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Pfeilschnell war die Zeit dahingegangen. Ilsedore war, trotzdem sie sich mit Doktor Dieter Hillinger verlobt hatte, in Wengstädt geblieben. Einem Wunsche ihrer Tante folgend, hatte sie ihr Examen auf dem Seminar gemacht. Sie hatte es, gleich ihrer Freundin und Schwägerin Josepha, mit Ehren bestanden.
Der Steg über den Bach war neu errichtet, er wurde sehr oft benutzt, zwar Tante Mieze betrat niemals den Nachbarsgarten, sie hatte es auch nicht nötig, das junge Volk versammelte sich gern um ihren Lehnstuhl. Die alte Dame fühlte sich in letzter Zeit viel kräftiger und widerstandsfähiger. Sie schrieb dieses Wohlbefinden, wie sie stets lächelnd bemerkte, der guten Pflege Ilsedores und der ärztlichen Behandlung Doktor Dieter Hillingers zu.
Seit einem Jahre, nachdem er von einer Weltreise zurückgekehrt war, hatte er sich als praktischer Arzt in seiner Heimatstadt niedergelassen. Auf der neu angelegten Villenstraße hatte er sich ein schönes Heim errichtet. Stattlich stand das Haus, im Garten blühten die Rosen in verschwenderischer Pracht. In den Zweigen der reichen Blütenschmuck tragenden Obstbäume bauten sich kleine Singvögelchen ihre Nester und ließen ihre Liebeslust in herrlichem Gesang ausströmen.
Seit fast vier Wochen lebte Ilsedore in ihrem Elternhause; denn es galt noch so mancherlei für den neuen Hausstand vorzubereiten, obschon das Haus fertig eingerichtet war und nur auf den Einzug der jungen Herrin wartete.
Tante Mieze war natürlich zugleich mit Ilsedore abgereist. Nun fühlte sich die alte Dame sehr behaglich unter dem bescheidenen Dach ihres Bruders und unter der liebevollen Pflege ihrer Schwägerin.
Frau Betti Mellenhoff war überglücklich. Der Wunsch ihres Lebens, ihre beiden Kinder in gehobener Lebensstellung zu sehen, war erfüllt. Und sie selbst war jetzt in der Lage, sich das Leben etwas angenehmer zu gestalten. Ilsedore war glückliche Braut, und Emmerich hatte sein erstes Examen bestanden. Als seine erste heilige Handlung – als Kandidat der Theologie, hatte er sich das Recht dazu erworben – wünschte er, die Ehe seiner Schwester einzusegnen. Seine Mutter war beseligt, ihren Sohn als Geistlichen im Ornat am Altar zu sehen. Noch mehr entzückte sie die Aussicht, Emmerich in absehbarer Zeit als wohlbestallten Pfarrherrn in seinem Heimatstädtchen schalten und walten zu sehen. Damit war der Traum ihres Lebens erfüllt. Alles hatte sich zum Besten gefügt.
*
Ilsedore lehnte am weit offenen Fenster ihres Mädchenstübchens. Es war still und einsam im kleinen Hause am Waldesrand. Vater Mellenhoff war längst wieder in der Fabrik, Tante Mieze genehmigte ihr tägliches Mittagsschläfchen und Frau Mellenhoff schrieb an Emmerich, um ihn noch zu erinnern, daß er ja nicht vergessen solle, Onkel und Tante aus Berlin mitzubringen. Nur aus der Küche, in der seit ein paar Wochen ein kräftiges Mädchen hantierte, klang hin und wieder ein Ton.
Ilsedore beobachtete mit Aufmerksamkeit ein junges Finkenpärchen, das voller Emsigkeit allerlei Gegenstände zum Nestbau heranschleppte. Wie fleißig mühten sich die zierlichen Tierchen, und wie fröhlich klang ihr »titoldätsch, titoldätsch«, wenn sie ein Hälmchen, ein Federchen herzugetragen hatten. Dabei flatterten Ilsedores Gedanken hinab in die Vergangenheit. Sie mußte jenes Tages gedenken, an dem sie, vor nun fast zwei Jahren, Abschied von ihrem Elternhause genommen hatte, um hinaus in die Fremde zu ziehen. Wie hatte damals ihr Herz gebangt, obschon es der Erfüllung ihres Herzenswunsches gegolten hatte.
