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Zweites Kapitel
Johannes Helldorf

Das Pförtchen stand offen. Eine grüne Wildnis lag vor den Eintretenden.

Der Garten des Apothekers umfaßte einen mächtigen Raum, wie er nur in so weltentlegenen Städtchen möglich ist. Viele Morgen groß, breitete er sich, bis an den Fluß stoßend, hinter dem Hause aus.

»O Sonnenschein, o Sonnenschein,
wie scheinst du mir ins Herz hinein.
Weckst drinnen lauter Freud' und Lust,
daß mir zu enge wird die Brust.«

klang es plötzlich durch die fast feierliche Stille.

»Unsere Grete! Unsere kleine Nachtigall! Komm, Emmerich, wir wollen sie in ihrem Nestchen überraschen,« flüsterte Ilsedore.

Kurz entschlossen, zog sie den großen Bruder mit sich fort. Ilsedore kannte das »Nestchen« des Singvögelchens, wie Margarete Helldorf im Kreise ihrer Schulfreundinnen genannt wurde.

Nahe dem Flusse, sein harmonisches Rauschen mischte sich mit dem Staunen der Baumwipfel, stand eine Rosenbank. Ein Kranz lieblich duftender Monatsrosen war, die Bank an drei Seiten umschließend, hier angepflanzt. Nach dem Flusse zu schloß eine dichte Hecke das Nestchen ab.

Vor dieser Bank stand ein junges, weißgekleidetes Mädchen. In wonniger Ekstase streckte sie ihre beiden Arme der blühenden Umwelt entgegen. Sie jubelte, im Überschwang ihrer jugendlichen Daseinsfreude, das Frühlingslied hinaus in die schweigsame und doch so beredte Natur.

Vorsichtig, wie Indianer auf dem Kriegspfade, pirschten sich die Geschwister heran. Gewandt suchten und fanden sie zuletzt noch Deckung hinter den breit ausladenden, tief herabhängenden Zweigen einer Eiche.

»Laß uns erst Atem holen,« flüsterte Emmerich, »dann aber schnell vor, wie ›Zieten aus dem Busch‹.«

Gesagt! Getan!

Im ersten Augenblick schien Margarete erschrocken, schon hob sie das Füßchen, um ihr Heil in der Flucht zu suchen, doch gleich darauf erkannte sie Ilsedore und Emmerich.

Der schwache Abglanz eines lieblichen Lächelns zitterte über ihr sonst bleiches Gesichtchen, als sie ausrief: »Emmerich, du? Das nenne ich einen richtigen Überfall! Ist es bei euch Mode, zarte Mägdelein so aus dem Hinterhalt zu erschrecken?«

»Mich allein trifft dein Vorwurf, Grete. Ich nahm Emmerich ins Schlepptau,« bemerkte Ilsedore, fröhlich lachend. »Was du dir einbildest, solche Allotria treiben Studenten nicht mehr.«

Grete blickte, sichtlich überrascht, auf. »Ah – so, darf man dir gratulieren? Wie mich das freut.«

Emmerich verneigte sich geschmeichelt, dabei streichelte er zärtlich die kaum zu sehenden Barthärchen.

»Weiß Johannes schon, daß ihr gekommen seid?« fragte Grete. »Nicht? Der arme Kerl tut mir so leid, er hatte heute wieder eine stürmische Unterredung mit Vater,« setzte sie bekümmert hinzu. »Er findet seinen Beruf so häßlich und langweilig, trotzdem hofft Vater, Johannes sich als Erben und Nachfolger zu erziehen. Die Apotheke sei eine Goldgrube.«

»Wie weise unsere Grete spricht. Ich will dir einen Ausweg verraten, heirate du einen Apotheker, dann wird Johannes frei und darf sich selbst einen Beruf suchen.«

»Dummes Zeug, ich – ach, Ilsedore, was für krause Ideen du oft zu Tage förderst! Aber nun will ich gehen, meinen Bruder zu holen.«

Wie ein weißer, leichtbeschwingter Schmetterling flatterte Grete quer durch den Garten. Die Geschwister folgten langsamer. Sie standen gerade an der Haustür, als Johannes, wie aus der Pistole geschossen, hervorbrach.

