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Elftes Kapitel
Ilsedore beichtet

Hellglänzend stand die Sonne am blauen Himmel, als Ilsedore am anderen Morgen hinaus in den Garten trat. Mit wohligem Entzücken atmete sie die köstliche, frische Morgenluft ein. Es war schon ziemlich spät und der Weg zum Seminar etwas weit. Deshalb beeilte sie sich mit ihrem Frühstück, und dabei überdachte sie noch einmal die Aufgaben für den heutigen Unterricht.

Ein leichter Schritt kam den Mittelweg entlang. Ilsedore blickte auf. »Ah, Brüderlein, schon auf den Beinen?«

»Und du bist schon für den Kasten gerüstet?« fragte Emmerich zurück. »Darf ich dich begleiten? Ich will deine Residenz beaugenscheinigen,« setzte er wichtig hinzu. »Übrigens, ist Tante schon zu sprechen? Sie war so lustig gestern abend. Hatte mir die alte Dame ganz anders vorgestellt.«

»Tante schläft noch. Sophie sagte mir, sie schliefe meistens lange, denn sie fühlt sich oft des Morgens recht matt.«

»Na, gestern war sie fröhlich und guter Dinge.«

»Habe sie noch niemals so heiter gesehen; aber jetzt komm, ich muß pünktlich sein, und mein Weg ist noch ziemlich weit.«

Natürlich erregte Emmerichs Erscheinen großes Aufsehen. In der kleinen Stadt erlebte man keine prickelnden Zwischenfälle, hier ging alles nach einer alten Schablone, spielte sich das Leben in denkbar engsten Kreisen ab. Da mußte ein Student in dem gewohnten Straßenbilde schon auffallen.

Besonders die Blicke der jungen Seminaristinnen folgten dem flotten Bruder Studio. Als er sich am Eingang zum Seminar von Ilsedore verabschiedet hatte, wurde sie von allen Seiten mit Fragen bestürmt.

»Wer war der Student? Wo kommt er her? Bleibt er länger hier?«

Voll komischen Entsetzens hielt sich Ilsedore beide Ohren zu. »Wenn ihr alle auf einmal sprecht, da versteht man kein Wort. Ihr wollt wissen, wer es war, nun, mein Bruder Emmerich, er studiert in Berlin Theologie und reist heute nachmittag weiter. So, nun wißt ihr alles ganz genau,« setzte sie mit gutgespielter Gelassenheit hinzu. »Montag beginnen an der Berliner Universität die Vorlesungen wieder. Aber – da schlägt es schon neun Uhr, und dort an der Ecke erscheint schon Doktor Vieweg, da heißt es sich sputen.«

Ilsedore sprengte den Kreis ihrer neugierigen Gefährtinnen, dann nahm sie, als sei nichts geschehen, ihren Platz auf der ersten Bank ein.

*

Tante Mieze hatte ein vorzügliches Festessen von Sophie vorbereiten lassen. Sie selbst nahm daran nicht teil, sie saß auf ihrem Lehnstuhl und beobachtete Emmerich, der voll frischen Appetites den ausgewählten Speisen alle Ehre antat.

»Das war ein Genuß,« sagte er, Messer und Gabel niederlegend. »Ich wünschte, Tante Queister verpflegte mich ebenso extrafein.«

»Wenn es dir jeden Tag geboten würde, wäre es bald nichts Außergewöhnliches mehr,« erwiderte Tante Mieze.

»Wollen wir nicht ein Stück spazierengehen?« fragte Ilsedore, die es merkte, daß der Tante vor Müdigkeit die Augen zufielen.

»Ja, Kinder, geht! Emmerich muß doch die Sehenswürdigkeiten der Stadt kennenlernen.«

»Erzähle mir von deinem Leben,« bat Ilsedore bald darauf. »Ich führe dich zum Schloßberg, diesen Weg bin ich mit Vater gegangen am ersten Tage meines Hierseins,« setzte sie etwas leiser hinzu.

Emmerich stutzte, er blickte seine Schwester forschend an, doch fragte er nichts.