Und wie schön, wie herrlich hatte sich alles erfüllt, ja viel mehr, als sie damals gedacht und erhofft hatte, war ihr vom Schicksal beschert worden.
Nun zog sie auch bald wieder hinaus aus dem lieben, alten Elternhause, doch wie so ganz anders gestaltete sich dieses Scheiden! Sie verließ es an der Hand ihres lieben Dieter, sie folgte dem Geliebten in sein Haus. War sie nicht glücklich zu preisen!
Und tiefer in die Vergangenheit versenkte sich Ilsedore. Sie gedachte ihrer fröhlichen Jugendgespielen. Am Vormittag hatte sie endlich einen Brief von Margarete Helldorf erhalten.
»Ich antworte Dir erst heute, weil ich immer noch dachte, an Deiner Hochzeit bei Dir zu sein, aber leider ist es mir unmöglich. Mein Vater ist leidend, ich darf ihn also nicht allein lassen. Er macht sich Vorwürfe, an dem spurlosen Verschwinden von Johannes die größte Schuld zu tragen. Trotz der weitgehendsten Nachforschungen bleibt er verschollen. Ich fürchte, er hat damals in unbegreiflicher Seelenniedergeschlagenheit seinem, wie er glaubt, verfehlten Leben ein Ende gemacht. Vater weist diesen Gedanken weit von sich. Selbst die Freude über meine Verlobung mit Wilfried Dörfel, Doktor der Chemie, leidet darunter. Nun hat sich Vater entschlossen, die Apotheke zum ›König Salomon‹, die nur verpachtet war, wieder selbst mit seinem Schwiegersohn zu übernehmen. Selbst der alte Schmettau kehrt mit uns zurück, und zwar schon recht bald. Ich hoffe, daß sich dann auch das Dunkel auflöst, das über Johannes' Leben liegt. Ich –«
So weit war Ilsedore gekommen, als es leise an ihre Zimmertür klopfte.
»Herein!« rief sie mit heller Stimme, und Elisabeth Wehrhaus trat ein.
Das junge Mädchen hatte sich sehr zu ihrem Vorteil verändert. Sie hatte in der Pension die letzten Reste der Kindheit abgestreift. Eine gereifte, anmutvolle Sicherheit zeichnete ihr ganzes Auftreten aus.
»Ach, Elisabeth, welch lieber Besuch!« rief ihr Ilsedore entgegen.
»Ich störe dich doch nicht? Ich komme heute als Abgesandte zu dir.«
»Aha, also ein offizieller Besuch,« bemerkte Ilsedore, feierlichen Ernst markierend. »Nun, dann nimm Platz, und dann los mit deinen Neuigkeiten.«
»Ich soll dir hier dieses Paketchen von Leo überbringen. Er schickte etwas an Mutter und da hat er es gleich beigelegt. Ich denke, es ist wohl ein kleines Hochzeitsgeschenk. Leo erfuhr durch Muttchen, daß du Hochzeit feierst.«
Ilsedore betrachtete mit ziemlich schlecht verhehlter Neugierde das kleine Paketchen.
»Was mag es wohl enthalten?« fragte sie, mehr zu sich als zu Elisabeth gewendet.
»So öffne schnell, dann siehst du es gleich,« riet ihr Elisabeth.
»Ilsedore folgte dem guten Rat, ein Brief und ein zierliches Kästchen lag in dem kleinen Paket.
»Ich bin selbst neugierig, was mein Brüderlein ausgesucht hat. Leo versteht sich auf solch kleine, nette Sächelchen.«
Ein »Ah« der Überraschung entfloh Ilsedores Lippen, als sie den Deckel des Kästchens lüftete. Auf einem Polster von weißem Sammet lag ein kunstvoller Anhänger. Er stellte ein fein ziseliertes, goldenes Eichenblatt dar, auf dem ein zierlicher Schmetterling saß. Seine ausgebreiteten Flügelchen waren mit bunten Edelsteinchen besetzt.
