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Sechstes Kapitel
In Wengstädt

Vater Mellenhoff in eigener Person begleitete sein Töchterchen nach Wengstädt. Noch niemals hatte das junge Mädchen solche weite Reise unternommen. Sie saß tief in ihre Ecke gedrückt und war zuerst viel zu betrübt, um hinauszuschauen und die oft malerische Landschaft zu bewundern, die sich plötzlich aufbaute, um aber ebenso schnell wieder zu verschwinden.

Man hatte ein ziemliches Stück Mitteldeutschland zu durchfahren, ehe man am Ziel der Fahrt anlangte. Zuletzt, als die dunkel bewaldeten Berge des Thüringer Waldes vor ihren Blicken auftauchten, verschwand Ilsedores Kummer, ihr Trennungsschmerz verflog, sie bewunderte die Schönheit der Landschaft aus voller Seele.

Tante Mieze hatte fest versprochen, die »Weitgereisten« vom Bahnhof abholen zu lassen, denn hier in Wengstädt war alles so verändert und neu, daß selbst Herr Mellenhoff, der hier geboren war, sich nicht mehr zurechtfinden konnte.

Der Anblick des Bahnhofes war nicht besonders einnehmend. Ein altes Gebäude, lag er zwischen den Feldern vor der Stadt. Im Sonnenbrand, es war bald Mittagszeit, wanderten Vater und Tochter der Stadt zu.

»Hier hat sich nichts verändert,« sprach Vater Mellenhoff zu dem alten Mann, der auf einer Schubkarre Ilsedores Koffer fuhr. »Heiß ist es hier,« setzte er, den Hut abnehmend und sich die Stirn trocknend, hinzu.

»Jo, jo, heeß is es Sie schon bei uns,« erwiderte der Alte, seine Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen schiebend.

Bald war das Städtchen erreicht, und Ilsedore bewunderte das massive Steintor, durch das sie ihren Einzug nehmen mußten.

Tante Mieze stand auf der obersten Treppenstufe, vor der Haustür des alten Familienbesitzes. Viele Generationen waren die drei Steinstufen hinaufgestiegen und hatten dann auf den Schultern der Altgesellen den letzten Weg, dem niemand entgehen kann, angetreten.

Sämtliche Vorfahren hatten das ehrsame Bäckerhandwerk betrieben und sich dabei gut gestanden. Nun war Tante Mieze die alleinige Besitzerin des schmalen, hochgiebeligen Hauses auf dem Marktplatz.

Schon sprang sie so leichtfüßig, als ihr Alter und ihr Podagra es ihr erlaubten, die Steinstufen herab. Mit weithin schallenden Willkommensrufen begrüßte sie Bruder und Nichte.

»Was bist du groß geworden, Ilsedore,« bemerkte sie, nachdem sie das widerstandslose junge Mädchen an ihren Busen gedrückt und abgeküßt hatte. »Ich hätte dich gar nicht wiedererkannt, so schlank wie eine Tanne bist du gewachsen.«

Ilsedore, die an solch laute und überschwengliche Gefühlsäußerungen nicht gewöhnt war, machte ein klägliches Gesicht. Endlich ließ Tante Mieze von ihr ab, reichte ihre beiden Hände dem Bruder und geleitete dann ihre »lieben Verwandten« mit strahlender Miene in das Haus.

Da standen hohe Schränke auf dem mit Steinquadern belegten Hausflur, auf den eine ganze Anzahl von Türen mündeten. Was mußte alles dahinter stecken? Wohin führten sie? –

Tante Mieze legte ihren Arm um die Taille ihrer Nichte und bugsierte sie mit einem kräftigen Druck in das offen stehende Zimmer, auf dessen hoher Holzschwelle ihr vor ihr gehender Vater stehenblieb und voller Erstaunen ausrief:

»Aber Mieze, bei dir ist ja die Welt stehengeblieben, jedes Möbel steht noch auf demselben Flecke, wo es vor alten Zeiten gestanden hat. Ich fühle mich sofort wieder zu Hause und habe doch fünfundzwanzig Jahre keinen Fuß nach Wengstädt gesetzt.«