»›Schaue dich nicht um,‹ meinte damals Vater. Und wirklich, er hatte so recht; als ich dann mich umschauen sollte, da war ich ganz entzückt. Wir wohnen daheim in der weiten Ebene, hier, mitten im Bergland, ist man dem Himmel viel näher. Vater erzählte mir dann, daß hier oben auf der Höhe einst ein stolzes Schloß gestanden hätte, mit Türmen, Erkern und festen Mauern, als sollte es für eine Ewigkeit stehen. Und doch – dennoch hatte ein Blitzstrahl es zerstört, das Rittergeschlecht ist gestorben, verdorben, in alle vier Winde zerstreut. Und heute – heute zeigt kein Stein mehr die Stelle, wo einst fürstlicher Glanz herrschte.«

»Verschollen,« fügte Emmerich hinzu. »Ebenso verschollen wie Johannes Helldorf. Wie lange Monate sind dahingegangen, ohne auch nur eine Spur von seinem Leben, seinem Dasein zu bringen.« Sein eben noch so lachendes Gesicht überflog ein tiefer Schatten. Er hatte den Verschollenen liebgehabt.

»Und Leo?« warf Ilsedore nach einer Weile ein.

»Leo, ihm geht es gut. Ich bekam vor einigen Wochen einen Brief von ihm. Es scheint ihm sehr zu gefallen, und er selbst gefällt durch sein munteres Wesen. Er schrieb mir vor seiner Abreise nach Amerika. In den nächsten Tagen kann ich Nachricht erhalten.«

»Und Elisabeth, schrieb er von seiner Schwester?«

»Nicht viel, es gefällt ihr nicht in der vornehmen Pension. Sie hat Heimweh nach Hause, nach – na, was so Mädchen alles schreiben.«

Emmerich war bei den letzten Worten tief errötet. Ilsedore bemerkte es wohl, sie freute sich darüber, war es ihr doch ein Zeichen, daß auch Emmerich sich nach seiner kleinen Spielgefährtin sehnte, allein sie vermied, darüber zu sprechen.

»Ja, ja, Heimweh tut weh,« flüsterte sie mehr für sich, als zu dem Bruder gewendet.

»Schau mich mal an, Ilsedore, leidest du auch an Heimweh? Vorhin, als du vom Vater sprachst, da schwamm dein Auge in Tränen. Schwesterlein, sprich dich aus, verschließe deinen Kummer nicht vor mir,« bat Emmerich. Er hatte den Arm um die zarte Taille der Schwester gelegt und versuchte nun, ihr ins Auge zu blicken.

»Besitzest du keine Freundin hier?« forschte er weiter.

Ilsedore schüttelte das Köpfchen.

»Armes Dorchen,« meinte Emmerich, gedankenvoll in die Weite blickend.

Ilsedore schmiegte sich dicht an den Bruder, und nun vermochte sie ihre Tränen nicht mehr zurückzuhalten. Sie weinte bitterlich; doch dabei flüsterte sie immer wieder: »Lasse Tante nichts merken, sie ist ja so gut zu mir, nur –«

»Was nur?« drängte Emmerich.

»Sie haßt Josepha,« sprudelte Ilsedore heraus.

»Wer ist Josepha? Erzähle es mir, vielleicht –«

»Nein, Emmerich, hier gibt es kein Vielleicht. Hier herrscht ein alter Haß, dessen Ursache ich nicht kenne, und Sophie will ich nicht ausforschen.«

Und nun erzählte sie mit knappen Worten von Josepha Hillinger, der Prima ihrer Klasse. Ohne seine Schwester mit einem Worte zu unterbrechen, hörte Emmerich zu.

»So stehe ich ganz allein, ohne Freundin, ohne Aussprache, und war doch so an Freundschaft und Liebe gewöhnt. Tante ist wohl gut, doch viel zu alt, um mir eine Freundin zu sein,« schloß Ilsedore.

Langsam war der Abend heraufgezogen, die Geschwister hatten es nicht bemerkt. Jetzt erhob sich Ilsedore, sie blickte sich ganz erstaunt um.

»Vergiß, was ich sprach,« bat sie mit kindlicher Anmut. »Wir wollen heimgehen, Tante erwartet uns gewiß schon lange.«


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