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Achtes Kapitel
Das Examen

Die Aufnahmeprüfung war vorüber. Sie hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als man vorher berechnet hatte. Ilsedore hatte ausgezeichnet abgeschnitten, sie hatte reiches Lob geerntet. Selbst der etwas kühle Herr Direktor hatte ihr zum Schlusse die Hand gereicht.

»Fahren Sie auf diese Art fort,« hatte er ihr aufmunternd gesagt, »dann wird der Erfolg nicht ausbleiben.«

Am Fuße der Freitreppe vor dem Gebäude stand Vater Mellenhoff, sein Töchterlein erwartend.

»War es schön?« fragte er lebhaft.

»Ach, Väterchen, es war wunderschön – ich bin zu glücklich, endlich stehe im am Ziele meines Strebens,« erwiderte Ilsedore freudestrahlend.

»Gemach, mein Töchterchen, du stehst erst am Anfang deiner Laufbahn, in zwei Jahren wirst du hoffentlich dein Ziel erreichen. Doch jetzt komm nach Hause – denn Tante Mieze sitzt in Angst und Bangen. Als ich vorhin mal in die Unterstube hineinsah, pendelte sie zwischen Fenster und Küche hin und her. Sie scheint uns heute mit Hilfe ihrer alten Sophie ein lukullisches Mahl aufzutischen. Alles, um ihr Nichtchen zu ehren.«

»Tante Mieze ist herzensgut,« warf Ilsedore ein.

»Gewiß, aber sie hat auch ihre Schrullen und scharfen Ecken. Wirst sie schon noch kennenlernen. Wir nannten sie als Kinder nicht umsonst Mieze. Manchmal zeigt sie ihre Katzenpfötchen, doch sie trägt nichts nach. Rasch ist sie wieder gut. Doch jetzt erzähle, fandest du nette Mädchen? Denn ohne Verkehr darfst du hier nicht bleiben.«

»Verschiedene gefielen mir recht gut, besonders ein junges Mädchen in meinem Alter, Josepha Hillinger, fand ich auf den ersten Blick liebenswürdig.«

»Ilsedore, Kind, diesen Namen nenne niemals vor Tante Mieze. Sie lebt mit aller Welt in Freundschaft, nur die Hillingers sind ihr bis in den Tod verhaßt.«

»Und weshalb?« forschte Ilsedore.

»Ja, Kind, das ist eine alte, lange Familiengeschichte. Heute nachmittag, wenn du mich zur Bahn begleitest, da will ich versuchen, dir mit kurzen Worten die Geschichte dieses Hasses zu erklären.«

»Du machst mich neugierig, Vater, also auch hier in diesem stillen Winkel leben Nachkommen der Familien Montague und Capulet!« bemerkte Ilsedore lächelnd.

»Ja, und auch ein Romeo fehlt nicht. Doch die Geschichte ist sehr ernst – hat viel Staub seiner Zeit ausgewirbelt. Doch da sind wir angelangt. – Mache nicht solch ein ernstes Gesicht, sonst denkt Tante, du wärest durchgefallen.«

Ilsedore lachte hell auf und winkte mit beiden Händen der am offenen Fenster stehenden alten Dame zu.

*

Es war am Abend desselben Tages. Ilsedore hatte ihren Vater zur Bahn begleitet. Nun war sie allein, zum ersten Male in ihrem Leben allein, ohne die schützende Nähe und Fürsorge ihrer Eltern.

Ilsedore ließ noch einmal die Erlebnisse des Tages in Gedanken an sich vorbeigleiten.

Erst der Vormittag mit der Aufnahmeprüfung, der Eintritt in eine fremde Welt, dann der Abschied von ihrem Vater – und nicht zuletzt die seltsame Geschichte, die er ihr auf dem Wege zum Bahnhof erzählt hatte.

Sie hätte es Tante Mieze niemals zugeiraut, daß sie so zärtlich geliebt hatte, und daß später diese große Liebe in unauslöschlichen Haß umschlagen konnte. Auch das Bild Josepha Hillingers erstand in Ilsedores Gedankenwelt. Seltsam, daß gerade dieses blonde, junge Mädchen ihren Blick auf sich gezogen hatte.

