Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel
Maiblumen

Bei Kommerzienrat Wehrhaus sollte eine musikalische Unterhaltung stattfinden. Als guter Cellospieler war Emmerich dazu eingeladen, und man hatte ihn gebeten, dafür zu sorgen, daß auch seine Schwester Ilsedore, Johannes und Margarete Helldorf daran teilnahmen.

Er hatte es auf sich genommen, die Geschwister einzuladen. Aber er fand es nicht so leicht, wie er es sich vorgestellt hatte. Denn nicht nur Johannes, auch Margarete Helldorf hatten anfangs der Einladung nach dem Schlosse allerlei Schwierigkeiten entgegengebracht.

»Weshalb wollt ihr die Einladung nicht annehmen? Wehrhaus sind so nette Menschen, und besonders die kranke, alte Dame ist sehr liebenswürdig.«

»Ich mag den Leo nicht leiden,« knurrte Johannes. »Er fühlt sich so recht als Sohn des reichen Kommerzienrats und schaut herablassend auf das Menschengewürm zu seinen Füßen nieder.«

Emmerich lachte hell auf. »Aber Jungchen, dafür kann er doch nichts. Er ist fast einen Kopf größer als ich, und gar du bist eine Art Liliputaner ihm gegenüber. Lerne Leo nur erst näher kennen, dann wird er dir schon gefallen.«

»Das glaube ich nicht, um dir aber einen Gefallen zu tun, und um dir zu zeigen, daß ich nicht eigensinnig auf meinen Anschauungen stehe, verspreche ich dir mitzugehen.«

Emmerich war heilfroh, seinen lieben Johannes zur Annahme der Einladung umgestimmt zu haben, deshalb ließ er das Gespräch fallen und erkundigte sich nach dem Verlauf des Verkaufes der Apotheke.

»Vater hat mir noch nichts Näheres mitgeteilt, aber aus Schmettaus Anspielungen schließe ich, daß die Sache ihrem Abschluß entgegengeht.«

»Bleibst du als Lehrling im ›König Salomon‹?«

»Ich, nein, ich bleibe nicht hier. Vaters Herzenswunsch, sich in mir einen Erben und Nachfolger zu erziehen, ist dann doch hinfällig. Nein, ich bleibe nicht, und sollte ich bei Nacht und Nebel ausreißen.«

Margaretes Eintritt unterbrach ihres Bruders Schmerzenserguß. Hastig gab er Emmerich ein Zeichen zu schweigen, dann fragte er rasch: »Na, mein Schwesterlein, was bringst du mir Schönes?«

»Ich sah Emmerich eintreten und dachte, er brächte mir eine Nachricht von Ilsedore.«

»Das hätte ich wirklich bald vergessen,« rief Emmerich, sich an den Kopf schlagend. »Ich bringe ja eine Bestellung, hier, ein niedliches Liebesbriefchen von meiner Schwester.«

Hastig faßte Grete darnach. Rasch erbrach sie den Umschlag und überflog ebenso schnell den Inhalt. »Gut, ich danke dir, Emmerich – ich erwarte deine Schwester am Nachmittag.«

»Auch hier Geheimnisse,« spottete Emmerich, nach der Mütze greifend. »Ilsedore ist auch mit Geheimnissen vollgepfropft.«

»Die Herren der Schöpfung wollen immer alles brühwarm wissen,« lachte Grete. »Emmerich, du machst ein Gesicht wie acht Tage Regenwetter! Ja, ja – Geheimnisse und Überraschungen müssen sein, sonst –"

»Manchmal schlagen sie daneben aus, aber jetzt lebt wohl, ich will noch einen Besuch in der Villa abstatten, Frau Kommerzienrat Wehrhaus erwartet mich.«

»Na, dazu viel Vergnügen, da stehe ich doch noch lieber hinter dem Ladentisch! Tut mir eigentlich leid, daß ich dir versprochen habe, die Einladung anzunehmen. Aber, ein Mann, ein Wort.«

»Gut – nun adjes, auf frohes Wiedersehen!«

Emmerich verließ schnellen Schrittes die Apotheke. Auf der Straße schlug ihm die Hitze des glühenden Junitages gleich einer heißen Welle in das Gesicht. Raschen Schrittes schwenkte er dem Walde zu. Wie wonnig kühl war es hier. Einen Augenblick blieb Emmerich stehen und schaute im Schutz der hohen Laubbäume hinaus in das sonnenüberflutete Land.

