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Dreizehntes Kapitel
Tante Mieze geht in sich

Ilsedore hatte die ganze Nacht über fast kein Auge zugemacht. Voller Sehnsucht wünschte sie den Tag herbei. Zwar ein Bild von dem, was er bringen würde, wagte sie sich nicht auszumalen. Endlich grüßte das helle Morgenlicht sie durch die Zuggardinen; sogleich erhob sich Ilsedore.

Sie dehnte und reckte ihre jungen Glieder, der Anfall gestern hatte keine schlimmen Folgen gehabt. Nur eine innere Unruhe, der sie trotz aller Selbstbeherrschung nicht Herr werden konnte, ließ sie nicht das Gleichgewicht ihres Geistes finden.

Noch war es still im Hause, ob Tante Mieze nach der Aufregung des gestrigen Abends noch schlief? Sie hatten sich sehr spät getrennt, denn Ilsedore mußte Tante genauen Bericht erstatten. Jedes Wort, jede Bewegung mußte erwähnt werden. Tante saß dabei still und bewegungslos in ihrem Ohrenstuhl und hielt die Hände gefaltet.

Sie saß im Schatten der Lampe, so daß Ilsedore den Ausdruck ihrer Mienen nicht enträtseln konnte. Selten nur warf sie ein Wort zwischen Ilsedores Erzählung. Nur: »Weiter! Weiter!« drängte sie, sobald das junge Mädchen schwieg.

Ob sie mal nach der Tante sah, ehe sie in den Garten frühstücken ging? Nein, lieber nicht, Ruhe ist ihr sehr nötig, sie war schon die Tage vorher nicht recht auf dem Posten, und Emmerichs Besuch brachte ihr viel Aufregungen. Als Ilsedore diese Entscheidung getroffen hatte, ging sie hinaus in den Garten.

Es herbstete schon stark. Dichte Nebel lagen um den Gipfel des Schloßberges. Doch Ilsedore hatte heute keinen Blick für die sie umgebenden Schönheiten der Natur, ja sie vergaß sogar, sich von den köstlichen Reineclauden zu pflücken, die sie doch leidenschaftlich gern verspeiste. Auf dem Tisch in der Laube stand ihr Frühstück, Milch und Weißbrot, schon bereit. Doch ohne es zu berühren, saß Ilsedore still und blickte träumerisch vor sich hin. Dachte sie an ihre Schulausgaben? Wohl schwerlich, heute nahmen ihre Gedanken einen ganz anderen Weg.

»Ilsedore, Fräulein Ilsedore!«

Bestürzt schaute sich die Angerufene nach allen Seiten um, dann erhob sie sich und trat an den Zaun, der Tante« Garten nach dem Bache zu abschloß. Da jenseits des Baches kein Zaun den Einblick in den Nachbargarten störte, so bemerkte Ilsedore Herrn Doktor Hillinger in ganzer Gestalt. Er grüßte und neigte sich vor, damit sie besser seine Worte verstehen konnte.

»Ich habe auf Sie gewartet! Ich mußte doch erfahren, ob Ihnen der Unfall auch nichts geschadet hat.«

Ilsedore lächelte. »Ich bin gar nicht so schwächlich veranlagt. Solch ein Anfall wirft mich nicht gleich um.«

»Desto besser, ich machte mir schon schwere Vorwürfe, daß ich gegangen war, ohne Sie ernstlich auf Ihr Wohlbefinden zu prüfen.«

»Tante war sehr ärgerlich –«

»Ja – sehr,« bemerkte mit einem Seufzer der Doktor. »Und sie schüttete das Maß ihres Zornes auf mein armes Haupt herab, der ich doch völlig unschuldig an all den Geschehnissen bin. Ich hatte übrigens noch gestern abend eine Aussprache mit meinen Litern. Es muß hier ein Mißverständnis vorliegen, sie ahnen selbst die Ursache des Zerwürfnisses nicht. Fräulein Ilsedore, wollen Sie mir helfen, dieses Geheimnis aufzuklären?« fragte Doktor Hillinger.