Ilsedore grübelte lange Zeit, dann schloß sie das Fenster und legte sich zur Ruhe nieder. Mit dem Gedanken an die lieben, fernen Eltern – Vater mußte jetzt schon daheim sein – schmiegte sie ihr Köpfchen in die molligen, mit blendend weißen Bezügen versehenen Betten und war bald entschlummert.

*

Der Unterricht hatte begonnen. Ilsedore war ihrem Alter und ihren Fähigkeiten nach in die zweite Klasse des Seminars eingereiht worden. Die erste Klasse war ziemlich schwach besetzt, da dort nur Schülerinnen, die bisher andere Seminare besucht hatten, aufgenommen waren.

Die zweite Klasse war so überfüllt, daß man noch zwei Parallelklassen einrichten mußte. In die dritte Klasse wurden nur Mädchen jüngeren Alters aufgenommen, es waren meistens nur Tagesschülerinnen, die, ohne sich zur Lehrerin ausbilden zu wollen, gern eine Art Oberlyzeum besuchten, da in Wengstädt solch eine höhere Bildungsanstalt bisher gefehlt halte.

Klasse 2a war ein ziemlich großes Zimmer, in dem zirka zwanzig Schülerinnen untergebracht waren. Man saß nicht auf Schulbänken, sondern an Tischen zu je sechs bis acht Mädchen.

Ein eigenartiger Zufall, wie er im Leben oft eine große Rolle spielt, hatte es mit sich gebracht, daß Ilsedores Nachbarin ausgerechnet Josepha Hillinger geworden war. Und zwar war Josepha zur Prima der Klasse ernannt, während Ilsedore als »Zweite und Stellvertreterin der Prima« fungierte.

Mit besonderer Aufmerksamkeit musterte Ilsedore ihre Nachbarin. Schon gestern bei der Aufnahme hatte Josepha ihr am besten gefallen, und nun heute gar, am ersten Schultage, erhöhte sich noch dieses Wohlgefallen. Nur über ein eigenartiges Gefühl von Schüchternheit konnte Ilsedore nicht hinwegkommen. Immer wieder mußte sie an die Erzählung ihres Vaters von dem Zwist der beiden Familien denken.

Ob Josepha auch davon Kenntnis besaß? Sie benahm sich völlig unbeeinflußt von irgendwelchen feindlichen Strömungen.

Josepha hatte ziemlich viele Obliegenheiten als Prima am ersten Tage zu erfüllen, so kam kein Privatgespräch zwischen den Nachbarinnen zustande.

»Darf ich Ihnen nicht helfen?« fragte Ilsedore nach einer Weile. »Diese Namensliste könnte ich abschreiben.«

»Wenn Sie so freundlich sein wollten, es lastet ein bißchen viel Arbeit auf mir, ich muß mich erst in mein neues Amt einleben.«

Mit diesen Worten war das Eis gebrochen. Ilsedore verlor ihre Schüchternheit und half Josepha bei ihren Arbeiten für die Klasse.

Ein eigentlicher Unterricht fand am heutigen Tage nicht statt, nur der Klassenlehrer, Herr Doktor Vieweg, stellte sich seinen Schülerinnen vor.

Ein nicht gar zu junger Herr, machte er auf Ilsedore einen recht guten Eindruck. Er hatte schon graumeliertes Haar und trug eine etwas sehr große Brille, Rundgläser mit dunkler Horneinfassung, wodurch sein Gesicht eine eigene Prägung von Ernst und Schärfe erhielt.

Nachdem sämtliche Formalitäten erledigt waren, trat er zu Josepha heran, reichte ihr, wie einer guten Bekannten, die Hand und sprach kurze Zeit mit ihr auf solche vertrauliche Art, daß Ilsedore, die natürlich dem Gespräche folgen mußte, sehr erstaunt darüber war.

»Heute nachmittag spreche ich bei euch vor,« schloß er, seinen Hut nehmend.