»Es ist noch früh, ich darf eine Weile ruhen,« dachte er. Dann zog er ein Buch aus der Tasche und blätterte darin.

Bald vertiefte sich Emmerich in den Inhalt – er kannte es ja fast auswendig, doch ihm erschien es immer wieder neu und lesenswert. »Eckermann, Gespräche mit Goethe« stand in schwarzen Buchstaben auf dem Rücken des Buches. Nichts rührte sich um den eifrig Lesenden, der sich wohlig und behaglich auf dem weichen Moosboden fühlte.

Emmerich war so vertieft in seine Lektüre, daß er das Näherkommen eines jungen Mädchens nicht merkte. Es war Elisabeth Wehrhaus, die leichten Schrittes, den Hut in der Hand, einen schmalen Seitenweg entlangschritt. Fast wäre sie achtlos an dem Lagerplatz Emmerichs vorübergeschritten, erst als der Lesende ein Blatt umwendete, vernahm sie das raschelnde Geräusch, blieb unwillkürlich stehen und erkannte in dem weltverlorenen Leser den flotten Studenten, Ilsedores Bruder.

Ein neckisches Lächeln zitterte über das Gesicht des jungen Mädchens und einem raschen Impulse folgend, nahm sie ein mächtiges Farnkrautwedel, mit dem sie sich Kühlung zugefächelt hatte, und warf es, gut zielend, dem Ahnungslosen auf das Buch. Mehr erstaunt als erschrocken, ließ Emmerich das Buch sinken, und als er Elisabeth erkannte, erhob er sich rasch.

»Ah, Fräulein Elisabeth, was führt Sie bei dieser Bombenhitze hierher?« fragte er.

»Das möchte ich Sie auch fragen,« erwiderte die Angeredete statt einer Antwort.

»Ich war – ich bin auf dem Wege zu Ihrer Frau Mutter,« erwiderte Emmerich.

»Und ich – ich wollte Maiblumen pflücken. Hier in der Nähe stehen noch eine Menge von Muttchens Lieblingsblumen. Sie sprach beim Frühstück den Wunsch aus, einen Maiblumenstrauß zu haben. Nebenbei gesagt, niemand ahnt zu Hause, daß ich ausgekniffen bin. Ich sollte Klavier üben, aber ich hasse die ewigen Übungen, ich finde sie fade und langweilig,« setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu.

»Aber Mama wünscht es?«

»Ach, Mama ist viel zu gut, als daß sie so etwas wünschen würde, und ich habe noch so viel Zeit zum Lernen vor mir. Weshalb sollte ich mich da an solch einem schönen Sommertag ins Zimmer sperren lassen?« fragte sie, voll lieblicher, noch kindlicher Offenheit zu Emmerich aufschauend.

Einen Augenblick schwieg dieser, er war befangen von der Anmut der kleinen Elisabeth, die er stets nur neben ihrer geistig hervorragenden Schwester gesehen hatte. Da war all der Liebreiz, der sie schmückte, gar nicht so in die Erscheinung getreten.

»Nein, Sie haben sehr recht, einsperren darf man sich nicht lassen. Doch darf ich Sie jetzt zu den Maiblumen begleiten?«

»Wenn Sie Zeit haben, der Waldweg ist für uns alle frei,« erwiderte sie schnell, und dabei schritt sie auch schon nach dem Seitenweg zurück.

Emmerich folgte ihr, im stillen mußte er über Elisabeths Antwort lächeln, und doch gefiel sie ihm ausnehmend gut. Da war noch urwüchsige Kindlichkeit, gepaart mit lieblicher Anmut, zu hören und zu sehen. Er mühte sich, einen passenden Gesprächsstoff zu finden, doch seltsam, in diesem Augenblick fiel ihm gar nichts ein.

Elisabeth dagegen plauderte in ihrer herzigen, lustigen Art weiter, dabei neigte sie sich öfter, um hier und dort ein Waldblümchen zu pflücken.