»Gewiß, freilich Tante hat sich in einen jahrelang gehegten Haß hineingelebt, ich fürchte –«

»Fürchten Sie nichts, wer mit starkem Willen etwas zu tun sich unterfängt, dem muß es gelingen. Ich muß mit Ihnen reden, und dazu –«

Ohne weitere Worte stieg er die Böschung hinab und stand bald inmitten des Baches auf einem dortliegenden, breiten Stein.

»Jetzt kommen Sie mir bitte entgegen, fürchten Sie sich nicht, Sie bleiben auf Ihrem Grund und Boden. Die eine Hälfte des Baches gehört zu unserem Grundstück, die andere zu dem Ihrer Tante. Früher hat sogar ein Steg über den Bach geführt, doch Ihre Tante hat ihn eines Nachts, schon vor Jahren, wegnehmen lassen. Sie sehen hier noch die Reste von den eingerammten Stützen des ehemaligen Steges. Wollen Sie mir nicht helfen, diese Brücke wiederherzustellen?«

Ilsedore zögerte, doch Doktor Hillinger redete ihr alle ihre Einwände und Besorgnisse geschickt aus.

In dem lebenden Zaun, auf Tante Miezes Seite, waren im Laufe der Jahre sehr große Lücken entstanden, so gelangte Ilsedore ohne Schwierigkeiten an den Bach. Doktor Hillinger bog sich weit vor, um ihr, ohne seinen Standpunkt zu verlassen, beim Überschreiten der Steine im Wasser behilflich zu sein. Im nächsten Augenblick hatte sie das Bächlein überstiegen und stand neben dem jungen Manne, der sie höflich begrüßte.

»Zuerst einmal guten Morgen. Haben Sie nach dem Schreck von gestern abend gut geschlafen?«

Ilsedore errötete, die Situation, die man ihr eigentlich aufgenötigt hatte, war doch etwas eigentümlich. Ob ihr Muttchen sie gebilligt hätte? Doch als nun Doktor Hillinger seine Frage wiederholte, als seine tiefe, sympathische Stimme so weich an ihr Ohr schlug, da verschwand das Bild der Mutter, und sie antwortete schnell und schlagfertig:

»Sehr gut, Herr Doktor, ich bin gar nicht so zart, daß mir ein Schreck schaden könnte; aber jetzt wird es Zeit, zur Schule –«

»Ich weiß, Josephs teilte es mir mit, eigentlich hatte ich Sie auch nur bitten wollen, mir eine Aussprache in der bewußten Angelegenheit zu gönnen, glücklicherweise«, setzte er, fröhlich wie ein Student lachend, hinzu, »bleibt mir noch Zeit. Mein Urlaub gestattet mir, noch längere Tage hier zu bleiben.«

Ilsedore erschrak, sie hatte noch gar nicht daran gedacht, daß Doktor Hillinger wieder fortreisen könnte, ja eigentlich – doch sie schüttelte ihr Köpfchen, was für krauses Zeug hatte sie sich zusammenphantasiert, an seine Abreise aber hatte sie noch mit keiner Silbe gedacht.

»Was sinnen Sie?« fragte der Doktor.

Ilsedore errötete. Was sollte sie ihm antworten? Die Wahrheit durfte sie keinesfalls sagen.

»Ich dachte nur –« erwiderte sie ausweichend.

»– über meine Bitte nach,« vollendete der Doktor strahlend. »Eigentlich sind mir alle Heimlichkeiten unsympathisch, doch hier gibt es keinen anderen Ausweg. Ihre Tante gestattet Ihnen doch nicht, meiner Schwester einen Besuch abzustatten?«

»Nein, in alle Ewigkeit nein, aber – Sophie ruft mich, ich muß fort – leben Sie wohl, Herr Doktor – Sophie darf mich hier nicht finden.«

Einen Augenblick sah es aus, als wollte Doktor Hillinger das junge Mädchen festhalten, doch dann murmelte er etwas in seinen Bart – es klang nicht gerade wie ein Segensspruch für die unschuldige Ursache dieser Störung.