»Wird Mutter freuen, wir sind im Garten, 's ist heute Bleichtag,« erwiderte Josepha gleichmütig.

Dann, als Doktor Vieweg gegangen war, wendete sich Josepha zu ihrer Nachbarin: »Sie wundern sich als Fremde über unsere Unterhaltung, nun, Doktor Vieweg ist der Gatte meiner ältesten Schwester. Erst auf sein Zureden, nachdem er von Halle aus hierher versetzt war, meldete ich mich zur Aufnahme an der neuen Anstalt.«

»Sie wollen also nicht den Besuch dieses Seminars als Vorstufe für einen späteren Beruf ansehen?« fragte Ilsedore.

»Eigentlich nein. Bisher war mir diese Idee noch nicht gekommen, doch mein Vater meinte, es schadete mir nichts, noch ein paar Jahre lang die Schulbank zu drücken! – Und Sie, welche Beweggründe führen Sie hierher nach Wengstädt? Wir leben hier in einem stillen Winkel, fern von allem Weltverkehr. Wie kommen Sie gerade auf unser Städtchen und dieses Seminar? Sie sehen, ich frage viel auf einmal – wenn Sie nicht wollen, beantworten Sie meine Fragen nicht.«

»Weshalb nicht?« meinte Ilsedore. »Es ist ja kein Geheimnis dabei. Seit mehreren Jahren ersehnte ich, ein Seminar zu besuchen. Da mein Bruder studiert, so blieben für mich nicht große Mittel übrig. – Da schrieb eine Tante von mir, daß hier ein Seminar errichtet worden sei – da brachte mich mein Vater hierher, und ich hoffe, hier eine gute Vorbereitung für meinen Beruf zu erhalten.«

»Gewiß, mein Schwager hat als Lehrer einen sehr guten Ruf, auch den anderen Herren vom Lehrerkollegium geht ein guter Ruf voran; besonders Monsieur Toujour, ein geborener Südfranzose, soll ein ausgezeichneter Fachmann sein.«

Ilsedore hatte aufmerksam den Worten ihrer Nachbarin gelauscht. Durch sie konnte sie die allerbesten Auskünfte erhalten.

»Sind Sie hier in Pension oder leben Sie bei Ihrer Tante?«

Ilsedore errötete leicht. Jetzt mußte sie den Namen der Tante nennen, ob dann nicht das so nett angebahnte Verhältnis zwischen Josepha und ihr einen tödlichen Riß erhalten würde?

»Ich – ich wohne und lebe bei meiner Tante Fräulein Mieze Mellenhoff. Sie ist die einzige Schwester meines Vaters,« setzte sie gleichsam als Erläuterung hinzu.

Dann wartete sie – wartete pochenden Herzens. Nun mußte Josepha sich kalt von ihr wenden, mußte jede Gemeinschaft mit ihr abbrechen. Doch – seltsam – Josephas Mienen veränderten sich nicht, ja sie reichte Ilsedore ihre Hand.

»Dann sind wir ja fast Nachbarinnen. Unser Garten stößt mit seinen letzten Bäumen an den Bach, und jenseits dieses Baches beginnt der Garten Ihres Fräulein Tante. Der kleine Bach ist zu manchen Zeiten fast trockengelegt, man könnte, ohne sich die Stiefel naß zu machen, hinüber und herüber schreiten. Steht nicht auch eine mit Rosen überwachsene Laube am Ende dieses Gartens?«

Ilsedore nickte und Josepha fuhr lebhaft sprechend fort:

»Wie oft haben meine Blicke sehnsuchtsvoll an dieser Laube gehangen, wie auch der ganze Garten stets meine größte Aufmerksamkeit forderte. Wie gern wäre ich über die Steine, die im Bache liegen, hinübergelaufen und hätte mir die blühende Wildnis dieses Gartens näher betrachtet – doch meine Eltern, die doch so viel Verkehr in der Stadt pflegen, gerade mit Ihrem Fräulein Tante verkehren sie nicht.«

»Tante Mieze lebt sehr zurückgezogen,« warf Ilsedore ein.