»Ja, Brüderlein, bei mir bleibt alles so stehen wie bei den Eltern selig, Neuerungen liebe ich nicht. Ich halte fest an den lieben, allen Sitten und Gebräuchen, und dabei fühle ich mich wohl und zufrieden.«

Das sogenannte Unterzimmer war ein ziemlich großer Raum. Nachgedunkelte, altertümliche Eichenmöbel – wohl noch von den Urvätern aufgestellt – standen an den Wänden. Blendend weiße Gardinen hingen an den beiden nach dem Markte zu gelegenen Fenstern. Köstlich blühende Blumen standen auf den Fensterbänken und ein großer Bauer, aus dem Vogelgezwitscher die Eintretenden begrüßte, hing an der Mittelwand.

Auf der einen Breitseite stand das Riesensofa, davor der mit einem blendend weißen Tafeltuch belegte Eßtisch, auf dem einige appetitreizende Erfrischungen aufgetragen waren.

»Die alte Mieze,« bemerkte Vater Mellenhoff, »hast mal wieder deine Vorratskammer tüchtig geplündert.«

Die alte Dame lächelte sichtlich geschmeichelt. »Na, man tut, was man kann; freilich so fein wird nicht alle Tage aufgetischt. Heute aber ist großer Feiertag. Solche seltenen Gäste muß man feiern!« rief Tante Mieze, sich an ihr Nichtchen wendend und ihr die Hände entgegenstreckend.

Ilsedore vermochte nur ein paar Bissen hinabzuwürgen. Sie hatte gar zu viel Neues gesehen, denn Tantes Zimmer waren vollgepfropft mit allerlei liebem Hausgerät aus lange vergangenen Zeiten.

»Iß, Kind,« ermahnte Tante Mieze. »Dann bringe ich dich in dein kleines Reich. Ich habe deines Vaters Stübchen für dich Herrichten lassen. Morgen vormittag gehen wir zum Bürgermeisteramt und sehen uns dann gleich das Seminar an. Ist ein stolzes Gebäude, ein Schmuck für unsere Stadt. Es war höchste Zeit, daß ihr eintrafet, schon übermorgen ist Aufnahmeprüfung. Du hast doch keine Furcht, Ilsedore? Der neue Herr Direktor Fischmeier soll ein sehr liebenswürdiger Herr sein und auch ein sehr gerechter Mann,« setzte sie hinzu.

Vater Mellenhoff strich seinem Töchterlein liebevoll über die Krauslöckchen, die ihre schöngeformte Stirn umkräuselten.

»Mein Mädel kennt keine Furcht,« sagte er dabei. »Tante Mieze, wir bringen sehr gute Zeugnisse mit, wirst große Augen machen und dich freuen,« setzte er, einen Blick väterlichen Stolzes auf sein Töchterlein werfend, hinzu.

Bescheiden senkte Ilsedore ihr Köpfchen, ein liebliches Erröten ihrer Wangen verschönte sie, noch niemals hatte ja der sonst so schwer zu befriedigende Vater sie so anstandslos gelobt.

»Nun, um so besser. Ich schickte euch ja den Aufnahmeplan ein, da blieb Ilsedore Zeit, die betreffenden Fächer zu repetieren. Ich hörte auch, der neue Herr Direktor bevorzugt das Studium fremder Sprachen.«

»Das trifft sich prachtvoll. Gerade fremde Sprachen waren meiner Tochter Lieblingsfächer, dazu Geschichte und Geographie. Wir sind im Winter viel herumgereist und haben ein schönes Stück Erde dabei kennengelernt.«

»Viel gereist? Ich dachte, du hättest weder Zeit noch Geld zu solch kostspieligem Vergnügen,« bemerkte Tante Mieze etwas spitz.

Ihr Bruder lachte hell auf, und auch um Ilsedores Lippen spielte ein leises Lächeln.

