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Siebentes Kapitel
Im neuen Heim

Der Besuch auf dem Bürgermeisteramt war ganz nach Wunsch ausgefallen; ja der gestrenge Herr Bürgermeister schien Gefallen an dem frischen, aufgeweckten Wesen und der Art Ilsedores gefunden zu haben. Er unterhielt sich auf das freundlichste mit ihr, fragte eingehend nach dem Gang ihrer Studien und nickte dabei mehrere Male zustimmend mit dem Kopf, wenn ihm eine Antwort Ilsedores besonders gut gefiel. Zuletzt reichte er ihr seine beiden Hände und sagte: »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, und hoffe, Sie morgen nach der Prüfung als Schülerin unserer Anstalt begrüßen zu dürfen. Ich wünschte, noch einige junge Mädchen von Ihrer Art in unserer Anstalt ihre Erziehung vollenden zu sehen. Die zwei Jahre Ihres Aufenthaltes bei uns werden schnell verlaufen, dann, nach dem Abgangsexamen, hoffe ich, Ihnen eine Ihren Kenntnissen angemessene Stellung in einem guten Hause anbieten zu können.«

Ilsedore verneigte sich dankend – damit war die Audienz zu Ende.

Am Arme ihres Vaters durchstreifte nun Ilsedore die nächste Umgebung des Städtchens.

Wengstädt lag zwischen Bergen eingebettet, ja das Städtchen selbst schmiegte sich an einen allein stehenden Bergkegel, den sogenannten Schloßberg.

Langsam stiegen Vater und Tochter bergan. Es war sehr warm, und der Weg führte ziemlich steil hinauf.

»Schaue dich jetzt nicht um,« bemerkte Vater Mellenhoff.

Gehorsam blickte Ilsedore stetig vor sich hin.

»Dieser Berg heißt der Schloßberg. Vor undenklichen Jahren soll hier ein stolzes Schloß gestanden haben. Vom Schlosse selbst ist kein Stein mehr vorhanden. Ein Blitzstrahl zerstörte, nach der Chronik, seine Mauern, das ritterliche Geschlecht ist verschollen, vielleicht ausgestorben,« erklärte der Vater, und Ilsedore lauschte eifrig seinen Worten.

Langsam schlängelte sich der Weg zur Höhe.

»So, jetzt schaue dich um."

»Vater, wie schön, wie herrlich ist diese Aussicht? – Zum Greifen nahe liegt die Stadt – und dort drüben, dort windet sich ein Fluß durch die Felder. Noch niemals stand ich so hoch – dem Himmel so nahe.«

Vater Mellenhoff lächelte. Die Begeisterung seiner Tochter freute ihn, ja er selbst fühlte sich von ihrer jugendfrischen Lebenslust angesteckt.

»Komm, laß uns hier niedersitzen."

Irgend jemand hatte eine Bank, die nur aus unbehauenem Lattenwerk bestand, hier oben aufgerichtet. Vater und Tochter ließen sich darauf nieder. Ilsedore schmiegte sich eng an ihren Vater.

»Morgen um diese Zeit bin ich schon weit von dir entfernt,« begann Vater Mellenhoff nach einer Pause des Schweigens. »Ich will die letzten Stunden auch nicht dazu benutzen, um dir gute Lehren für dein neues Leben zu geben. Morgen vormittag findet das Examen statt. Ich bin gewiß, du wirst es gut bestehen, denn ich kann, wie niemand außer mir, deine Kenntnisse in den verschiedensten Fächern beurteilen. Ich weiß, du hast deine Schulzeit gut ausgenützt, nur eins möchte ich dir ans Herz legen, denke bei allem, was du unternimmst oder läßt, stets an das Ende.

Tante Mieze hat dich rasch in ihr Herz eingeschlossen, doch durch ihr stilles, mehr in der Vergangenheit wurzelndes Leben ist sie nicht imstande, dir in allen Lebenslagen eine treue Beraterin zu sein und zu werden. Du bist von heute an auf dich selbst gestellt. Das schließt eine große Freiheit des Handelns ein, aber sie enthält auch eine große Verantwortlichkeit. Tante Mieze ist unter ganz anderen Verhältnissen groß geworden, diese alte Zeit aber ist tot – verschwunden in dem hellen Lichtschein der neuen Zeit.« – Vater Mellenhoff blickte schweigend vor sich hin, dann fuhr er lebhaft fort: »Das Haustöchterchen, mit der stillen Arbeit im Elternhause, gibt es heute nicht mehr. Du selbst hast ja auch den Drang, einen Beruf auszufüllen, empfunden. Nicht mehr die engen Mauern des Elternhauses umschließen die Welt des jungen Mädchens, es tritt hinaus in das öffentliche Leben. Dort weht ein ganz anderer Wind, dort stürmt es bisweilen recht arg. Da heißt es, sich zusammenzunehmen, stark zu sein, damit der böse Sturm dort draußen nicht gar zu viele mit Liebe gehegte und gepflegte Zweiglein abreißt. Ich hoffe, Ilsedore, du verstehst mich, bleibe vor allem treu den Ermahnungen, mit denen Mutter und ich dich großgezogen haben. Pflichtgetreu sein und fleißig die Hände regen, das soll dein Wahlspruch für die kommenden Lehrjahre sein.

Und zeigt sich das Leben nicht immer so, wie du es dir gedacht hast, dann schließe deine Lippen fest, ganz fest zusammen, damit ihnen kein unüberlegtes Wort, kein Klagen und Jammern entschlüpft; sondern schaue hellen Auges vor dich hin und fasse den festen Entschluß, alles Ungemach zu besiegen. Dann wirst du aus allen Kämpfen, die keinem Menschen auf dieser Welt erspart bleiben, als Siegerin hervorgehen.«

Vater Mellenhoff schwieg, beide Arme legte er um die zarte Gestalt seiner Tochter und küßte sie voll väterlicher Liebe auf Mund und Augen.


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