Lachend und jubelnd lagen sich die beiden Jugendfreunde in den Armen.

»Ich springe ins Haus,« rief Margarete. »Dörte soll uns schnell Waffeln mit Erdbeeren und Schlagsahne herrichten.«

Ilsedore schlug vor Staunen die Hände über den Kopf zusammen. »Potztausend, lebt ihr lukullisch? Wochentags Schlagsahne und Waffeln?«

»Zufall, bei Vater hatte sich aus Berlin ein Geschäftsfreund anmelden lassen, da mußte doch zur Ehrung des Gastes etwas zum Nachtisch besorgt werden.«

»Eure Dörte ist ein Backgenie! Na, wir können uns die Opulenz gefallen lassen. Bei uns gibt es keine solche Delikatessen.«

»Dann ist allen Teilen geholfen! Wir haben den Nachmittag für uns, Vater kehrt erst gegen Abend von der Ausfahrt zurück.«

»Du bist ja sowieso Hausherrin,« scherzte Ilsedore, doch sofort bereute sie das ihr entschlüpfte Wort, als Grete ihr Köpfchen senkte und eine Träne ihr langsam über die wieder blassen Wangen rollte.

»Leider, Ilsedore, aber glaube mir, es wird mir oft so schwer, Vaters Erwartungen und Wünsche zu erfüllen. Unser liebes, seliges Mütterchen hat ihn arg verwöhnt. Ich bin leider noch unerfahren in vielen Dingen, da drücken die Hauhaltungssorgen oft schwer auf meinen jungen Schultern.«

Grete schritt viel langsamer, als es sonst ihre Art war, nach dem Hause zu. Gedankenvoll blickte Ilsedore ihr nach. Grete war gesund, hübsch und sehr reich. Gleich einem blühenden Garten lag das Leben vor ihr, und trotz alledem hatte sie schon früh des Lebens Sorgen und Kummer kennengelernt.

Bald darauf saß das vierblätterige Kleeblatt um den Tisch in der Laube. Man langte tapfer zu, so daß Dörte, das alte Hausmädchen der Apothekerfamilie, eine zweite Auflage Waffeln bringen mußte.

Zwischendurch erzählte Emmerich von dem bestandenen Examen, von seinen Aussichten in Berlin und von der kommenden Studienzeit.

Johannes Helldorf saß dicht neben dem Freunde, er lauschte dessen Worten wie einer heiligen Offenbarung.

»In einem Jahre folgst du mir nach Berlin, Johannes, dann bin ich schon in der Residenz eingerichtet und kann dir als Führer dienen.«

»Freilich wohl, aber bedenke, noch ein volles Jahr muß ich hier leben, nein, vegetieren. Mixturen und Tees abwiegen, all der Kleinkram wirkt geisteslähmend auf mich ein.«

»Jeder Beruf hat seine Schattenseiten, und kein Mensch geht ohne Hindernisse glatt durchs Ziel. Ich würde, wie du weißt, auch lieber Geschichte studieren, aber es geht eben nicht, und so muß ich mich mit der Tatsache abfinden. Selbst Leo, der Sohn des Kommerzienrates Wehrhaus, darf nicht seinen Neigungen leben. Er würde fürs Leben gern Seemann, sein Vater aber hat ihn, den einzigen Sohn, zu seinem Nachfolger bestimmt.«

»Nun, vielleicht gestaltet sich im Laufe der Zeit noch manches anders,« tröstete Grete, dann fuhr sie lebhaft fort: »Auch bei uns scheinen sich allerlei neue Fäden anzuspinnen. Unser alter Schmettau vertraute mir soeben an, daß unser Vater doch ernstlich mit dem Gedanken sich beschäftige, die Apotheke ›Zum König Salomon‹ zu verkaufen. Heute vormittag sei schon wieder ein Käufer erschienen, habe auch einen ansehnlichen Preis geboten.«