Ilsedore klappte das Kästchen rasch wieder zu. »Viel zu kostbar für mich,« sagte sie in ihrer schlichten Weise. Dann wendete sie sich an Elisabeth: »Darf ich den Brief jetzt lesen?«
»Aber natürlich, ich betrachte mir inzwischen den Schmetterling noch einmal.«
Ilsedore öffnete den Briefumschlag. Gedankenvoll las sie. Leo schrieb ihr sehr freundschaftlich und wünschte ihr mit so lieben Worten Glück zu ihrer Vermählung.
»Schade, daß ich Sie nicht als alter Jugendfreund zum Altar geleiten kann. Mir als Ältestem aus unserem Kreise wäre diese Ehre zugekommen. Nun liegt das Weltmeer zwischen uns, aber herzlichst werde ich Ihrer an Ihrem Ehrentage gedenken. Und staunen Sie, noch jemand wird mit mir Ihrer gedenken, jemand, den sie längst als verschollen betrauert haben.«
»Johannes lebt!« rief Ilsedore, das Briefblatt sinken lassend. »Elisabeth, höre, Johannes lebt, er ist mit Leo zusammen. Höre, was dein Bruder schreibt!«
Sie las nun aufmerksam weiter.
»Ganz zufällig begegnete ich in der Riesenstadt Neuyork unserem Johannes. Wie seltsam der Zufall oft spielt. Gedankenlos schleuderte ich nach Geschäftsschluß durch die geraden Straßen von Neuyork, als mich ein Hustenanfall befiel und mich nötigte, in eine Apotheke einzutreten, um mir eine Kleinigkeit zu kaufen.
Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich hinter dem Ladentisch unseren Freund Johannes entdeckte. Er hatte mich auch sofort erkannt, denn er versuchte, sich vor mir zu verbergen, doch ich ließ den Schlingel nicht aus den Augen und stellte mir den Mann. Zuerst wollte er gar nicht mit der Sprache heraus, doch als ich ihm von Deutschland, von dem ›König Salomon‹, von seinem Vater, von Schwester Margarete erzählte, da stieg ihm das Blut jählings in die Wangen. Er wurde zutraulich. Er vergoß Tränen heißer Reue über seinen Torenstreich. Wir kommen jetzt täglich zusammen, und nun habe ich ihn auch so weit, daß er mir versprochen hat, noch diesen Herbst nach Europa zu fahren und seinen Vater aufzusuchen.
Welch seltsamer Zufall! Johannes verließ Deutschland heimlich, unter großen Fährnissen, er wollte dem ›König Salomon‹ entfliehen; und nun, nach Jahren, treffe ich ihn als Apothekergehilfen in Neuyork wieder.
Sie sehen, liebe Freundin, hierin Gottes Walten, und daß der oft schnodderige Leo doch auch einmal kräftig in ein Lebensschicksal eingreifen konnte. Grüßen Sie mir alle die, welche sich meiner in Freundschaft erinnern, und seien Sie selbst herzlichst gegrüßt von Ihrem alten Freunde
Leo Wehrhaus.«
»N. B. Wirst Du, liebe Ilsedore, auch von mir einen Glückwunsch annehmen? Ich weiß, ich habe durch meinen Torenstreich das Recht dazu verwirkt; doch ich habe viel gelitten und innig bereut. Hoffentlich feiern wir bald ein frohes Wiedersehen!
Dein alter Johannes.«
Ilsedore schlug die Briefblätter zusammen, sie war tief erschüttert. Ihre hellen, blauen Augen füllten sich mit Tränen, dann aber flüsterte sie: »Johannes lebt, das ist mein schönstes Hochzeitsgeschenk! Wie glücklich wird Grete sein!«
Dann flog sie die Treppe hinab, um ihrem Muttchen die Freudenbotschaft zu überbringen. Langsam folgte ihr Elisabeth.
*
So war der Tag vor der Hochzeit angebrochen. Eben hatte die glückstrahlende Ilsedore ihren Bräutigam nebst Schwester vom Bahnhof abgeholt.
»Bist du nun glücklich?« hatte Dieter Hillinger sie leise und zärtlich gefragt.