»Wir reisten sehr billig,« erklärte dann Vater Mellenhoff. »Nur auf der Landkarte, an Hand eines geographischen Werkes.«

»Ach so, ich dachte schon –«

»Ich hätte Größenwahn? Gib es nur zu, Schwesterlein, ich lese ja deine Gedanken, wie vor lange vergangener Zeit, von deinem Gesicht ab.«

Tante Mieze erhob sich. »Wollen wir nicht in den Garten gehen? Du erinnerst dich doch noch an die Rosenlaube?« wendete sie sich fragend an ihren Bruder.

Vater Mellenhoff reichte seiner Schwester galant den Arm und führte sie aus dem Zimmer.

Tante öffnete eine der geheimnisvollen Türen, und Ilsedore schaute hinaus in einen sonnenbeschienenen Garten.

Sie staunte, und ihr Fuß stockte einen Augenblick, solch einen Garten hatte sie noch niemals gesehen. Er war nicht groß. Nur ein kleiner, schmaler Hausgarten; doch so ganz anders als alles, was sie bisher kennengelernt hatte.

Wohl kannte sie Apothekers Garten mit feinen Wegen und Stegen. Auch die Pracht und Schönheit der gärtnerischen Anlagen bei Kommerzienrats hatte sie bewundert, aber selbst der Garten hinter ihrem Elternhause war ganz anders eingerichtet als dieser eben jetzt vom Sonnengold überstrahlte kleine Blumengarten.

Hier gab es keine Gemüsebeete, wie in anderen Hausgärten, keine Nutzpflanzen, sondern nur eine Wildnis von blühenden, duftenden Blumen, und am Ende des mitten durch die blühende Wildnis gehenden Weges stand eine Rosenlaube.

Sie wirkte wie ein Zauber auf Ilsedore. Über und über war sie mit kleinen, zierlichen weißen Röschen bedeckt, deren aromatischer Duft die Luft durchströmte. Unwillkürlich falteten sich Ilsedores Hände. Sie blieb wie angewurzelt stehen.

»Nun, willst du nicht näher treten? Hier läßt es sich sehr gut ruhen. Hier stört kein Geräusch die stille Beschaulichkeit.«

»So recht ein Winkel zum eifrigen Studium.« fügte Vater Mellenhoff hinzu.

»Ja, Vater, hier ist gut sein und –"

»Bleiben,« fiel Tante Mieze schnell ein.

Sie zog Ilsedore näher zu sich heran, und der aufmerksam alles beobachtende Bruder bemerkte mit heimlichem Vergnügen, daß Schwester Mieze sein Töchterchen mit liebevollen Blicken betrachtete.

Seine Sorge um das Wohl seines Kindes schwand; denn im Grunde seiner Seele hatte ihm vor dem ersten Zusammensein von Tante und Nichte gebangt. Auf der Reise hierher hatte er sich bemüht, sich ein Bild seiner Schwester zu machen, der alten Frau, die seit mehr als zwanzig Jahren ganz allein lebte, nachdem sie ihren Vater durch einen Unglücksfall verloren hatten. Außer ihrem Bruder besaß sie keine Anverwandten. Sie war auch nicht mit der Neuzeit mitgegangen, sondern hatte sich in ihr stilles Alltagsleben eingesponnen. Und Ilsedore? Sie stammte aus einem anderen Zeitalter, war im Verkehr mit ebenso jungen Menschen aufgewachsen, da hatten sich ganz andere Lebensanschauungen bei ihr ausgebildet. Die Kluft war zu weit, zu groß, die zwischen diesen beiden ihm fast gleich lieben Menschen sich auftat. Würde, ja konnte die alte Dame sich die Mühe geben, sich in das Innenleben der Nichte hineinzuversetzen?

Jetzt aber schwand jede Bangnis des zärtlichen Vaters, er fühlte, sein Kind war hier in Wengstädt im Hause Tante Miezes wohl aufgehoben. Ein heller Schein leuchtete aus seinen Augen und einem plötzlichen Impulse folgend, reichte er seiner Schwester die Hand und sagte: »Wie danke ich dir!«


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