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Das Testament eines Kindes

Im Studierzimmer Monsieur Envoix', eines bekannten Pariser Notars, um elf Uhr morgens, an einem Frühlingstage.

Monsieur Envoix, 62 Jahre alt, dickes rosiges, bis auf den kurzen weißen Backenbart glattrasiertes Gesicht. Sein Blick ist klug und dabei wohlwollend.

Emily Reidet, ein schmächtiges, hochaufgeschossenes Mädchen von 17 Jahren. Die dichte braune Haarfülle scheint fast zu schwer für das blasse schmale Gesichtchen. Sie trägt ein gutsitzendes blaues Tuchkostüm mit schwarzer Federboa und einen kleinen Strohhut mit Kornblumen garniert. Die ganze Toilette macht einen distinguierten und dabei doch einfachen Eindruck.

Emily ist eben in das Sprechzimmer des Notars getreten, er fordert sie auf, Platz zu nehmen und blickt sie dabei fragend und etwas überrascht an.

Emily:

»Kennen Sie mich nicht mehr, Monsieur Envoix?«

Envoix:

»Ich glaube allerdings, daß ich schon das Vergnügen gehabt habe.« (Er sucht sich zu besinnen.)

Emily:

»Wir haben uns im vorigen Monat bei den Eltern meiner Freundin Alice Dulesmes getroffen – –«

Envoix:

»Ja, richtig – ich weiß schon – ich weiß schon – Mlle. Reidet, nicht wahr?«

Emily:

»Ja, mein Herr.«

Envoix:

»Als mein Schreiber Sie anmeldete, verstand ich ›Mlle. Beillet‹. – So heißt nämlich eine halbgelähmte Klientin von mir, die ihr Zimmer seit dreiundvierzig Jahren nicht verlassen hat. Nun, und da können Sie sich mein Erstaunen vorstellen.«

(Er lächelt – sie lächelt ebenfalls, aber ihr Gesicht behält dabei seinen traurigen, sorgenvollen Ausdruck.)

Envoix:

»Übrigens glaubte ich auch, daß Sie schon wieder mit Ihrer Frau Mutter nach Angers zurückgekehrt seien. Wie geht es denn Ihrer Frau Mutter?«

Emily:

»O danke, sehr gut.«

Envoix:

»Sind Sie denn ganz allein gekommen?«

Emily:

»Ja, mit einer Droschke. – Mama ist drüben in der Rue Lazare bei Boniface. Wissen Sie – der Friseur Boniface.«

Envoix (ganz ernst):

»Boniface? – Ja, ja, ich weiß schon. Also Ihre Frau Mutter –«

Emily:

»Sie läßt sich die Haare brennen. – In Angers giebt es keinen guten Friseur und wenn wir in Paris sind, benützt sie die Gelegenheit, um – – Und da es immer ziemlich lange dauert, hat sie mich währenddem zu Lody geschickt –«

Envoix:

»Zu wem?«

Emily:

»Wissen Sie nicht, das Hutgeschäft –«

Envoix (lächelnd):

»Hören Sie mal, es ist schon viel, daß ich Boniface kennen soll – nun soll ich auch noch wissen, wer Lody ist – das können Sie wirklich nicht von mir verlangen.«

Emily (ebenfalls lächelnd):

»Ja, das ist wahr – Also auf dem Weg zu Lody bin ich an Ihrer Wohnung vorbeigekommen und da dachte ich, ich wollte einen Augenblick bei Ihnen vorsprechen und Sie um einen kleinen Rat bitten –«

Envoix:

»Mich um Rat bitten? Hat Ihre Mutter nicht einen Rechtsanwalt in Angers?«

Emily:

»O ja, Monsieur Pâquis.«

Envoix:

»Warum haben Sie sich denn nicht an diesen Herrn gewandt?«

Emily:

»Er ist jetzt gerade verreist, und dann –«

Envoix:

»Nun, und dann?«

Emily:

»Wissen Sie, ich glaube, Monsieur Pâquis ist auch nicht ganz diskret.«

Envoix:

»So? und mich halten Sie für diskret?«

Emily:

»Ja.«

Envoix:

»Sie scheinen ja großes Zutrauen zu mir zu haben.«

Emily:

»Ja, das hab' ich auch. Alice hat mir so viel von Ihnen erzählt. Sie hat mir gesagt, daß Sie so gut sein – sie liebt Sie wie einen Vater.«

Envoix:

»Sagen Sie lieber wie einen Großvater. Ja, ich hab' sie auch sehr lieb, die kleine Alice. – Aber nun sagen Sie mir erst einmal, um was es sich handelt?«

Emily:

»Ach, ich glaube es ist eigentlich eine ganz einfache Geschichte, aber ich bin so dumm in solchen Sachen. (In kindlichem Ton.) Ich möchte nämlich mein Testament machen – geht das?«

Envoix:

»Wie alt sind Sie?«

Emily:

»Siebzehn. Ich bin eben siebzehn geworden. Aber nicht wahr, man kann schon mit siebzehn Jahren sein Testament machen – ich bin doch nicht mehr zu jung dazu?«

Envoix:

»O nein, – Aber warum wollen Sie es thun?«

Emily:

»Damit Mama keine Unannehmlichkeiten hat, wenn ich einmal sterbe. Ich muß Ihnen zur Erklärung sagen, daß ich von meinem Vater und meinen Großeltern ein sehr großes Vermögen geerbt habe. Mama bezieht nur die Zinsen davon – und wenn ich ohne Testament sterben sollte –«

Envoix (mit berufsmäßiger Ruhe):

»Wenn Sie ohne Testament sterben sollten, fällt Ihrer Mutter die Hälfte Ihres Vermögens zu.«

Emily:

»Nur die Hälfte – das ist es ja eben. Die Hälfte ist nicht genug. Ich möchte, daß Mama alles bekäme. Sie braucht so viel Geld, sie hat so viele Bedürfnisse. Sehen Sie, es vergeht kein Tag, wo sie mir nicht sagt: ›Wenn ich so viel Vermögen hätte wie du, würde ich dies und das thun – wenn ich so reich wäre wie du, würde ich mir dies und das kaufen, mir dieses oder jenes Vergnügen nicht versagen‹ – kurz, Mama muß einfach viel Geld haben, sehr viel Geld – verstehen Sie? sie kann ohne das nicht existieren. – Solange ich lebe, wird sie natürlich so viel haben, wie sie will – so viel ich überhaupt besitze. – Aber wenn ich sterben sollte –«

Envoix:

»Sie können Ihrer Mutter aber nicht das ganze Vermögen hinterlassen, das Gesetz läßt es nicht zu.«

Emily:

»O, aber es muß doch irgend einen Ausweg geben. – Ich bitte Sie, sagen Sie mir, ob es nicht irgendwie angeht?«

Envoix:

»Solange Sie minderjährig sind, nein. – Aber wer hat Sie denn auf den Gedanken gebracht, Ihr Testament zu machen? Wie kommen Sie zu diesem merkwürdigen Entschluß – ein Kind wie Sie?

Emily (sie ist plötzlich dunkelrot geworden):

»O, ich bin kein Kind mehr. Ich bin sogar schon mündig. Mama hat mich vor drei Monaten mündig sprechen lassen.«

Envoix:

»Nun ja, ich verstehe. – Aber wozu soll Ihnen das nützen?«

Emily (als ob sie eine Lektion aufsagte):

»Um über mein Vermögen verfügen zu können.«

Envoix (lebhaft):

»Verfügen? Aber davon ist keine Rede – absolut keine Rede. Wer Ihnen das gesagt hat, hat Ihnen den reinen Unsinn vorgeredet. Es ist doch nicht etwa Ihre Mutter gewesen?«

Emily:

»Doch, meine Mutter hat es mir gesagt. Sie hat sich also geirrt?«

Envoix:

»Aber vollständig. Ihre Mündigkeit verleiht Ihnen nur das Recht, Ihr Vermögen selbst zu verwalten, aber nicht darüber zu verfügen. Gott bewahre, das wäre denn doch gar zu bequem. Es ist schon sehr viel, wenn Sie es selbst verwalten dürfen. (Pause, dann fährt er in mildem Tone fort.) Und seit Sie mündig sind, denken Sie daran, Ihr Testament zu machen?«

Emily:

»Ja, und dann –« (Sie zögert.)