»Ich sehe ein, Sie müssen gehen, denken Sie bitte über meinen Vorschlag nach.«

Sophiens Stimme ertönte aufs neue, ja es klang, als näherte sie sich dem Bache. Ilsedore schlüpfte, fürsorglich von Dieter Hillinger geleitet, die Böschung empor. Sie fühlte noch seinen festen Händedruck – dann schlüpfte sie, ohne sich umzusehen, durch die Zaunlücke.

»Was willst du, Sophie?« hörte Doktor Hillinger sie bald darauf noch sagen.

Er seufzte tief auf und wendete sich dann wieder dem Garten seiner Eltern zu.

*

Mehrere Tage waren so dahingegangen. Ilsedore und Dieter Hillinger hatten sich noch nicht wiedergesehen. Selbst der Himmel schien sich dagegen verschworen zu haben, ein Gewitter, eine Seltenheit in dieser Jahreszeit, hatte ungeheure Wassermassen herabströmen lassen. Da war an ein Zusammentreffen nicht zu denken gewesen.

Zwar Josepha Hillinger und Ilsedore hatten sich im Seminar gesprochen. Ja Josepha hatte sogar von der Ungeduld ihres Bruders erzählt, der oft recht abenteuerliche Pläne schmiedete, um zu einer Aussprache mit Ilsedore zu gelangen.

»Tante Mieze nimmt all meine freie Zeit in Anspruch,« berichtete Ilsedore. »Ich lebe auch in großer Sorge um Tante, ihr Aussehen gefällt mir gar nicht mehr. Nicht nur ihr körperliches Befinden leidet, sondern auch ihr geistiges Wesen krankt unter einer Niedergeschlagenheit, die mich sehr ängstigt. Ich hatte schon daran gedacht, an meinen Vater zu schreiben und ihn zu bitten, nach Wengstädt zu kommen.«

Josepha dachte eine Weile nach, dann erwiderte sie: »Das wäre am Ende das allerbeste. Vielleicht –«

Das Eintreten des Lehrers brach jedes weitere Gespräch ab. Der Unterricht begann.

*

»Gott sei Dank, Tante hat schonst oft nach Sie gefragt.« Mit diesen Worten empfing die alte Sophie die aus der Schule heimkehrende Ilsedore. »Gehen Sie nur mal schnell zu ihr rein.«

»Nach mir gefragt, ist Tante krank?«

»Nee, gar nich, nur so unruhig. Es muß ihr was im Kopfe spuken,« setzte die alte Dienerin gewichtig hinzu.

Ohne sich zu besinnen, betrat Ilsedore das Wohnzimmer ihrer Tante, dessen Fenster nach dem Markte zugingen. Angekleidet und peinlich frisiert saß die alte Dame, wie alle Tage, in ihrem Ohrenstuhl am Fenster. Nur ihre sonst stets mit einer Handarbeit beschäftigten Hände ruhten gefaltet im Schoße.

»Wie geht es dir, liebe Tante? Du hast mich erwartet?«

»Mir geht es ganz gut! Ich bin nur froh, daß du endlich hier bist. Setze dich zu mir.«

Während die Tante sprach, wischte sie sich mit dem Taschentuch wiederholt über die Stirn, auf der große Schweißtropfen standen.

»Ist dir warm? Soll ich ein Fenster öffnen?«

Tante Mieze schüttelte nur mit dem Kopf und zeigte dabei auf einen Sessel, der dicht neben ihrem Platze stand.

»Setze dich,« wiederholte sie, »und dann erzähle mir noch einmal ausführlich, was am Abend, nachdem Emmerich abgereist war, geschehen ist.«

Ilsedore erstaunte, sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Tante selbst fragte nach den Ereignissen! Ohne den Namen Doktor Hillingers zu erwähnen, konnte es doch nicht geschehen – aber durfte sie so ohne weiteres diesen Namen nennen? Nachdem ihn Tante so voller Hohn aus ihrem Hause gewiesen hatte?

Ilsedore überlegte.

»Nun, so fange doch an,« warf Tante ungeduldig ein. »Wirst ja alles noch wissen!"