Emmerich schlug seinem Kameraden vertraulich auf die Schulter. »Na, alter Freund, dann blüht dein Weizen, dann heißt es für dich ade Apotheker, ade, ich fahre hinaus in die Welt.«

»An den Verkauf glaube ich erst dann, wenn das Schriftstück unterschrieben und untersiegelt vor mir liegt,« bemerkte Johannes geringschätzig.

»Vater ist doch wegen des Verkaufes heute nach der Stadt gefahren. Er will sich, so sagt Schmettau, mit seinem Freund, dem Landrichter Heidenreich, besprechen,« meinte Grete.

»Na also, dann ist die Sache ja klipp und klar. Schade nur, daß ihr dann fortzieht. Emmerich geht wieder nach Berlin, dann sitze ich allein hier und blase Trübsal,« klagte Ilsedore.

»Na, noch ist nicht aller Tage Abend, am Ende kommst du früher fort als wir, das Leben spielt oft seltsam und –«

»Grete, du willst mich trösten, doch ich traue deiner Prophetenstimme nicht. Bedenke, wohin und zu wem sollte ich reisen? Ihr kennt ja den Wunsch meines Herzens, wißt aber ebensogut, daß er unausführbar ist, meine Eltern sind nicht vermögend, und das Studium kostet zu viel Geld,« setzte sie mit leiser Stimme hinzu. Dann strich sie sich mehrere Male über ihre heiß gewordenen Wangen. »Aber heute laßt uns fröhlich sein, man darf vor der Zeit nicht verzagen, am Ende geschehen noch Zeichen und Wunder.«^

Und der frohe Jugendmut siegte. Weshalb sollte man sich mit trüben Gedanken plagen, solange man jung und lebensfroh in die Zukunft blickte. Ehe sie es sich versahen, war über fröhlichem Geschwätz der Abend hereingebrochen. Schon zitterte im Westen der letzte Strahl der Sonne durch die dichtbelaubten Bäume des Gartens. Schon erhob sich der Abendwind und kühlte die Luft, als Ilsedore lauschend ihr Köpfchen hob.

Unwillkürlich schwiegen alle, Johannes flüsterte hastig: »Es wird Leo sein, er reitet fast allabendlich hinter unserem Garten nach der Pferdekoppel. Wollen wir ihn anrufen?«

»Gewiß, gewiß!« entschied Emmerich. Eilends erhob er sich, und ohne weiter zu fragen, schrie er. »Leo, hierher!«

»Na, dann allons, Hans!« klang es von jenseits des Stakets, und mit einem Sprung setzte der gewandte Reiter über das niedere Holzwerk.

»Fein, Leo, bist ein Tausendsassa,« lobte Emmerich, während Johannes in wortlosem Staunen den Reiter betrachtete.

Die beiden Mädchen hatten, als der Fuchs über das Hindernis setzte, laut vor Schreck aufgeschrien. Nun Roß und Reiter glücklich auf der Wiese gelandet waren, eilten sie herbei, um Leo die Hände zum Willkommensgruß entgegenzustrecken. Ilsedores hübsches Gesicht glühte, während Margaretes um einen Schein blässer erschien.

Leo Wehrhaus war ein hübsches, fixes Kerlchen. Fast um eine Kopflänge überragte er den schlanken Emmerich, und gar Johannes Helldorf erschien neben der Hünengestalt klein und unansehnlich.

»Hier, binde den Fuchs an diesen Ast,« schlug Emmerich vor. »Du nimmst doch einen Augenblick bei uns Platz?«

»Aber gern, mein Junge – wenn –« hier hielt Leo einen Augenblick inne, »wenn es die Damen gestatten,« setzte er, mit einer eleganten Verneigung gegen Grete, hinzu.