»Fräulein Heine darf mich nicht sehen, wenn ich heimkomme. ›So ohne Handschuhe und Hut geht keine Dame aus,‹ würde sie sagen. Und ist es nicht viel netter, einmal so ohne allen Zwang hier zu wandeln? Früher, da durfte ich noch frisch und fröhlich herumlaufen, doch jetzt, sagt Fräulein Heine, sei ich ein erwachsenes Mädchen und müßte mich bemühen, wie eine Dame zu handeln. Ist das nicht lachhaft?«

Entzückt bestätigte Emmerich ihre Frage. »Nein, es ist nicht nötig, immer wie auf Draht gezogen zu gehen,« erwiderte er.

Elisabeth war am Rande des kleinen, zwischen hohen Waldbäumen eingebetteten Stückchens Wiese niedergekniet. – Eifrig pflückten die kleinen, wie Emmerich zu seinem Ergötzen bemerkte, gar nicht wohlgepflegten Hände die lieblich duftenden Glockenblümchen.

Eben hielt sie Emmerich einige vollerblühte Blumen entgegen. »Riechen Sie einmal, wie herrlich sie duften.«

Vorsichtig, als wären es zerbrechliche Kostbarkeiten, nahm Emmerich die Blümchen aus der braungebrannten Mädchenhand. Er steckte sie, nachdem er den süßen Wohlgeruch eingeatmet hatte, in das Knopfloch seiner Jacke.

Eine Weile schwieg Elisabeth. Eifrig brach sie Blume auf Blume und vereinigte sie zu einem Strauße. Dann erhob sie sich.

»So, ich denke, nun habe ich genug, morgen kann ich ja mehr holen,« meinte sie.

»Wenn Sie wieder, ohne abgefaßt zu werden, auskneifen können,« erwiderte Emmerich lachend.

»Das würde Ihnen wohl Freude machen?« fragte sie, ihr Köpfchen senkend.

»Weshalb sollte mir das Freude machen?« fragte er zurück.

»Weil – weil Sie ja ein Pastor werden wollen,« platzte sie heraus, dann aber hielt sie sich, wie erschrocken, den Mund zu. Bei dieser plötzlichen Bewegung fiel ein Teil der Blumen zu Boden. »Ach, wie ungeschickt,« stammelte Elisabeth, sich zur Erde neigend.

Emmerich kam ihr jedoch zuvor. »Lassen Sie, ich hebe Ihnen die Blumen auf."

»Wie dankbar bin ich Ihnen, und zum Dank sollen Sie noch ein paar der allerschönsten erhalten.«

»Ich verspreche Ihnen, diese Blumen zu pflegen und gut aufzubewahren,« entgegnete Emmerich.

»Es sind so einfache Blümchen, und hier wachsen sie in Unmenge,« stammelte sie.

»Aber diese haben Sie für mich gepflückt, das erhöht ihren Wert.«

Einen Augenblick schien Elisabeth der Sinn dieser Worte nicht klar, dann aber lief ein feines Rot ihr über Gesicht und Hals, und sie flüsterte: »Ich denke, es ist hohe Zeit für mich heimzulaufen.«

»Darf ich Sie begleiten?« fragte Emmerich.

Doch Elisabeth schüttelte ihr Köpfchen und lief wie gejagt den Waldweg entlang. Schnell war sie den Blicken des ihr nachschauenden Studenten entschwunden.

»Welch ein liebenswertes Mädchen,«, dachte Emmerich, als auch er sich auf den Weg machte.

Frau Kommerzienrat empfing Emmerich voller Liebenswürdigkeit. Neben ihrem Sitz stand auf einem Ziertisch eine kostbare Vase, gefüllt mit Maiblumen.

»Also, mein lieber Herr Mellenhoff, es bleibt dabei. Sonntag abend sieben Uhr findet die musikalische Unterhaltung statt. Ihr aufgestelltes Programm findet meinen vollen Beifall. Die Begleitung der Lieder wird Fräulein Anselma Heine übernehmen. Es ist dies die Erzieherin meiner jüngsten Tochter, die sich noch gar nicht an gesellschaftliche Formen binden lassen will, und das ist doch so notwendig, da meine beiden Töchter nächstes Jahr in die Gesellschaft eingeführt werden sollen.«

Noch jetzt, auf dem Heimweg, mußte Emmerich an diese Worte denken. Klein Elisabeth hatte noch eine Menge zu lernen und zu vergessen, ehe sie mit allem Pomp in die große Welt eingeführt werden konnte.


 << zurück weiter >>