Und Ilsedore begann. Anfangs leise und stockend, erzählte sie getreulich, was sich an jenem Abend zugetragen hatte. Wie sie vor Schreck über das plötzlich auftauchende helle Licht ohnmächtig geworden und sich in dem Auto wiedergefunden hatte.

Tante Mieze unterbrach mit keiner Silbe diese Erzählung, sie nickte nur öfter mit dem Kopfe.

»Erzähle weiter,« mahnte sie.

Stockend berichtete das junge Mädchen von ihrer Fahrt nach Hause, dann schwieg sie bestürzt, sie konnte doch unmöglich erzählen, was nun geschehen war.

Tante Mieze lachte laut auf – doch es war kein böses Lachen.

»Willst nicht mit der Sprache heraus! Freilich, ich wurde recht heftig, als ich deinen Begleiter sah, ich hielt ihn anfangs für seinen Vater, der mir das größte Erdenleid angetan hat. Sei ruhig, Ilsedore, mein Kind! Das ist nun vorbei, das liegt alles hinter mir. Das war das letzte Aufbrausen eines gemarterten Herzens. Jetzt ist es still, ganz still in mir geworden. Mein Haß ist schlafen gegangen. Ich bin alt geworden, stehe mit einem Fuße schon im Grabe – da – da schwindet aller Groll und Haß. An ein Wiedersehen mit ihm denke ich noch nicht, doch sein Sohn ist an all dem Kummer unschuldig, ihm möchte ich gern danken für das, was er an dir getan hat.«

Anfangs hatte Tante Mieze nur sehr leise gesprochen, die letzten Worte klangen hell durch das Zimmer.

»Tantchen, du wolltest –«

»Dieter Hillinger empfangen. Ist dir das nicht recht? Ich dachte –«

Mit glühenden Wangen kniete Ilsedore neben ihrer Tante nieder, sie verbarg ihr Gesicht in den Falten des schwarzen Kleides, das Tante Mieze auch heute, wie alle Tage, trug.

»Aber woher soll er wissen –?« fragte Ilsedore. Ihre Stimme schwankte zwischen Lachen und Weinen. Ihre Augen strahlten förmlich die alte Dame an, die sichtlich damit zufrieden, was ihr hier so ohne Worte klar wurde, sich behaglich in ihren Stuhl zurücklehnte.

»Gib nur fein acht, der Herr scheint sehr viel Zeit zu haben, er ist heute morgen schon wenigstens ein dutzendmal hier vorbeimarschiert; dabei hat er jeden Ziegel auf meinem Dache förmlich polizeilich aufgenommen. Wird schon bald wiederkommen! Das übrige überlasse ich deinem Scharfsinn, junge Mädchen sind doch sonst nicht so unerfahren in solchen Dingen. Man trifft sich auf seltsame Weisen, und sollte es mitten in einem Bache sein,« setzte sie leise kichernd hinzu.

»Tantchen, du weißt?« flammte Ilsedore auf.

»Was am hellen, lichten Tage geschieht, bleibt niemals verborgen.«

»Er kam ganz zufällig,« ergänzte Ilsedore.

»Solche Sachen kommen stets zufällig, ereifere und entschuldige dich nicht, schau lieber aus –«

Eine Weile blieb es still im Zimmer. Plötzlich atmete Ilsedore hörbar auf. Sie sah die Gestalt des jungen Arztes um die Rathausecke biegen, doch sie regte sich nicht. Er schien geradeswegs auf Tantes Haus loszusteuern. Nun blieb er stehen, dann aber, kurz entschlossen, stieg er die beiden Steinstufen hinauf und bewegte den Türklopfer.

»Er kommt! Er kommt!« rief Ilsedore in der Freude ihres Herzens; dann aber begriff sie, daß sie sich verraten habe, und schlich, schamvoll errötend, zur Seite.

Tante Mieze lächelte siegesgewiß, denn trotzdem eine neue Zeit heraufgestiegen war, so klopften doch die Herzen der jungen Mädchen heute noch ebenso stürmisch wie vor Jahren, als ihre Großmütter junge Mädchen waren.


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