Die sonst so gesprächige Grete antwortete nur durch ein leichtes Neigen ihres Blondköpfchens, dann verschwand sie mit den Worten: »Ich will nur Dörte bestellen –«

Leise rauschten die Büsche hinter dem jungen Mädchen zusammen. Leo stand wie gebannt und schaute der Entfliehenden gedankenvoll nach. Da legte sich eine Hand schwer auf seine Schulter, und als er sich umwandte, schaute er in Emmerichs dunkel gerötetes Gesicht.

»Willst du nicht Platz nehmen? Johannes Helldorf kennst du doch auch, und meine Schwester Ilsedore –«

»Habe ich nicht vergessen, gelt, gnädiges Fräulein, wir beide waren stets die besten Schläger auf dem Tennisgrund.«

Ilsedore nickte, dann fragte sie: »Und Ihr Fräulein Schwester Hortense, ist sie schon angekommen?«

»Noch nicht. Onkel Alex holt sie von der Pension ab, und sie wollen dann erst noch einen Besuch bei Freunden in Wildbad im Schwarzwald abstatten. Elisabeth tut mir leid, sie hat so wenig Kinderfröhlichkeit, immer neben der kranken Mutter, das ist bitter. Denn unsere Mutter ist jetzt völlig gelähmt und dauernd an den Fahrstuhl gefesselt.«

»Elisabeth sollte öfter zu mir kommen,« antwortete Ilsedore voller Mitgefühl.

Unter diesem Gespräch hatte man wieder Platz in der Laube genommen. Leo sah sich suchend um, sein Blick hing wie gebannt am Eingang der Laube. Da glänzte Gretes weißes Kleid durch das Gebüsch und begleitet von Dörte, die einige Schüsseln trug, betrat die junge Hausherrin die Laube.

»Na, endlich,« brummte Johannes; doch Grete schien seine Worte nicht zu hören, mit einer leichten Neigung des Köpfchens bot sie Leo die Kuchenplatte.

»Gnädiges Fräulein sind zu gütig gegen den gewaltsamen Eindringling,« sagte Leo, sich bedienend.

Eine Weile blieb es still, dann erhob sich Johannes und sich zu Emmerich wendend, sagte er halblaut: »Ich höre die Glocke der Apothekentür, mein Amt ruft mich, du übernimmst inzwischen wohl meine Pflichten.« Damit ging er.

Man lachte und scherzte, Leo erzählte vom Gymnasium. Er verstand es ausgezeichnet, seine Lehrer zu verulken, und da unter den älteren Herren auf dem Gymnasium ein paar Originale sich befanden, so lösten seine komischen Nachahmungen ihrer Gesten und Worte bald helles Gelächter aus.

Leos Fuchs schien die Situation gar nicht zu behagen, er zerrte an dem Zügel und bewegte sich unruhig hin und her.

»Hans langweilt sich,« bemerkte Emmerich, sich erhebend. Leo folgte seinem Beispiel. Er trat zu dem Fuchs und strich ihm die Mähne glatt.

»Kannst es nicht erwarten, über die Heide zu jagen?« Dann sich an Margarete wendend, fuhr er fort: »Ich bitte das gnädige Fräulein um Entschuldigung, ich bin so in Ihren Freundeskreis hineingeschneit, das war Ihnen gewiß unlieb.«

»Aber ganz und gar nicht,« erwiderte die Angeredete rasch.

Emmerich setzte schnell hinzu: »Zur Belohnung sollst du auf gefahrlosem Weg den Garten verlassen. Das Türchen ist doch unverschlossen?« wandte er sich an Grete.

Diese nickte. Dann bestieg Leo seinen Fuchs, Emmerich nahm ihn am Zügel und geleitete den Gast hinaus.

Doch seltsam, als er zurückkehrte, da wollte die frühere Fröhlichkeit sich nicht wieder einstellen, so schieden auch Emmerich und Ilsedore bald.


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