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44.
Ein schwerer Unfall

Ernst hatte sich nur wenige Stunden Ruhe gegönnt und erhob sich als erster vom Lager, um das Suchen wieder aufzunehmen.

Die Sonne strahlte vom Himmel: sie ging ja überhaupt nicht mehr unter, bis die sechs Monate des Polarsommers um waren.

Der Baron hatte kein Auge zugetan; er hatte sich überhaupt nicht gelegt, sondern immer ausgespäht, ob sein Töchterlein nicht doch endlich auftauche, nachdem es den Weg zum Lager zurückgefunden habe.

»Genießen Sie etwas zur Stärkung,« sagte er zu seinem jungen Freunde: »Dann wollen wir uns miteinander auf den Weg machen. Die anderen werden uns wohl bald folgen und jeder das ihm zugewiesene Revier gründlich durchsuchen.«

Rasch und schweigend nahmen sie einen kargen Imbiß ein und versahen sich mit einigen Eßvorräten, damit nicht der Hunger sie zur Unterbrechung ihrer Nachforschungen zwingen könne. Dann verließen sie miteinander das Lager.

Als sie sich der Vulkankette näherten, schoß plötzlich aus einer Felskluft ein grauenhaftes Ungetüm hervor. Es ließ sich in seiner furchtbaren Größe kaum übersehen. Der Hals mit dem verhältnismäßig kleinen Kopf glich einer Riesenschlange in vergrößertem Maßstabe, der Schwanz einem Krokodil, und dazwischen erhob sich haushoch der plumpe Leib auf vier massigen Beinen. Die ganze Länge dieses Ungeheuers betrug mindestens fünfunddreißig Meter.

Bild: Karl Mühlmeister

Münkhuysen erkannte sofort in diesem Riesendrachen ein Atlantosaurus; aber zu Betrachtungen blieb hier keine Zeit, war auch gewiß keine Lust vorhanden, denn jetzt handelte es sich um Tod und Leben. Der scharfgezahnte Rachen des Untiers schoß mit einer blitzschnellen Bewegung des Halses herab und faßte den zu Tode erschrockenen jungen Frank mitten um den Leib; dann streckte sich der Nacken wieder und Ernst glaubte, kirchturmhoch in der Luft zu schweben.

Der Baron erkannte sofort, daß hier alles aus rasches Handeln ankomme: er mußte das Wagnis in den Kauf nehmen, seinen jungen Freund zu treffen; Vorsicht und Bedenken waren da nicht am Platze. So sandte er denn eine Sprengkugel um die andere in den Hals des Drachen, möglichst nahe am Hinterkopf. Das dritte Geschoß traf einen Halswirbel derart, daß die explodierende Kugel das Genick zertrümmerte. Der Kopf senkte sich mit dem gebrochenen Halse schlaff zur Erde herab, doch hatte das Tier noch die Kraft, einige gewaltige Sätze zu machen, die es über hundert Meter weit von dem Standpunkt des Schützen wegführten.

Münkhuysen eilte ihm nach und sandte im Lauf noch mehrere Kugeln in den Leib des Atlantosaurus, die jedoch zwecklos gewesen wären, wenn nicht das gebrochene Genick seinen Tod herbeigeführt hätte.

Das Tier bäumte und krümmte sich entsetzlich bis auch der unverletzte Teil seines Halses im Todeskrampf erschlaffte und der widerliche Kopf schwer auf dem Boden ausschlug.

Der Baron schob seinen Gewehrschaft hinter Ernsts Körper zwischen den Kiefern des Drachen hindurch und brach sie mit großer Kraftanstrengung auseinander, die Flinte als Hebel benutzend. So gelang es ihm, den jungen Freund aus dem Gebisse zu befreien. Die Wunden schienen an und für sich nicht lebensgefährlich, denn der Saurier hatte die Kinnladen nicht fest geschlossen, sonst hätte er sein Opfer vollständig zermalmt. Immerhin waren die Verletzungen ziemlich tief und zahlreich, und es entströmte ihnen so viel Blut, daß eine Verblutung des Unglücklichen drohte.

Im Lager war es unterdessen lebendig geworden und das Krachen der Schüsse lockte Mäusle und Schulze hinaus, die mit größter Teilnahme von dem Unglück erfuhren, und halfen, den Bewußtlosen schnellstens ins Lager zu tragen, wo Doktor Maibold seine Wunden pflegte und verband.

Aus der Ohnmacht erwachend, verfiel Ernst in ein heftiges Wundfieber. Während Maibold und Neeltje an seinem Lager zurückblieben, begaben sich die anderen alle in die Tote Stadt, um eine planmäßige und sorgfältige Suche nach Eva zu unternehmen.

Volle acht Tage wurden die angestrengten Forschungen fortgesetzt, bis kein Haus, kein Winkel mehr übrig blieb, die nicht aufs genaueste untersucht worden waren: allein auch nicht das geringste Anzeichen über den Verbleib der Entschwundenen konnte entdeckt werden.

Münkhuysen war ganz gebrochen, und auch seiner Gefährten hatte sich die größte Niedergeschlagenheit und völlige Hoffnungslosigkeit bemächtigt.

Endlich erklärte der Baron tonlos: »Es hat keinen Zweck, länger hier zu verweilen und unser aller Leben aufs Spiel zu setzen in einer Gegend, die von mörderischen Ungeheuern heimgesucht wird. Was könnte es helfen, nochmals zu überwintern und monatelang weiter zu suchen, da wir nun doch die traurige Gewißheit haben müssen, daß mein teures Kind nicht mehr unter den Lebenden weilt? Daß so gar keine Spur von meinem armen Töchterlein übrig blieb, hat meine Befürchtung zur Gewißheit erhoben: Eva wollte zum Lager zurückkehren und ist unterwegs von einem der ungeheuerlichen Saurier verschlungen worden, die hier herum hausen, wahrscheinlich von dem gräßlichen Atlantosaurus, der ihr beinahe auch Ernst Frank zugesellt hätte. Es ist mir ein geringer Trost, daß ich den Lindwurm für seinen Mord bestrafen konnte. Jedenfalls habe ich alle Hoffnung aufgegeben, und morgen wollen wir diese Unglücksstätte verlassen, um den Heimweg anzutreten.«

Neeltje machte Einwände und meinte, man solle weiter suchen, vielleicht möchte das liebe Kind doch noch aufgefunden werden. Freilich glaubte sie selber nicht recht daran.

Man beriet noch eine Weile hin und her, schließlich gaben aber alle zu, es gäbe den Umständen nach keine andere Lösung des traurigen Rätsels, als die Annahme, daß Eva einem Schreckenstier zum Opfer gefallen sei.


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