Dieses Gespräch fand im Garten des Seminars statt, in dem die jungen Mädchen während der Zwischenpause frische Luft schöpften und ihr Frühstück einnahmen.

Erst der schrille Ton der Schulglocke endete diese vertraulichen Mitteilungen, Josepha hatte nur noch Zeit, ihrer Nachbarin einige Worte zuzuraunen.

»Herr Fischer, unser Lehrer in Geographie, ist wenig beliebt. Er ist ein echter Nörgler und langweiliger Patron. Das Seminar mußte ihn anstellen, da er seit Jahren an der Töchterschule lehrte, die nun geschlossen wurde.«

Da öffnete sich auch schon die Tür, und ein älterer Herr trat ein. Freilich, das war eine ganz andere Persönlichkeit als Josephas Schwager. Schon auf den ersten Blick sah man ihm den Schulmeister an. Mit langsam abgemessenen Schritten durchmaß er die Länge des Klassenzimmers – bestieg ebenso langsam abgemessen das Katheder und nun erst grüßte er seine Zuhörerinnen mit einem kurzen Neigen des Kopfes.

»Guten Morgen, Kinder.«

»Guten Morgen, Herr Fischer.« antworteten die hellen Mädchenstimmen.

Dann räusperte sich der Lehrer, schnupfte aus einer mächtigen Dose und schlug voller Gemächlichkeit ein Buch auf, aus dem er seine Weisheit holte.

Ilsedore ertappte sich öfter während des nun folgenden Unterrichts auf Unachtsamkeit, sie vermochte ihre Gedanken nicht auf den Vortrag des Lehrers zu konzentrieren. Immer wieder mußte sie an das Gespräch mit Josepha denken, hatte Josepha wirklich keine Ahnung von dem Familienzerwürfnis zwischen den Hillingers und Tante Mieze? Oder tat sie bloß so? – Doch nein, Josepha war keiner Verstellung fähig, sie war eine ehrliche, aufrichtige Seele, die –

Ilsedore schreckte auf. Ihr Name, von einer scharfen Stimme ausgesprochen, erklang, sichtlich verlegen erhob sie sich und starrte in das ärgerlich verzogene Gesicht des Lehrers.

»Sind Sie schwerhörig?« fragte er zornig erregt. »Schon zweimal habe ich Sie gefragt – doch keine Antwort erhalten. Ein schlimmes Zeichen,« fuhr er polternd fort, »schon in der ersten Stunde nicht bei der Sache. Allotria im Kopfe, hätten sich nicht hierher zu bemühen brauchen.«

Blutübergossen, vor Scham fast weinend, stand Ilsedore da. Sie wagte nicht aufzublicken, denn sie fühlte, wie die Augen ihrer Mitschülerinnen schadenfroh auf ihr ruhten.

»Setzen Sie sich und geben Sie ein anderes Mal besser Obacht,« hörte sie die blecherne Stimme des Lehrers, und völlig mechanisch folgte sie diesem Befehl.

Den Kopf auf die Brust gesenkt, saß sie eine Weile da, dann fühlte sie, wie eine warme Hand zart über ihre beiden im Schoß liegenden Hände strich, und unwillkürlich öffneten sich ihre geballten Hände und erwiderten den Druck der kleinen Hand.

Und nun plötzlich wagte sie den Blick zu heben und Josepha anzuschauen; doch schnell blickte sie seitwärts, ein Strahl herzlichster Zuneigung blitzte ihr aus Josephas dunklen Augen entgegen. Ein Seufzer der Erleichterung hob ihre Brust.

Wie Ilsedore an diesem ersten Vormittag nach Hause gekommen war, ob sie in Gesellschaft anderer junger Mädchen den Weg nach Tantes Haus zurückgelegt hatte, dessen wußte sie in der Folge sich nicht mehr zu erinnern. Nur das eine stand für alle Zeiten klar in ihrem Gedächtnis fest: Niemals im Leben vergaß sie die sanfte Berührung der kleinen Hand Josephas.


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