Ilsedore schlug ihre schönen, blauen Augen zu dem geliebten Frager auf und sich enger an seinen Arm schmiegend, erwiderte sie einfach und schlicht: »Du weißt ja, daß ich wunschlos glücklich bin. Ach, Dieter, die Welt, das Leben ist doch so unaussprechlich schön.«
Der schlanke Mann an ihrer Seite neigte sich zu ihr herab, er drückte einen Kuß auf die Stirn seiner Braut.
Josepha eilte, wie beflügelt, immer einige Schritte voraus, sie kannte ja das kleine Haus am Waldesrande noch nicht, von dem ihr Ilsedore so viel vorgeschwärmt hatte.
»Aus dichtem, deutschem Wald habe ich mir die Gefährtin, den treuen Kameraden auf der Pilgerfahrt durchs Leben, geholt,« flüsterte Dieter.
»Hier ist gut sein, so fern von der Welt Unrast und Tücke,« erwiderte Josepha, während ihre jungen Augen sich an dem köstlichen Grün der hochstämmigen Waldbäume erfreute.
»Wo steckt Emmerich?« fragte Ilsedore. nachdem die erste stürmische Begrüßung mit den lieben Gästen stattgefunden hatte.
»Ich habe ihn nicht gesehen, vielleicht studiert er seine Traurede noch einmal,« sagte Frau Mellenhoff.
»Ach geh, Betti, ich weiß, wo er steckt,« meinte Tante Mieze. »Vor ein paar Minuten kam er aus dem Walde. Er mußte einen weiten Weg zurückgelegt haben, denn er sah sehr erhitzt aus. Ich fragte ihn, woher er komme, da antwortete er voller Hast: ›Liebe Tante, jetzt habe ich gar keine Zeit, nachher, liebste Tante, sollst du alles erfahren.‹ Mit einem Sprunge setzte er die Treppe hinauf, kam aber sogleich, doch umgekleidet, wieder. ›Ich muß einen Besuch machen!‹ rief er mir im Davoneilen noch zu.«
IIsedore warf Dieter einen verständnisvollen Blick zu. »Ich ahne, wohin er gelaufen ist. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen alles Glück,« fetzte sie, nachdenklich gestimmt, hinzu.
*
Die Trauung war worüber. Bruder Emmerich hatte liebe, tiefergreifende Worte zur Einsegnung der Ehe seiner einzigen Schwester gesprochen. Mutter Mellenhoff hatte fast Ströme von Tränen vergossen, selbst Tante Mieze war tief gerührt.
IIsedore vergoß keine Trane, sie stand ja am schönsten Ziel. Der Traum ihres Lebens hatte sich ja erfüllt. Weshalb sollte sie da weinen?
Der Hochzeitszug schritt feierlich, wie es in der kleinen Stadt Sitte war, zu Fuß dem Waldhäuschen wieder zu. Es waren nur wenig Gäste, die IIsedores Ehrentag mit ihr feierten, doch sie alle hielten in treuer Liebe und Freundschaft zusammen.
Bei der Hochzeitsfeier trug Elisabeth Wehrhaus einen schönen Maiblumenstrauß an dem Ausschnitt ihres gestickten Mullkleides. Lieblich und anmutig glich sie selbst einem frisch erblühten Maiblümchen. Ihrem Tischnachbar, Kandidat Emmerich Mellenhoff, mußte dieser Vergleich auffallen, denn er neigte sich zu Elisabeth und flüsterte ihr ein paar Worte zu. Sie errötete und blickte verschämt auf den Maiblumenstrauß, der vor ihrem Platze auf der Tafel stand.
»Maiblümchen,« flüsterte Emmerich, »mein Maiblümchen.«
Ilsedore schien diese leise geflüsterten Worte verstanden zu haben. Sie nickte dem Bruder zu und ihr Weinglas gegen das junge Paar erhebend, flüsterte sie: »Folgt uns bald nach!«
Emmerich lächelte und hob sein Glas gegen die Schwester. Elisabeth hatte ihr Glas auch erhoben, doch sie nippte nur, während eine hohe Röte ihr liebes Gesicht überflutete.
Ende.