Envoix:

»Nun, was wollten Sie sagen?«

Emily:

»Und dann auch, weil ich neulich etwas gehört habe – es war der reine Zufall, ich habe es gewiß nicht gewollt. Aber ich habe zufällig etwas gehört, was mich in dem Augenblick schmerzlich berührt hat – aber nur für den Augenblick.«

Envoix:

»Nun, was haben Sie denn gehört?«

Emily:

»O, es war ein Gespräch zwischen Mama und Monsieur Pâquis – ein Gespräch, in dem von mir die Rede war.«

Envoix:

»Was haben die beiden denn über Sie gesprochen?«

Emily:

»Erst hörte ich wie Mama sagte: ›die Kleine hat dasselbe Leiden wie ihr Vater. Sie könnte eines Tages unerwartet sterben. Und wenn sie stirbt, bin ich ruiniert‹.

›Lassen Sie sie mündig sprechen‹, antwortete Monsieur Pâquis, ›und dann ein Testament zu Ihren Gunsten machen‹.«

Envoix:

»Ah. – (Pause.) Also auf Veranlassung Ihrer Mutter sind Sie heute zu mir gekommen?«

Emily:

»O nein, gewiß nicht. Kein Mensch weiß, daß ich Sie aufgesucht habe. Mama hat niemals auch nur ein Wort davon gesagt, daß ich ein Testament machen soll. – Ich bin ganz von selbst zu dem Entschluß gekommen.

Envoix:

»Ist das wirklich wahr? Können Sie mit gutem Gewissen behaupten, daß Ihre Mutter Sie nicht hergeschickt hat?« (Er blickt sie fest an.)

Emily (in höchster Verwirrung, mit Thränen in den Augen):

»Aber mein Herr, ich habe Ihnen doch gesagt, daß sie nichts davon weiß – daß sie gar nichts davon ahnt. – Sie ist drüben bei Boniface –«

Envoix:

»Um sich frisieren zu lassen – ich weiß schon. – Nein, mein Kind – Sie nehmen es doch nicht übel, wenn ich Sie so anrede?«

Emily:

»Nein, gewiß nicht.«

Envoix:

»Also sehen Sie, mein Kind, da noch niemand gestorben ist, weil er sein Testament gemacht hat, so habe ich nichts weiter dagegen einzuwenden. Aber machen Sie es zu Hause, in aller Ruhe, wenn Ihre Aufregung sich etwas gelegt hat.«

Emily:

»Würden Sie es nicht jetzt für mich aufsetzen – jetzt gleich?«

Envoix:

»Nein, ganz gewiß nicht. Ich könnte Sie vielleicht irgendwie dabei beeinflussen und das will ich nicht.«

Emily:

»Wenn ich Sie aber dringend darum bitte?«

Envoix:

»Nein, nein, auf keinen Fall. (Gutmütig scherzend.) Wenn Sie einen Ehekontrakt aufgesetzt haben wollen, stehe ich jederzeit zu Ihrer Verfügung, aber dies – nein – (Er steht auf.) Ich habe die Ehre –«

Emily (die ebenfalls aufgestanden ist):

»Also dann bitte ich sehr um Entschuldigung, daß ich Sie gestört habe und danke Ihnen –«

Envoix:

»Aber wieso denn? Im Gegenteil, es thut mir leid, daß ich Ihnen nicht dienen kann.«

(Er geleitet sie bis an die Thür und verabschiedet sich mit einer tiefen Verbeugung.)

(Als Emily dann allein auf der Treppe ist, schlägt sie den Schleier zurück und trocknet die Thränen, die ihr über die Wangen herablaufen. Dann denkt sie ganz verzweifelt):

»Was wird Mama nur sagen? Sie wird gewiß glauben, daß ich es nicht richtig angefangen habe oder daß ich überhaupt nicht will.«


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