, Mama. (Plötzlich fällt sie ihrer Mutter um den Hals und küßt sie wie wahnsinnig.) Weine nur nicht, Mama, du sollst nicht weinen. Verzeih mir, daß ich dir deine kleine Freude verdorben habe. Es war unrecht von mir. Man soll so lieben können wie du. Ich bete dich an, meine süße Mama, und ich bin so stolz auf dich.«

(Es klingelt. Lily stürzt davon, um die Thür zu öffnen. Die beiden Frauen blicken sich tief bewegt an und lächeln. Dann hört Martha, wie ihre Mutter, vor Glück bebend, leise vor sich hin murmelt): »Er ist da – er ist wirklich da.«


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